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Die russische Sicht

Die russische Sicht

Igor Maximytschew, Gesandter der Botschaft der Sowjetunion in Berlin, berichtet, wie er 1989 die Maueröffnung miterlebte.

Ulrich Heyden: Sie arbeiteten von 1987 bis 1992 in der Botschaft der Sowjetunion in Berlin als Gesandter und 1992 als Geschäftsträger. Was empfanden Sie am Abend des 9. November 1989, als der Parteisekretär Günter Schabwoski auf einer Pressekonferenz von einem Zettel ablas, die Grenzübergänge aus der DDR nach Westberlin und Westdeutschland seien jetzt offen für DDR-Bürger?

Igor Maximytschew: Die Entscheidung der DDR-Regierung, die Kontrolle an der Mauer fallen zu lassen, war richtig, weil die Erwartung auf diese Entscheidung in der Bevölkerung sehr groß war. Bereits seit dem Jahr 1987 waren diese Erwartungen in der Bevölkerung sehr verbreitet, weil im Jahr 1987 die offizielle Reise von Erich Honecker in die Bundesrepublik Deutschland stattfand. Und wenn der Chef solche Reisen macht, dann haben die Bürger eine berechtigte Erwartung, dass auch sie einmal eine solche Möglichkeit bekommen müssen.

„Die Massen forderten: Die Mauer muss weg!“

Die Forderung „Die Mauer muss weg“ war wirklich eine Forderung der Masse. Das einzige, was dabei falsch gemacht wurde, war die Verkündung, dass die neuen Regelungen an der Mauer sofort in Kraft treten. Das gab den westdeutschen und Westberliner Medien die Möglichkeit zu behaupten, dass die Mauer gar nicht mehr steht. Ich erinnere mich an die Erklärung eines Sprechers des Ersten Deutschen Fernsehens, der sagte: „Die Mauer gibt es nicht mehr, kommt alle zu uns!“

Und eben diese falsche Auslegung der Entscheidung hat die Situation gleich auf den Kopf gestellt. Es gab den Druck der Masse, die Menschen sofort nach Westberlin zu lassen. Die Grenzer hatten überhaupt keine Instruktionen. Die Instruktionen sollten noch kommen. Die Veröffentlichung des Regierungsbeschlusses hatte man eigentlich für den 10. November geplant. Es gab also einen doppelten Fehler. Die verfrühte Veröffentlichung und die falsche Angabe über das Datum des Inkrafttretens der Anordnung.

Aber hätte es eine Alternative gegeben? In einem Aufsatz schreiben Sie, die Sowjetunion hätte den Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verlangsamen können, damit es nicht so chaotisch wird. Gab es wirklich so eine Alternative zu diesem chaotischen Ablauf und dieser schnellen, überstürzten Vereinigung?

Selbstverständlich. Das war nicht nur die Absicht der Sowjetunion, die Sache in vernünftige Zeitabläufe einzubinden, sondern auch die Absicht der DDR, der Masse der DDR-Menschen, die daran interessiert waren, dass die Bedingungen der Schaffung eines gemeinsamen Staates nicht überstürzt geschieht.

Das sagen Sie jetzt als erfahrener Diplomat. Aber die Millionen Bürger der DDR waren doch schon in einer Euphorie. Zumindest ein großer Teil wollte, das alles schnell passiert.

Ja, natürlich. Es war ein sehr verbreiteter falscher Eindruck, dass wenn die deutsche Mark kommt, dann wird jeder in der DDR den gleichen Wohlstand erreichen, den es in der Bundesrepublik gibt. Man hätte den Leuten eigentlich klar machen müssen, dass das eine Illusion ist.

Aber wer konnte das damals klarmachen? Die SED, die Parteisekretäre?

