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Die Säuberung der Wissenschaften

Die Säuberung der Wissenschaften

Nach der Wende wurde nicht nur der Marxismus an den Universitäten entsorgt — auch das ostdeutsche Personal wurde überwiegend durch westdeutsches ersetzt. Exklusivabdruck aus „Entsorgt und ausgeblendet“.

Der Umbau des ostdeutschen Wissenschaftssystems

Eingangs ist darauf hingewiesen worden, dass Eliten nicht nur Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen können, sondern ebenso mit Prestige ausgestattet sind und/oder die Möglichkeit besitzen, gesellschaftliche Orientierungen und Perspektiven zu formulieren und das Klima einer Gesellschaft zu formen. Dem sollte hinzugefügt werden, dass Hierarchien aus kulturellem Kapital immer wieder auf sozialem Terrain bestätigt werden müssen. Kulturelle Hierarchien sind etwas Ideelles. Sie können sich nur dann etablieren, wenn sie von anderen akzeptiert und sozial verstetigt werden. Dadurch sind sie immer mit sozialen Kämpfen um Klassifizierung verknüpft (1).

Wir haben weiterhin festgestellt, dass sich die ost- und die westdeutsche Gesellschaft vor der Herstellung der staatlichen Einheit 1990 mental sehr weit auseinander bewegt hatten.

Bis 1990 wurde der Osten Deutschlands von vielen Westdeutschen eher undifferenziert oder nur am Rande wahrgenommen. Dieser Zustand ist mit dem Beitritt der ostdeutschen Länder natürlich nicht schlagartig korrigiert worden.

Bis heute besteht in weiten Bevölkerungskreisen der alten Bundesländer eine große Unwissenheit über Ostdeutschland fort. An vielen Beispielen könnte gezeigt werden, dass diese Unkenntnis zu Missverständnissen und Fehldeutungen führt. Erinnert sei hier nur an den von einem ehemaligen niedersächsischen Justizminister konstruierten Zusammenhang von kollektivem „aufs Töpchen gehen“ und einer angeblichen Anfälligkeit für Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit (2).

Das Thema wurde bereits weiter vorn angesprochen. Es eignet sich bestenfalls für ironische Überhöhungen. Ein anderer prominenter Westdeutscher, ein ehemaliger Innenminister des Landes Brandenburg, stellte die Behauptung auf, die Tötung von Neugeborenen in Ostdeutschland sei auf die Kollektivierung der Landwirtschaft und eine damit einhergehende Verwahrlosung der Gesellschaft zurückzuführen (3).

Natürlich kann man etwas gegen die Ahnungslosigkeit tun und selbstverständlich können solche Fehldeutungen im Nachhinein richtiggestellt werden, aber wer möchte sich dem andauernd unterziehen? Wäre es da nicht besser, die Ostdeutschen gleich selbst und prominent zu Wort kommen zu lassen? Eine Gesellschaft, die durch so große kulturelle Differenzen gekennzeichnet ist wie die deutsche, und eine Welt, die disparat und voller Widersprüche sowie Paradoxien scheint, benötigt zwingend Deutungsangebote, die alle relevanten kulturellen Prägungen und Perspektiven abdecken, im deutschen Fall auch die der ostdeutschen Minderheit. Deutungsangebote gehen nicht nur von Politikern, sondern vor allem von den Medien und den Sozialwissenschaften aus. Daher sollen im Folgenden beide Bereiche in Bezug auf die Möglichkeit Ostdeutscher, sich an einflussreicher Stelle zu artikulieren, näher unter die Lupe genommen werden.

Aussonderung im Bereich der Sozialwissenschaften

Betrachten wir zunächst die Sozialwissenschaften. Das ostdeutsche Wissenschaftssystem hat sich nach 1990 gravierend verändert, nicht nur in Bezug auf Inhalte, sondern auch auf Personen. Dabei sind die bereits vor 1990 als reformwürdig erkannten strukturellen Probleme der westdeutschen Ordinarienuniversität mit ihren verfestigten Machtstrukturen, dem Übergewicht von Patronagebindungen und vertraglosen Austauschbeziehungen sowie dem damit verbundenen enormen Anpassungsdruck einfach auf die ostdeutschen Länder übertragen worden.

Da sie in bisherige Transaktionen nicht involviert waren und keinen Netzwerken angehörten, bestand für die ostdeutschen Wissenschaftler ein enormes Schwundrisiko. Ihre Abschlüsse waren zwar anerkannt, aber herabgesetzt, ihre Beziehungen abgerissen oder wertlos, ausstehende Gratifikationen irrelevant geworden.

