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Die Selbstermächtigung

Die Selbstermächtigung

Die Bevölkerung Chiles ringt um eine neue Verfassung.

Die lange ersehnten Deputierten-Wahlen für den Verfassungskonvent in Chile konnten zuletzt am 16. und 17. Mai 2021, an einem Wochenende, abgehalten werden. Wir erinnern uns: Die Einberufung eines solchen Konvents, der eine neue Verfassung für Chile ausarbeiten soll, um die nur leicht modifizierte Verfassung des Diktators Pinochet von 1980 zu ersetzen, war als einziges konkretes Resultat aus der sogenannten „sozialen Explosion“ vom Oktober 2019 hervorgegangen. Die Regierung Piñera hatte diese für die gesamte chilenische Bevölkerung bedeutsamen Wahlen mit Verweis auf die Corona-Pandemie jedoch zweimal verschoben.

Nicht zufällig fanden die Konventswahlen zugleich mit den Regionalwahlen statt, und wohl mit dem Hintergedanken, die Wählerschaft zu verwirren, erstreckten sich diese auf das Wochenende, und machten Chile zum ersten Land der Welt, in dem zweitägige Wahlen durchgeführt wurden.

Ein eigenes Gesetzesprojekt hatte der Nationalkongress zu diesem Zweck am 11. April 2021 verabschiedet, mit 119 Stimmen dafür, 19 Stimmen dagegen und 7 Enthaltungen. Im Übrigen waren diejenigen Kandidaten, die von den Bürgerversammlungen (cabildos) aufgestellt wurden, bei ihren Kampagnen im Fernsehen zugunsten der politischen Parteien klar benachteiligt worden.

Bevor wir zu den Ergebnissen der Wahlen vordringen, wollen wir noch einmal die aufregende Vorgeschichte und ihre Ursachen in der jüngsten Vergangenheit streifen. Als im Oktober 2019 in der chilenischen Hauptstadt Santiago die Fahrpreise für die U-Bahn wieder einmal um 30 Pesos angehoben worden waren, folgten daraufhin massive Massenproteste, die „soziale Explosion“, wie man sagte, auf deren Höhepunkt mehr als zwei Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße gegangen waren, angetrieben von einer Mischung aus gerechtem Zorn und Hoffnung. Damals hörte man oftmals den Satz: „Es sind nicht dreißig Pesos, es sind dreißig Jahre.“

Gemeint waren die dreißig Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, in denen konservative Regierungen wie auch die Regierungen des Mitte-Links-Bündnisses nur wenig bis gar nichts unternommen hatten, um gegen die grassierenden Missstände und die enorme soziale Ungleichheit vorzugehen. So richtete sich der Unmut der Bevölkerung gegen alle politischen Parteien gleichermaßen, und in Folge waren in allen größeren Städten und Gemeinden stehende Bürgerversammlungen (cabildos) zusammengetreten, die eine neue Verfassung zu ihrer zentralen Forderung erhoben.

Privilegien bewahren

Die Pinochet-Verfassung ist nicht bloß irgendeine Verfassung, sie hat eine eigene Geschichte. Mit dem Tod des Generals Franco im Jahr 1975 in Spanien hatten Pinochet und seine Berater rund um den US-Ökonomen Milton Friedman, auch als „Chicago-Boys“ bekannt, damit begonnen, über eine scheindemokratische Verfassung nachzudenken. Diese sollte es ermöglichen, den Zustand der Diktatur auch nach einem möglichen Ende derselben in einem Verfassungswerk zu perpetuieren, das die einzelnen politischen Kräfte nach Möglichkeit neutralisiert, um zugleich die Privilegien der besitzenden Klasse unter allen Umständen zu wahren.

Und im Hinblick auf diesen Zweck ist die chilenische Verfassung von 1980 ein wahrhaftes Meisterwerk. Unter der Präsidentschaft von Ricardo Lagos waren nur geringfügige Änderungen im Jahr 2005 vorgenommen worden. Es stimmt, dass eine neue Verfassung nicht alle Probleme lösen wird. Doch jedes Mal, wenn es um die Lösung von Problemen geht, um Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Umverteilung, Bildung, Umweltschutz oder die Abschaffung von Missständen und Privilegien, stellt sich die gegenwärtige Verfassung stets als das größte Hindernis dar, und die Verfassungsrichter in Chile haben bisher noch jede sinnvolle Initiative mit einem Verweis auf irgendein Verfassungsgesetz verhindert.