Das hätte Bundeskanzler Helmut Kohl machen müssen, als verantwortlicher Staatsmann, als einer, der die Situation in der Hand hatte, als einer, der überhaupt alles plante, was in dieser Zeit geschah. Das wäre seine Aufgabe gewesen. Aber er hat es umgekehrt gemacht. Er hat „die blühenden Landschaften“ versprochen. Obwohl diese Landschaften in weiter Ferne liegen. Und wir sehen heute, dass diese weite Ferne noch nicht nähergekommen ist.

Gab es Pläne, dass die 450.000 in der DDR stationierten Soldaten der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte diese chaotische Vereinigung stoppen, dass sie die Demonstrationen einschränken?

Nein. Also man muss wissen, dass das Ziel der Präsenz der Westgruppe der sowjetischen Truppen eine gemeinsame Verteidigung, eine Sicherung des Friedens für die DDR-Bevölkerung wie auch für das ganze sozialistische Lager war. Nicht mehr und nicht weniger. Jeder Versuch, die DDR von außen anzugreifen oder zu besetzen, wäre ein Casus Belli gewesen. Dann hätte die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte eingegriffen. Aber die innere Situation in der DDR, die ging unsere Soldaten überhaupt nichts an.

„Bei Angriffen hätten sich die sowjetischen Soldaten wehren müssen.“

Und was passierte, wenn Demonstranten in der DDR vor KGB-Gebäuden aufmarschierten, oder vielleicht sogar vor Kasernen? Gab es solche Situationen? Was sollten die sowjetischen Soldaten in diesem Moment machen? Sollten sie Warnschüsse abgeben? Oder sollten sie mit den Leuten sprechen?

Sie haben Recht. In dem Fall, wenn die Truppen angegriffen werden, von den Demonstranten oder den Agenten des Westens, hätten sich die Soldaten wehren müssen.

Sehen Sie, zum Jahreswechsel 1989/1990 war eine sehr gefährliche Lage entstanden. Die Nationale Volksarmee war aufgelöst, das Ministerium für Staatssicherheit war eigentlich abgeschafft. Die Polizei wurde terrorisiert. Die Polizisten wagten nicht, in Uniform auf die Straße zu gehen.

Wenn es bürgerkriegsähnliche Ereignisse gegeben hätte, wäre da nur eine Kraft gewesen, welche Ruhe und Sicherheit hätte wiederherstellen können. Und das war die Westgruppe der Truppen. Aber wenn die Demonstranten ein bisschen vernünftig blieben, dann war diese Gefahr überhaupt nicht vorhanden.

Es gibt diese Erzählung über Wladimir Putin, der in Dresden vor dem KGB-Gebäude stand, als Demonstranten kamen. Da hat er angeblich gesagt: „Ich bin ein Soldat“, und dann hat einer der KGB-Bewacher die Maschinenpistole durchgeladen und dann sind die Demonstranten weitergezogen. Das wird in den westlichen Medien immer wieder erzählt.

Das kann ich weder bestätigen noch widerlegen. Die Geschichte entspricht ein bisschen der Wahrheit. In Dresden gab es eine kleine Vertretung des KGB, weil in den Wäldern um Dresden die Panzerarmeen konzentriert waren. Und die waren eine Schlagkraft der Westgruppe der sowjetischen Truppen. In dieser Eigenschaft waren sie …

… ein sicherheitsempfindlicher Bereich?

Ja, sie waren Objekt der westlichen Geheimdienste. Und deshalb gab es auch diesen KGB-Stützpunkt in Dresden.

Am 4. November hatten auf einer Kundgebung auf dem Ostberliner Alexanderplatz noch 300.000 Menschen für eine sozialistische, aber stark erneuerte DDR demonstriert. Welche Chancen haben sie dieser Bewegung derjenigen, welche die DDR nicht so einfach aufgeben wollten, damals eingeräumt?

Die Veranstaltung vom 4. November auf dem Alexanderplatz war eigentlich die letzte große Tat der wirklichen Revolution in der DDR. Eine Revolution, die zum Ziel hatte, den Sozialismus zu reformieren und eine Realität zu schaffen, die den ursprünglichen Ideen der DDR-Gründer entsprochen hätte.