Beinahe jede ostdeutsche Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler haben eine Veränderung ihres beruflichen Status erfahren, wobei die Aufwärtsmobilität deutlich geringer war als die Abwärtsmobilität (4).

Das ursprünglich tätige Personal ist deutlich dezimiert und in seiner Zusammensetzung vermännlicht sowie verwestlicht worden. Plausiblen Schätzungen zufolge wurden circa 60 Prozent des Personals der ostdeutschen Hochschulen und ebenso viel der außeruniversitären Akademieforschung (Ausnahmen bilden die Max-Planck-, Fraunhofer- und Blaue-Liste-Institute) sowie — durch das Wirken der Treuhandanstalt — etwa 85 Prozent der Industrieforschung abgebaut (5).

Besonders betroffen waren die Geisteswissenschaften, also jene in der DDR aufgeblähten Bereiche, die Deutungsangebote in Politik, Gesellschaft und Kultur unterbreiten (6). Eine neuere und differenziertere Statistik über die Besetzung der ostdeutschen Professuren und verstetigten Stellen ist nicht zugänglich. Die Angelegenheit wird offenbar als zu unwichtig angesehen, als dass sich dafür Forschungs- und Finanzressourcen fänden. Auch das ist ein Teil des Problems (7).

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Während die ordentlichen Professuren der Politikwissenschaft nahezu vollständig westdeutsch besetzt sind, kann bei der Philosophie, der Geschichtswissenschaft und den Literaturwissenschaften von einer klaren Dominanz westdeutscher Professoren ausgegangen werden (8). Der Anteil der Ostdeutschen beschränkt sich hier inzwischen weithin auf untergeordnete und befristete Positionen sowie auf prekär Beschäftigte im Bereich der zahlreich vertretenen unbezahlten Lehrbeauftragten beziehungsweise Privatdozenten und außerplanmäßigen Professoren. Ostdeutsche Sozialwissenschaftler sind heute kulturell marginalisiert und weitgehend sozial desintegriert (9).

Der von Bourdieu beschriebene und eingangs erwähnte Zusammenhang von kultureller Positionierung und sozialer Bestätigung wurde bei den betreffenden ostdeutschen Gruppen eindeutig aufgelöst. Ihr kulturelles Kapital findet keine soziale Gratifikation. Sie können sich bestenfalls zwar noch „Professoren“ nennen, werden aber nicht als solche bezahlt und sozial geachtet. Ursache dieses Verdrängungsprozesses waren „wissenschaftstypische Konkurrenzstrukturen, habituelle Ost-West-Unverträglichkeiten sowie politische und fachliche Argumente unterschiedlicher Berechtigung“, wobei letztere oft angeführt wurden, um Konkurrenzstrukturen wie Schulbildungen oder Patronagesysteme sowie habituelle Differenzen nicht erwähnen zu müssen (10).

Die Aussortierung der Ostdeutschen hat die genuinen sozialen Konflikte der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft abmildern helfen und insbesondere den Ressourcenstau im Akademikerbereich für eine gewisse Zeit beseitigt. Reformansätze wurden für lange Zeit unterbunden. Es war die Stunde der westdeutschen Durchschnittsbegabungen, die ostdeutsche Hochbegabte ausstachen, ohne eine Chance zu besitzen, die im Osten errungene Position wieder zu verlassen, beispielsweise durch einen Ruf an eine westdeutsche oder ausländische Universität (11).

Keine Durchmischung von Personal und Perspektiven

Zwei Argumente werden immer wieder angeführt, die beweisen sollen, dass dieses Problem heute eigentlich irrelevant sei: Zum einen wird auf die Durchmischung des akademischen Personals und der Professuren in den Geisteswissenschaften abgehoben, die natürlich wünschenswert sind, um neue Gedanken und Ansätze in der Forschung zu implementieren und den Studierenden verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Doch die Praxis hat gezeigt, dass eine solche Durchmischung von Ideen und Konzepten nicht stattgefunden hat, stattdessen aber Verdrängung. Wieder einmal wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Den Geisteswissenschaften der neuen Länder sind nicht nur die ehemals dominierenden marxistisch basierten Ansätze abhanden gekommen, was im Falle deren orthodoxer Zuspitzungen vertretbar gewesen wäre, nicht jedoch in ihrer Ausnahmslosigkeit, die der antikommunistischen Grundprägung der westdeutschen Eliten geschuldet war.

Abhanden gekommen sind vielmehr die viel breiter gestreuten ostdeutschen Perspektiven insgesamt. Zum anderen wird angeführt, dass die Ostdeutschen vom Gesamtpool der Bevölkerung lediglich 21 Prozent ausmachen, sodass sich dieses Verhältnis auch bei der Besetzung von Stellen im akademischen Betrieb widerspiegeln muss. Ein solches Rechenexempel würde einleuchten, wenn man es denn ernst nehmen und sich eine entsprechende Anzahl von ostdeutschen Akademikern auch an den westdeutschen Universitäten befinden würde. Dies ist allerdings nicht der Fall (12).

