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Die Symptomunterdrücker

Die Symptomunterdrücker

Viele Ärzte zeigen ein systematisches Desinteresse an Krankheitsursachen, wodurch wahre Heilung erschwert wird. Exklusivabdruck aus „Der betrogene Patient“, Teil 1/5.

Als in Mittelalter und Früher Neuzeit die Pest und die Pocken in Europa wüteten, erkannten auch einzelne Ärzte die katastrophalen hygienischen Zustände in den Städten als Ursache für die Epidemien. Georgius Agricola (1494 bis 1555) nahm als Stadtarzt und Bürgermeister von Chemnitz Isolierungsmaßnahmen vor. Einige Jahrhunderte später stand der Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie im Paris des 18. Jahrhunderts mit seinem Plädoyer für eine prophylaktische Hygiene allerdings weiterhin alleine da (1).

Die medizinische Wissenschaft weigerte sich, Seuchen als ansteckendes Phänomen zu erkennen. Selbst nach der sukzessiven Enttarnung von Mikroben als Erreger der Infektionskrankheiten seit den 1870er-Jahren sprach der Doyen der Kinderheilkunde in Deutschland, Eduard Henoch (1820 bis 1910), noch 1881 vom „Bakterienschwindel“ und erklärte, dass es ihm „in hohem Maße bedenklich erscheine“, mit welcher „Sicherheit (…) sich besonders jüngere Ärzte über die Bakterien der Diphtherie (im Kindesalter früher oft tödliche Infektion von Rachen und Kehlkopf, Anmerkung des Verfassers) aussprechen“ (2).

Was sagt eine Diagnose über eine Krankheitsursache?

In der heutigen wissenschaftlich-technischen Medizin gelten die meisten Krankheitsbilder als klar definiert. Krankheiten können verschiedene Ursachen haben:

  • Infektionen mit Mikroorganismen (Bakterien, Pilze, Viren, Parasiten),
  • Gewalteinwirkungen (Traumen),
  • Gifteinwirkungen (akut, chronisch),
  • energiereiche Strahlung (akut, chronisch),
  • genetische Fehler,
  • autoimmune Phänomene.

Oder es sind (vermeintlich selten) keine eindeutigen Ursachen zu ermitteln, dann wird eine Erkrankung als „kryptogen“ bezeichnet. Die Einteilung der Krankheitsursachen des vielleicht einflussreichsten Arztes der Frühen Neuzeit und Universalgelehrten Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, 1493 bis 1541) erscheint längst überwunden. Für diesen gab es fünf Hauptarten von Krankheitsursachen:

  • Gestirnseinflüsse,
  • durch den Körper aufgenommenes Gift,
  • Konstitution,
  • Einfluss der „Geister“,
  • unmittelbarer Einfluss Gottes (3).

Über Gestirne, Geister und Gott als Krankheitsursachen mögen wir den Kopf schütteln. Haben wir aber heute gesicherte Erklärungen für Rheuma, Bluthochdruck, Multiple Sklerose, Arteriosklerose und die meisten Tumoren?

Bereits ein kritischer Blick auf einige Diagnosen entlarvt das Lehrgebäude unserer Medizin trotz seiner „Hightech“-Fassade als ebenso brüchig wie in früheren Jahrhunderten.

Nur von erschreckend wenigen Krankheitsbildern ist die Ursache eindeutig geklärt, obwohl 99 Prozent aller Forscher und Wissenschaftler der Menschheit in unserer Zeit leben (4).

Eine Lungenentzündung mit Nachweis von Pneumokokken ist noch gut als Infektionskrankheit einzuordnen, auch wenn die immunologische Abwehrlage des Erkrankten unberücksichtigt bleibt.

Aber was ist die Ursache einer Sarkoidose (Erkrankung des Bindegewebes mit Knötchenbildung)?

Was löst eine Appendizitis oder Divertikulitis aus?

Konstitution (genetische Ursachen) und Umweltgifte hatte schon Paracelsus auf der Rechnung; lediglich die Identifizierung von Mikroorganismen als Krankheitsursache ist seither als Errungenschaft zu verbuchen. Verletzungen durch Gewalteinwirkungen vermisst man bei Paracelsus, da diese zur damaligen Zeit nicht in das Ressort der gelehrten Ärzte fielen, sondern Angelegenheit nicht akademischer Wundärzte waren. Gravierend aber ist, dass auch bei ihm die Krankheitsursache „ärztliche Behandlung“ fehlt — offensichtlich war er genauso betriebsblind wie die heutige Medizin.