„Die Oktoberrevolution der DDR war am 9. November zu Ende.“

Die Historiker sprechen von einer Oktoberrevolution in der DDR, die damals zum Sturz von Erich Honecker geführt hat. Das war richtig. Und am 4. November versammelten sich in Berlin nicht 300.000, sondern fast eine Million Teilnehmer. Das war die größte Demonstration der DDR-Geschichte. Es gab eine Menge von Losungen und Forderungen in dieser Demonstration. Aber es gab keine einzige Losung, in der die Vereinigung Deutschlands gefordert wurde. Alle Losungen konzentrierten sich auf die Reformen in der DDR.

Es gibt eine Meinung — und die teile ich — dass der 4. November 1989 der Höhepunkt und gleichzeitig die letzte Aktion der Oktoberrevolution in der DDR war. Denn am 9. November, als ganz unerwartet, ganz unvorbereitet, die Kontrollen an der Grenze, auf der Linie der Sektorenabgrenzung in Berlin abgeschafft wurden, war das das Ende dieser Revolution und es begann die Zeit der Eingliederung der DDR in den Bestand der Bundesrepublik Deutschland.

Die Mauer war eine Grenze zwischen zwei gesellschaftlichen Systemen. Es war die Grenze zwischen zwei Militärblöcken. Es war die Grenze zwischen Armeegruppen im Westen und im Osten.

Aber es tut auch Ihnen leid, dass an dieser Grenze Menschen gestorben sind?

Aber natürlich. Und ich bin bis heute Gott dankbar, dass trotz aller negativen Seiten, welche die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik hatte, dass bei allen diesen negativen Dingen kein einziger Schuss gefallen ist. Ich bin dem lieben Gott und der Vernunft der damaligen Politiker in Moskau dankbar.

Sie haben schon über die sowjetischen Soldaten gesprochen. Die haben nicht geschossen. Aber was ist mit dem Ministerium für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee? Warum haben die nicht geschossen? Es gab doch auch orthodoxe Kommunisten, die gesagt haben, wir geben die DDR nicht her. Wir stoppen das.

Wissen Sie, ich bin nicht die richtige Adresse für solche Fragen. Ich weiß es nicht.

Wurde in der Botschaft der Sowjetunion darüber gesprochen?

Nein, niemals.

Das heißt, Sie haben darauf vertraut, dass die staatlichen Organe der DDR …

… wir trugen keine Verantwortung für die Stasi oder die Nationale Volksarmee.

Aber als Bruderpartei haben Sie doch einen Rat gegeben. Und Mielke war in Moskau gewesen. Ich glaube, das war 1989.

Die Botschaft hatte überhaupt nichts damit zu tun. Man muss doch ganz genau unterscheiden zwischen den Botschaftern, dem diplomatischen Dienst und der Parteihierarchie. Für die Parteihierarchie trage ich keine Verantwortung. Ich erzähle Ihnen nur, was wir in der Botschaft gemacht, gehört oder gefühlt haben.

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der zwischen den Siegermächten und den beiden deutschen Staaten abgeschlossen wurde, sieht vor, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen darf. Seit der Ukraine-Krise gibt es aber eine massive Manövertätigkeit. Es wurde eine schnelle Eingreiftruppe der NATO aufgestellt. Die fährt über das ehemalige Territorium der DDR nach Polen und Litauen. Ist das nicht schon eine Verletzung des Zwei-plus-Vier-Vertrages?