Da die ostdeutschen Sprecher in den öffentlichen Diskursen der Bundesrepublik nicht mehr adäquat repräsentiert und kaum mehr wahrnehmbar sind, werden ostdeutsche Probleme oft ausgeblendet oder verzerrt wiedergegeben. Wenn überhaupt, dann ist ostdeutsche Deutungskompetenz nur bei ostdeutschen Themen gefragt, und da meistens auf einem subalternen Niveau, welches stets die wissenschaftliche Versachlichung aus Westperspektive erforderlich macht. Bei allgemeinen Deutungen politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Art fehlt eine kritische ostdeutsche Perspektive vollends.

Zu keinem einzigen essenziellen Problem des vereinigten Deutschlands, ob Steuerpolitik, innere Sicherheit, Außenpolitik, Verhältnis zu den USA und so weiter wurde jemals ein ostdeutscher Wissenschaftler prominent gehört. Ostdeutsche werden — abgesehen von Alibi-Vertretern — hierfür als nicht zuständig erklärt. Dies ist auch deshalb ein ernstes Problem, da Wissenschaft und Medien auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind und Deutungen sowie Formulierungsangebote aus dem akademischen Bereich von den Medien gern prominent und massenwirksam inszeniert beziehungsweise übernommen werden. Die massenhafte „Entsorgung“ ostdeutscher Vertreter im Bereich der Geisteswissenschaften setzt sich in der Marginalisierung ostdeutscher Perspektiven in der großen Öffentlichkeit fort.

Der Verzicht auf eine selbständige, nicht von Westdeutschen gelenkte ostdeutsche Deutungskompetenz hat schon jetzt dazu geführt, viele Facetten und spezifische Problemlagen der neuen Länder, aber auch allgemeiner Natur, zu verkleinern oder zu verkennen. Zwar ist die westdeutsche Perspektive auf die ostdeutsche Realität — sozusagen als Außenblick — nicht unwichtig, sie sollte allerdings, viel stärker, als dies nun geschieht, durch eine wissenschaftlich qualifizierte ostdeutsche Innenperspektive ergänzt werden, die ohne mühsame Übersetzungsanstrengungen typisch ostdeutscher Codes auskommt.

Umgekehrt wäre es denkbar, die westdeutsche — vor 1990 — oder gesamtdeutsche Realität — nach 1990 — mit ostdeutschen Wahrnehmungen zu konfrontieren und so tatsächlich Pluralismus und Perspektivenvielfalt zuzulassen. Doch hierfür müssten die Weichen erst gestellt werden.

Um ostdeutsche Perspektiven im akademischen Milieu dauerhaft zu verankern und sichtbarer zu machen, wäre eine Korrektur der gesamtdeutschen Berufungspraxis sowie der Personalpolitik an den ostdeutschen Universitäten und Hochschulen notwendig, die im Zusammenhang mit einer grundlegenden Reform der Hochschullandschaft zugunsten transparenterer, durchlässigerer und gerechterer Strukturen erfolgen sollte.




Quellen und Anmerkungen:

(1) Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, Seiten 183 bis 198.
(2) Christian Pfeiffer: Fremdenfeindliche Gewalt im Osten — Folge der autoritären DDR-Erziehung? 1999. www.kfn.de/versions/kfn/assets/fremdengewaltosten.pdf, Zugriff: 14. November 2014.
(3) www.wallstreet-online.de/diskussion/500-beitraege/997620-1-500/schoenbohm-ddr-politik-fuer-gewalt-mitverantwortlich, Zugriff: 14. November 2014.
(4) Peer Pasternack: Wissenschaftsumbau. Der Austausch der Deutungseliten, in: Hannes Bahrmann / Christoph Links (Herausgeber): Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit — Eine Zwischenbilanz, Berlin 2005, Seiten 221bis 236, hier Seite 226.
(5) Ebenda, Seite 226 folgende.
(6) Zur Abwicklung der ostdeutschen Geschichtswissenschaft, siehe Werner Röhr: Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR, Band.1. Analyse einer Zerstörung, Berlin 2011.
(7) Pasternack, Wissenschaftsumbau, Seite 231 und Seite 236, Fußnote 5.
(8) Ebenda, Seite 228.
(9) Ebenda, Seite 232.
(10) Ebenda, Seite 230.
(11) Ebenda, Seite 229 folgende.
(12) Ebenda, Seite 230 folgende.


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