Die Bezeichnung „Cabildo“ stammt aus der spanischen Kolonialzeit und leitet sich historisch von den Domkapitelen her. Es handelte sich dabei um Ratsversammlungen, mittels derer die bürgerliche Schichte der Kreolen — im Gegensatz zu den spanischen Kolonialbeamten aus dem Mutterland — am politischen Leben Anteil zu nehmen trachtete, was schließlich in die Unabhängigkeit führte. Daran knüpften die Cabildos an, die während der sozialen Proteste 2019 entstanden.

Im Zuge dieser Oktoberproteste hatte sich die chilenische Regierung des 3 Milliarden US-Dollar schweren Unternehmers Sebastián Piñera wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär zu verantworten, die von der UN-Menschenrechtskommission dokumentiert worden waren, darunter mit Vorwürfen der Folterung und des Missbrauchs.

36 Tote und mehr als 2.200 teils schwer verletzte Demonstranten waren die traurige Bilanz. Was jedoch keine anderen Folgen zeitigte, als dass Piñera ein paar Minister austauschte und im Präsidentenamt blieb. Ebenso hatte die chilenische Regierung den Inlandsgeheimdienst mit allen Vollmachten ausgestattet, um soziale Organisationen oder Umweltschutzgruppen auszuspähen, oder etwa die Tagesabläufe einzelner Aktivisten mit allen verfügbaren technischen Mitteln lückenlos zu überwachen.

Volksabstimmung für eine neue Verfassung

Die Regierung hatte sich trotzdem gezwungen gesehen, dem Druck der Straße nachzugeben. Am 15. November 2019 wurde gemeinsam mit den Oppositionsparteien des Mitte-Links-Bündnisses um drei Uhr nachts eine „Übereinkunft für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“ ausgehandelt, während in Santiago die Menschenmengen auf den Plätzen zusammenströmten.

Ein knappes Jahr später, am 25. Oktober 2020 — inzwischen war der Coronavirus ins Land gezogen und bereitete den Protesten zunächst ein jähres Ende — wurde eine Volksabstimmung abgehalten, bei der sich mehr als 78 Prozent der Wählerinnen und Wähler für eine neue Verfassung entschieden hatten.

Endlich sollten am 15. und 16. Mai des Jahres 2021 neben Bürgermeistern, Gemeinderäten und Regionalgouverneuren auch die Deputierten eines Verfassungskonvents gewählt werden, mit dem offiziellen Auftrag, eine neue Verfassung für die chilenische Andenrepublik auszuarbeiten. Trotz Quarantäne und Pandemie-Propaganda lag die Wahlbeteiligung bei 42,5 Prozent.

Wie bei Wahlen in Chile üblich, galt das ganze Wochenende hindurch das sogenannte „trockene Gesetz“ (ley seca), das Ausschank und Verkauf alkoholischer Getränke verbietet. Man will sich seitens der Volksvertreter nicht vorwerfen lassen, von Betrunkenen gewählt worden zu sein.

Doch niemand brauchte diesen Vorwurf zu fürchten, denn diejenigen „unabhängigen“ Kandidaten, die mit einer politischen Partei im Rücken ins Rennen gegangen waren, gingen nach der Wahl als deutliche Verlierer hervor, sodass Javier Masaya, der Vorsitzende der ultrarechten Partei UDI, in einer ersten Stellungnahme nur sagen konnte: „Keine der traditionellen Parteien kann feiern.“

Und tatsächlich wurden mehrheitlich unabhängige Kandidaten aus Bürgerversammlungen und anderen sozialen Bewegungen zu künftigen Deputierten im Verfassungskonvent gewählt.

Die Verteilung der 155 Sitze in diesem konstitutionellen Konvent gestaltet sich den Ergebnissen der Wahl entsprechend also folgendermaßen:

48 Sitze erhielten die unabhängigen Kandidaten aus den Bürgerbewegungen, teils aus den Cabildos und aus anderen Bürgerbewegungen wie der „Liste des Volkes“ und „Neue Verfassung“.