„Wenn ein Vertragsbruch nicht geahndet wurde, warum dann nicht so weitermachen?“

Sie haben vergessen zu sagen, dass dieser Vertrag schon einmal gebrochen wurde. Das war beim Angriff der NATO auf Jugoslawien 1999. Eben damals wurde diese These, dass vom deutschen Boden kein Krieg mehr ausgehen darf, gebrochen. Damals war die Luftwaffe der Bundeswehr an dem Angriff auf Jugoslawien beteiligt, obwohl es keine Aggression von Jugoslawien gab und obwohl es keinen Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gab. Wenn man einen Vertrag schon einmal gebrochen hat und das nicht geahndet wurde, warum dann nicht so weitermachen?

Das ist eben der Grund der heutigen Schwierigkeiten in den internationalen Beziehungen, dass diese Verträge, welche die Welt nach der Konfrontation formen sollten, nur noch ein Fetzen Papier sind.

Was sagen Sie als erfahrener Diplomat und Kenner von Frankreich — Sie sprechen Französisch und Deutsch, Sie haben in Paris, Bonn und Berlin gearbeitet — zur heutigen Weltlage? Was muss man tun, um den Frieden zu erhalten? Haben Sie einen Rat?

Ja, natürlich. Man muss das erfüllen, was man 1990 in der Charta von Paris (1) versprochen hat. Man hat versprochen, ein gemeinsames, ein großes Europa aufzubauen. Solange dieses Verspechen nicht realisiert ist, solange werden wir diese Schwierigkeiten immer wieder haben.

Sehen Sie in Deutschland irgendwelche positiven Tendenzen, dass dort stärker besonnene Kräfte zu Wort kommen, dass die besonnenen Politiker mehr geachtet werden, oder sind sie eher pessimistisch, was Deutschland betrifft?

Im Moment sehe ich keine Anzeichen, dass man die Linie der Bundesregierung irgendwie reformieren will. Diese Linie, die man nach der Kanzlerschaft Gerhard Schröders begonnen hat. Diese Linie läuft auf eins hinaus: Die Beziehungen, die unter Bundeskanzler Kohl noch gut waren, auf den Nullpunkt zu bringen. Dieses Ziel ist fast realisiert worden.

Gibt es ein persönliches Erlebnis in Deutschland, an das sie sich gerne erinnern?

Es gibt sehr viele gute Dinge, an die ich mich mit Freude und mit Genugtuung erinnere. Es ist sehr schwierig zu sagen, welches davon das Hauptereignis war. Aber ich habe in den Jahren meiner diplomatischen Arbeit in Deutschland den Eindruck gewonnen, dass die meisten Deutschen doch eher russlandfreundlich sind und nur die Politik sich immer wieder darauf versteift, die Beziehungen zwischen den Russen und den Deutschen zu zerstören. Ohne ein gutes Verhältnis zwischen den Russen und den Deutschen ist ein dauerhafter Frieden in Europa nicht möglich.

Sie haben als Wissenschaftler zu dem Problem der Russophobie Aufsätze geschrieben. Was ist die Wurzel dieser Russophobie, die immer mal wieder hochkommt? Gibt es da eine konkrete Wurzel oder sind das verschiedene Momente, die da zusammenkommen?

Wissen Sie, die Russophobie hat in Europa eine lange Tradition. Russophobie gab es schon im Mittelalter, als die Vertreter der europäischen Staaten über Russland sehr viel hinzugedichtet hatten an Befürchtungen, die entstehen, wenn man mit den Russen zu tun hat.

Aber heute ist die Frage, ob Russland überhaupt ein Recht hat, zu existieren. Denn die Russophoben gehen davon aus, dass so ein Staat wie Russland nicht existieren darf. Man muss den Staat zerschlagen. Und wenn man anstelle eines russischen Staates ein Dutzend oder zwei Dutzend kleine Staatsgebilde hat, die miteinander im Clinch liegen, die miteinander immer wieder Kriege führen, dann ist die ganze Welt gerettet und glücklich. Doch das stimmt nicht. Wir sehen jetzt zum Beispiel in Syrien, dass Russland ein fester Grundstein für den Frieden nicht nur in seiner Region, sondern auch darüber hinaus ist. Und die Ergebnisse des gestrigen Gipfels Russland-Afrika gehören zu den Beweisen für die glückbringende Existenz Russlands.

Wie ist ihre Position zu Syrien?

Putin rettet die unglücklichen Kurden. Die Türken hätten dort ein Gemetzel angerichtet. Es drohte die Vernichtung der Kurden. Die türkische Armee ist die zweitstärkste Armee der NATO. Die amerikanische Armee ist von dort abgezogen, obwohl die Kurden alles für die Amerikaner gemacht haben.

Verstehe ich Sie richtig, Russland hat verhindert, dass es zu einem Gemetzel an den Kurden kam?

So ist es.

Russland ist aber doch immer für die territoriale Unversehrtheit von Syrien eingetreten. Warum lässt es jetzt die türkische Armee einmarschieren?

Erdogan hat sich schriftlich verpflichtet, die territoriale Unversehrtheit Syriens nicht zu verletzen. Glauben Sie etwa, dass Putin seine Autorität in Russland stark vergrößern kann, wenn jetzt russische Militärpolizisten in Syrien sterben? Jeder Tote dort ist ein großes Risiko. Putin geht dieses Risiko ein, um die Kurden zu schützen. Hier haben Sie wieder ein Beispiel für Russophobie. Alles was Russland macht und sogar das, was Russland nicht macht, ist schlecht.

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Igor Maximytschew, 1989 Gesandter der Botschaft der UdSSR in Berlin, Foto: Ulrich Heyden 2019

Das Interview führte Ulrich Heyden am 25. Oktober 2018 in Moskau.

Gorbatschow hat die DDR aufgegeben

Der Sowjetunion fehlten die Kraft und der Wille, den kleinen, deutschen Bruderstaat in ihrem Einflussbereich zu halten.

Die DDR war ein Kind der Sowjetunion. Sie war zugleich ein Zeugnis des Kalten Krieges. Die westdeutsche Elite hatte sich in den 1950er Jahren immer gegen Vorschläge aus Moskau gesperrt, Deutschland zu vereinen. Als dann 1989 die Menschen in der DDR für eine Reform der Gesellschaft, ein Mehrparteiensystem und freies Reisen auf die Straße gingen, sah die Sowjetunion dieser Entwicklung tatenlos zu. Der Grund war, dass sich das sowjetische System selbst in einer schweren Krise befand und die Sowjetunion außerhalb seiner eigenen Grenzen nicht mehr handlungsfähig war. Die Rüstungskosten bremsten die wirtschaftliche Entwicklung und die Versorgung der Bevölkerung. Dazu kam, dass der sowjetischen Gesellschaft der Enthusiasmus abhandenkam, der den Menschen noch bis in die 1940er Jahre das Gefühl gegeben hatte, sie seien die Erbauer einer gerechten Gesellschaft.

Michail Gorbatschow erkannte das Problem und versuchte das schier Unmögliche: mit dem Erzfeind im Westen ins Gespräch zu kommen, um endlich den Druck der Rüstungskosten loszuwerden und eine moderne Entwicklung einzuleiten. Aber wie sich bald herausstellte, war der Plan nicht bis zu Ende durchdacht.

Es fing hoffnungsvoll an. Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Washington die INF-Verträge über die Abrüstung von Mittelstreckenraketen. Trägersysteme und Abschussvorrichtungen wurden beseitigt.

Parallel zur Abrüstung propagierte Gorbatschow unter der Parole „Perestroika und Glasnost“ — Umbau und Transparenz — eine Erneuerung des Sozialismus. Unterstützung fand das von Gorbatschow verkündete Erneuerungsprogramm bei der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, die schon lange mehr Mitsprache in der Politik und mehr Eigenständigkeit für die Betriebe forderte.

Millionen Menschen von einer Erneuerung des Systems zu überzeugen, war nicht schwer, denn vor den Lebensmittelläden in der Sowjetunion bildeten sich Ende der 1980er Jahre lange Schlangen. Gutes Fleisch bekam man nur über Beziehungen.