25 Sitze fielen an den Block „Approbationsliste“ mit Kandidaten aus traditionellen Linksparteien wie den Sozialisten, den Radikalen und der Partei für Demokratie.

28 Sitze gewannen die Kandidaten der Kommunistischen Partei und einige, aus traditionellen Linksparteien hervorgegangene „Rebellen“, die sich zu einem Block mit dem Wahlspruch „Ich genehmige Würde“ (Apruebo dignidad) zusammengeschlossen hatten.

37 Sitze erhielt immerhin der Block der Rechtsparteien. Darunter die Regierungspartei Nationale Erneuerung (RN), die ultrarechte und dem Angedenken Pinochets treu ergebene UDI (Union der Unabhängigen) sowie die marktradikale Kleinpartei Evópoli, die zwar als Rechtspartei „light“ angetreten war, aber letztlich einen konservativen Schwenk vollführt hatte. Gemeinsam haben ihre Deputierten nicht einmal ein Drittel der Konventsmandate erreicht, und werden daher außerstande sein, die Beschlüsse des Konvents bei obligater Zwei-Drittel-Mehrheit zu beeinflussen.

17 Sitze waren schon im Vorfeld vorgesehen für die Kandidaten indigener Minderheiten in Chile. Es sind dies Kandidaten aus den ethnischen Volksgruppen Aimara, Mapuche, Rapa Nui, Quechua, Lican Antay oder Atacameño, Diaguita, Colla, Chango, Kawashkar und Yagán oder Yámana, die in der gegenwärtigen Verfassung von 1980 noch überhaupt keine Erwähnung fanden.

Auch bei den Regionalwahlen konnte man landesweit einen starken Linksruck bemerken. In dem vornehmen Badeort Viña del Mar zum Beispiel triumphierte die 29-jährige Macarena Ripamonti von der Partei Demokratische Revolution (RD) als neue Bürgermeisterin, welche sich ihr Studium der Rechte, Philosophie und Politikwissenschaft als Kellnerin und DJ finanziert hatte, und die nun nach fünfzehn Jahren die rechtskonservative Bürgermeisterin Virginia Reginato ablösen darf. In spaßigen Internet-Sprüchen wird das Städtchen nun als „Viña del Marx“ bezeichnet.

Im großen Hafen Valparaíso wurde Jorge Sharp als Bürgermeister bestätigt, der 2016 als junger unbekannter Anwalt und unabhängiger Quereinsteiger völlig überraschend gewählt worden war. Die Gemeindefunktionäre sollen ihm seither das Leben schwer gemacht haben, trotzdem gelang es ihm abermals mit 56,37 Prozent der Wählerstimmen seine Position zu halten. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses kommentierte Bürgermeister Sharp die abgehaltenen Wahlen mit der Stellungnahme: „Chile und Valparaíso sind erwacht.“

Das kann als Anspielung auf die Parole der Oktoberproteste 2019 verstanden werden.

„Diese Wahlen sind in vielerlei Hinsicht historisch, es sind Wahlen, die in erster Linie etwas konsolidiert haben, was man im Land schon lange kommen sah, das ist die Eruption der Unabhängigen, nicht der designierten Unabhängigen (der politischen Parteien), sondern derjenigen mit einem Vorschlag (beziehungsweise Zielsetzung) für das Land.“

Wahlsieg der linken Kräfte

Allgemein wurde das Wahlergebnis interpretiert als eine harte Bestrafung der Regierungsparteien sowie der Opposition und der traditionellen politischen Parteien überhaupt. Man sprach von einer „Deformierung des politischen Panoramas und der traditionellen Parteienlandschaft“. Auf Radio BíoBïo bezeichnete der eher konservative Kommentator Tomás Mosciatti den jüngsten Wahlsieg der linken Kräfte in Chile sogar als bedeutender und überlegener als denjenigen des marxistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1970. Hört man aus solchen Worten nicht auch die Furcht der besitzenden Klasse um ihren Reichtum und ihre unverdienten Privilegien heraus?