Angesichts dieser Zustände waren die Menschen bereit für einen Wandel. Was Kapitalismus in der Praxis bedeutete, wussten die Menschen allerdings nicht. Denn bis auf ein paar Diplomaten, Sportler und Künstler war noch niemand im „kapitalistischen Westen“ gewesen.

Unter Kapitalismus stellten sich die Sowjetbürger etwas sehr Angenehmes vor. Sie hatten viel vom „schwedischen Sozialismus“ gehört. Und so etwas wollten sie auch für Russland.

Dass sich die russischen Wirtschaftsreformer um Jegor Gajdar und Anatoli Tschubais, die unter Präsident Boris Jelzin an die Macht kamen, an den Konzepten von Milton Friedman orientierten, der den Abbau staatlicher Leistungen und „freie Märkte“ propagierte und an dem sich auch die Putschisten in Chile 1973 orientierten, war den Russen nicht bekannt.

Kritik an der Perestroika wurde in Russland erst 1992 laut, als die Bevölkerung die Auswirkungen der von Jegor Gajdar und Anatoli Tschubais durchgeführten wirtschaftlichen Schocktherapie zu spüren bekam. Am 2. Januar 1992 trat ein Beschluss des Volksdeputiertenkongresses in Kraft, die staatliche Regulierung der Preise abzuschaffen. Die Abschaffung der vom Staat festgesetzten Preise führte zu einer Hyperinflation und vernichtete über Nacht faktisch fast die gesamten Sparguthaben der einfachen Russen. Nach der Preisfreigabe gab es dann bald wieder Waren in den Läden, aber die Menschen hatten kein Geld mehr, sie zu kaufen.

An die 1990er Jahre erinnern sich die meisten Russen und Russinnen mit Schrecken. Die Zeit unter Breschnjew erschien dagegen als Idylle. Von 1989 bis 1997 sank die Industrieproduktion um 42 Prozent. 1995 waren die Realeinkommen im Verhältnis zu 1991 um 45 Prozent gesunken.

Die Preisfreigabe war nicht die einzige Maßnahme der Schocktherapie. Die Einführung des Kapitalismus in Russland war nach Meinung von Gajdar und Tschubais nur möglich, wenn der Superstaat Sowjetunion zerschlagen wird. Das deckte sich mit den Interessen des Westens. Der hoffte auf einen leichten Zugang zu den Rohstoffen des Riesenlandes.

Im Dezember 1991 lösten die Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine ohne vorherige öffentliche Debatte die Sowjetunion auf. Die Auflösung führte zu einem dramatischen Wirtschaftseinbruch, denn die Betriebe in den 15 Sowjetrepubliken, die untereinander eng vernetzt waren, wollten ihre Produkte jetzt nur noch gegen Dollar an ihre Abnehmer verkaufen.

Nach einem dilettantisch organisierten und schnell zusammengebrochenen Putsch der Gegner von Gorbatschow und Jelzin im August 1991 holte Jelzin zum Gegenschlag aus. Die KPdSU wurde verboten, konnte sich aber später als Kommunistische Partei der Russischen Föderation neu konstituieren.

Honecker wurde nach Moskau ausgeflogen

Dramatisch war die ideologische 180-Grad-Wendung in der Führung Russlands für den ehemaligen Generalsekretär der SED, Erich Honecker. Vor dem „August-Putsch“ in Moskau fand der schwerkranke Honecker noch im sowjetischen Militärkrankenhaus Beelitz in Brandenburg Zuflucht. Und am 13. März 1991 wurde er sogar mit einer sowjetischen Militärmaschine nach Moskau ausgeflogen. Das verärgerte die Bundesregierung, denn gegen Honecker lag seit dem 30. November 1990 ein Haftbefehl des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten wegen eines angeblichen Schießbefehls an der Mauer vor.