Die etablierten Medien hingegen hatten noch während der Auszählung der Stimmen verdächtig rasch damit begonnen, mit gefälligen und populären Schlagzeilen um sich zu werfen, wie etwa: „Die Ära der Solidarität ist gekommen”, oder auch: „Chile ist eine große Gemeinschaft (comunidad).“

Den Deputierten des Konvents sollen Chile innerhalb von neun Monaten eine neue Verfassung geben, wobei die Frist um drei Monate verlängert werden könnte. Der Konvent muss zu 50 Prozent aus Frauen bestehen und den Wortlaut der neuen Verfassung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit beschließen. Im Anschluss soll diese dann mittels einer weiteren Volksabstimmung in Kraft treten.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Zusammensetzung des Konvents keineswegs dem entspricht, was ursprünglich von den Bürgerbewegungen gefordert worden war und wofür sich die chilenischen Wählerinnen und Wähler bei der Volksabstimmung am 25. Oktober entschieden hatten, nämlich für einen Verfassungskonvent, der zu 100 Prozent aus Bürgervertretern bestehen sollte. Kein Berufspolitiker sollte darin zugegen sein, aber wie man sieht, war es den politischen Parteien dennoch gelungen, gegen den Sinn der Volksabstimmung ihre Repräsentanten zu lancieren, um den konstitutionellen Prozess in ihre Hände zu bekommen, was ihnen jedoch nur mäßig gelang.

Mit dem Artikel 135 des Verfassungsreform-Gesetzes haben sich die politischen Eliten außerdem ihre Schleichwege offengehalten und die Kompetenz der Konventsdeputierten begrenzt:

Kompetenzen

Der Konvent kann nur eine neue Verfassung ausarbeiten, er kann die Gültigkeit der aktuellen Verfassung nicht negieren. Der Konvent kann weder intervenieren noch eine Funktion oder Zuständigkeit anderer in der Verfassung oder per Gesetz etablierten Organe oder Autoritäten ausüben. Die Versammlung darf überdies weder das Quorum noch das Prozedere verändern.

Spezielle Verfügungen

Die Abgeordneten des Konvents müssen rechtskräftige Urteilssprüche und internationale, von Chile ratifizierte und gültige Verträge akzeptieren — darunter 22 Freihandelsabkommen. Über die endgültige Form dieses Verfassungswerks wird innerhalb der Versammlung mit Zwei-Drittel-Mehrheit abgestimmt. Ist der Verfassungsentwurf einmal fertig, wird die Versammlung aufgelöst.

Kontrolle

Man wird eine Verletzung der Regeln des für den Konvent festgelegten Prozederes reklamieren können, diese wird von fünf durch das Los bestimmten Höchstrichtern behandelt werden.

Misstrauisch machen auch unabhängige Deputierte wie etwa die Mikrobiologin Cristina Dorador aus der nördlichen Region Antofagasta, die unmittelbar nach ihrer Wahl in einem ersten Statement das Thema des Klimawandels neben dem Feminismus als dringendste Probleme bezeichnete, die angegangen werden müssten. Wo blieb die soziale Agenda in dieser Rechnung? Den guten Willen möchte ich dieser in ihrer Karriere erfolgreichen Wissenschaftlerin trotzdem nicht absprechen.

Ideal wäre es natürlich, wenn die Deputierten des Konvents ein vernünftiges, partizipatorisches und nach Möglichkeit basisdemokratisches Staatsmodell ausarbeiten könnten, um soziale Ungleichheit und strukturelle Gewalt zu nivellieren und die grassierenden Missstände auszumerzen.

Theoretisch könnte man auch Anleihen nehmen von verschiedenen Demokratiemodellen, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte bewährt haben, und sogar, warum nicht? — von Gaddafis Dschamahiria.

Leider scheint es, dass die neue Verfassung nur allzu sehr im konventionellen Rahmen bleiben wird. Denn die Volksdeputierten des Konvents werden es mit beinharten Lobby- und Klasseninteressen zu tun bekommen, und es wird ihnen schwer fallen, trotz aller Intrigen standhaft zu bleiben. Für die Zukunft wird es daher umso wichtiger sein, den nötigen Druck auf der Straße aufzubauen.


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