Dass die Sowjetunion Honecker half, sich den Fängen der westdeutschen Justiz zu entziehen, war nicht völlig selbstverständlich. Denn zwischen Gorbatschow und Honecker gab es Widersprüche. Honecker betrachtete die Entwicklung in der Sowjetunion während der Perestroika mit Sorge. Er kritisierte den großen Bruder zwar nicht, doch ersetzte alles daran, dass die Ideologie der Perestroika in der DDR keine Verbreitung fand. So ließ die DDR-Regierung am 18. November 1988 die Auslieferung der deutschsprachigen Zeitschrift „Sputnik“, welche Aufsätze aus sowjetischen Medien nachdruckte, einstellen.

Doch kaum in Moskau angekommen, war Honecker auch dort nicht mehr sicher. Boris Jelzin, der selbst jahrzehntelang hohe Funktionen in der sowjetischen Parteibürokratie bekleidet hatte und im Juni 1991 zum Präsidenten Russlands gewählt worden war, forderte den ehemaligen SED-Generalsekretär im Dezember 1991 auf, Russland zu verlassen, worauf Honecker mit seiner Frau Margot in die chilenische Botschaft in Moskau flüchtete.

Nun fuhr Bonn neue Geschütze auf. Die Bundesregierung erklärte, wenn Chile ein Rechtsstaat sei, müsse es Honecker, gegen den ein Haftbefehl vorliege, ausliefern.

Am 29. Juli 1992 war es dann soweit. Der schwerkranke Honecker wurde nach Berlin ausgeflogen. Er wurde in die Justizvollzugsanstalt Moabit eingeliefert, wo er auch schon unter den Nazis inhaftiert gewesen war.

Der Verfolgungseifer gegen Honecker zeigte, dass die deutsche Justiz einem Symbol des Sozialismus auf deutschem Boden unbedingt den Prozess machen und der ganzen Welt zeigen wollte: Wir haben gesiegt.

Der Fall Honecker wird hier so ausführlich dargestellt, weil sich an diesem Fall zeigt, wie schwach Russland gegenüber dem Westen in jenen Jahren war.

Gorbatschow verlor die Kontrolle

Gorbatschow, der 1986 angab, den Sozialismus modernisieren zu wollen — von Abschaffung war nie die Rede —, entglitt schon bald die Kontrolle über den Reformprozess. Als die Zentrale in Moskau die Zügel lockerer ließ, begannen regionale Parteieliten ihre eigene Politik zu machen. In der Sowjetunion geregelte Konflikte und alte Wunden brachen wieder auf. 1988 kam es in den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan zu gewalttätigen Konflikten zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Im Frühjahr 1990 erklärten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit.

Der von Unterstützern der alten sowjetischen Ordnung am 19. August 1991 begonnene Putsch gegen den Präsidenten der Sowjetunion verhinderte faktisch Gorbatschows Plan, am 20. August 1991 einen neuen Unions-Vertrag zu unterzeichnen, der den Sowjetrepubliken mehr Freiheiten gegeben hätte. Der „Putsch“, der nach Angaben seiner Initiatoren das Auseinanderbrechen der Sowjetunion verhindern sollte, beschleunigte die zentrifugalen Kräfte in dem Riesenland und lieferte den Radikalreformern um den am 12. Juni 1991 gewählten Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, das Argument, mit der Sowjetunion und dem Sozialismus müsse man nun endgültig Schluss machen.

Unklar ist bis heute, warum der „Putsch“ — bei dem kein einziger Schuss fiel — schon nach drei Tagen wieder abgebrochen wurde und warum Radikalreformer Boris Jelzin, der sich während der Putsch-Tage in Moskau frei bewegen konnte, nicht verhaftet wurde.

Das Ende der DDR wurde in Westdeutschland und auch von vielen Ostdeutschen bejubelt. Doch die gesamte Entwicklung war tragisch, denn es war absehbar, dass die westdeutschen Eliten mit allem, was die DDR hinterlassen hat, nicht zimperlich umgehen würden.

Die Gründung der DDR im Jahre 1949 wäre ohne die Hilfe der Sowjetunion nicht möglich gewesen. Doch als die Sowjetunion selbst in eine politische Krise geriet und die politische Führung zentrale Bausteine des sowjetischen Staatswesens und der Staatsideologie aufgab, gab es in Moskau weder den Willen noch die wirtschaftliche Kraft, die Existenz eines zweiten deutschen Staates zu sichern.

In ganz Osteuropa wurden Unabhängigkeitsbewegungen stark

Offenbar spürten die Eliten in Osteuropa, dass die Führung der Sowjetunion nicht mehr willens und in der Lage war, eigene Wege zu unterdrücken, wie noch 1968 in Prag. Überall kam es zu Demonstrationen für Unabhängigkeit. Am 26. April 1989 hatte das Militärbündnis „Warschauer Pakt“ beschlossen, dass die Mitgliedsstaaten nun frei seien in der Entscheidung über ihren politischen Weg.

In der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei wurden Stimmen laut, die den Abzug der sowjetischen Truppen forderten. Am 11. September 1989 gestatte Ungarn DDR-Bürgern offiziell die Ausreise nach Österreich. Im August 1989 demonstrierten Hundertausende Menschen im Baltikum für die Unabhängigkeit.

Wie Karen Brutenz, stellvertretender Leiter der internationalen Abteilung im ZK der KPdSU, berichtete (2), hatte Gorbatschow schon im Januar 1989 bei einem Treffen mit dem US-Sicherheitsexperten Henry Kissinger in Moskau zu verstehen gegeben, dass die Sowjetunion eine Liberalisierung in Osteuropa nicht verhindern werde. Im Gegenzug erwarte man von den USA, dass sie die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion achte.

Anfang Dezember 1989, bei einem Treffen mit dem US-Präsidenten George Bush auf Malta, definierte Gorbatschow das erste Mal seine Haltung zu den Unabhängigkeitsbestrebungen in Osteuropa:

„Wir sind für friedliche Wechsel, wir wollen uns nicht einmischen und werden uns nicht in zukünftige Prozesse einmischen. Sollen die Völker ohne Einmischung von außen entscheiden, wie sie leben wollen.“

Die russische Erzählung von den glücklichen Deutschen

Nachdem in Moskau die Radikalreformer um Boris Jelzin die Macht im Staat übernommen hatten, schwenkten die russischen Medien auf die westliche Erzählung „von der glücklichen Vereinigung der Deutschen“ ein. Diese Erzählung hält bis heute an. Dass die starken sozialen Verwerfungen in Ostdeutschland nach der Wende einer der Gründe für das Erstarken der Rechtspopulisten und Faschisten sind, darüber berichteten die russischen Medien nicht.

Die Russen waren in den 1990er Jahren bereit, sich in den Kapitalismus einzuleben. Was jedoch bei vielen Russen damals ein mulmiges Gefühl hinterließ, war der Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland, ohne dass es von deutscher Seite eine entsprechende Gegenleistung gab, etwa die schriftliche Verpflichtung der NATO, sich nicht nach Osten auszuweiten. Im Endeffekt fühlt sich ein Großteil der Russen von Jelzin und Gorbatschow bis heute um soziale Sicherheit und Sicherheit vor der NATO betrogen. Die Popularitätsrate von den im Westen einst bejubelten Politikern Gorbatschow und Jelzin liegt in Russland bis heute bei nur wenigen Prozentpunkten.

Ulrich Heyden, Moskau, 30.10.19



Quellen und Anmerkungen:

(1) Die „Charta von Paris für ein neues Europa “, ist ein internationales Abkommen über die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Einstellung des Kalten Krieges.
(2) Siehe: Die „Doktrin Gorbatschow“ und der Rückzug der UdSSR aus Osteuropa


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