Kriminalistische Ursachenforschung wenig erwünscht

Aktuelle Diagnosen sind oft nichts weiter als Symptome oder Befunde, die noch dazu in Abkürzungsform, auf Latein oder mit den Eigennamen ihrer (Erst-)Beschreiber belegt, nichts über die Ursache der Krankheiten aussagen: Diabetes mellitus, Hypertonie, Morbus Parkinson … Oder es handelt sich um pure Beschreibungen von Organveränderungen: arterielle Verschlusskrankheit, Divertikulitis, Blasentumor …

Führte die traditionelle ärztliche Vorgehensweise vom Symptom zur Diagnose, so werden Symptome immer mehr zu Diagnosen. Diagnosen sind vielfach zu Codewörtern für eine Verständigung unter Kollegen verkommen, ohne die Krankheitsursache zu beinhalten.

Bereits vor 100 Jahren nannte der österreichische Satiriker Karl Kraus (1874 bis 1936) Diagnosen die „verbreitetsten Krankheiten“ (5).

Wenn man Krankheitsbilder wie eine Appendizitis oder Divertikulitis zur Ausheilung bringen kann, indem man ein Stück Darm entfernt, dann will die Medizin nicht unbedingt mehr über die Entstehung dieser Krankheiten wissen. Der Witz, dass bei der Aufgabe, das Telefonbuch einer Großstadt auswendig zu lernen, ein Chemiker „Warum?“ fragt, ein Mediziner aber lediglich „Bis wann?“, entbehrt nicht der Grundlage.

In Analogie zur Kriminalistik beschränkt sich die Medizin, wenn sie Organveränderungen oder Reaktionen des Immunsystems beschreibt, auf die Ermittlung des Tatorts und die Art des Verbrechens, ohne nach dem oder den Tätern zu fahnden. Im Gegensatz zu Kriminalisten kommen die meisten Mediziner damit durch. Wenn überhaupt eine Ursachensuche angesagt ist, dann werden genetische Veränderungen unangemessen übergewichtet.

Tatsächlich dominieren bei evolutionär ausgereiften Lebewesen aber umweltbedingte Erkrankungen. Wie anders als durch Umwelteinflüsse sind die schnellen Häufigkeitsveränderungen verschiedener Krebsarten in unserer Lebensspanne und bei der Migration in andere Kulturkreise erklärbar?

Warum sollte Brustdrüsengewebe bei Frauen weit anfälliger für Krebs als andere Gewebearten sein?

Nur weil hier kein so klarer Zusammenhang mit einem Auslöser bekannt ist wie beim Lungenkrebs mit der Rauchinhalation?

Wieso soll der von Kinderärzten kultivierte diagnostische Sammeltopf „variables Immundefektsyndrom“ bei gehäuften Infekten angeboren sein, wenn es nach Jahren immer noch keine Beweise gibt (auch Mutationen in Einzelfällen beweisen keinen Gendefekt) und viele Indizien für einen erworbenen Immundefekt im Kleinkindalter sprechen?

Ein jahrzehntelanger Irrglaube war auch die Überzeugung, dass ein Zwölffingerdarmgeschwür (Ulcus duodeni) unter bestimmten Umständen (zum Beispiel Stress) durch die Einwirkung der Magensäure entstehen würde.

Erst in den 1980er-Jahren haben die beiden Australier Barry Marshall und John Robin Warren das Bakterium Helicobacter pylori bei gleichzeitiger Veränderung des Magenschleims (zum Beispiel durch Medikamente) als Ursache für die Entstehung von Geschwüren enttarnt (6). Bis dahin galt das Dogma, dass im sauren Mageninhalt keine Bakterien überleben könnten, nur weil die Standardfärbemethoden der Mikroskopie diese nicht erkennen ließen (7)! Dennoch hat die rein beschreibende Diagnose „Ulcus duodeni“ ohne Ursachenzuordnung in Arztbriefen bis heute überlebt.

Unzureichende Ursachenforschung auch universitärer Zentren gipfelte vor 25 Jahren im Todesfall „Ötzi“. Schmelzendes Eis der Ötztaler Alpen hatte 1991 einen gefriergetrockneten Leichnam aus der Kupfersteinzeit freigegeben. Der sensationelle Fund rief die nächstgelegene Universitätsklinik Innsbruck auf den Plan, die unter Einsatz aller verfügbaren Techniken den Corpus zerstörungsfrei innerlich und äußerlich in Bildern dokumentierte. Als Todesursache wurde „Erschöpfung auf der Flucht“ diagnostiziert (8). Nachdem „Ötzi“ 1998 zur dauerhaften Präsentation in das Museum für Frühgeschichte nach Bozen gelangt war, identifizierte der dortige Radiologe auf einem Röntgenbild eine steinerne Pfeilspitze in den Weichteilen der linken Schulter, die den universitären Forschern auf hochauflösenden Schnittbildern entgangen war und die aufgrund der dort verlaufenden Blutgefäße als tödliche Fremdeinwirkung anzunehmen ist (9).

Bei erneuter Inspektion des Corpus fand sich auch der Hauteintritt des Pfeils. 2007 wurde noch ein Schädel-Hirn-Trauma nachgewiesen, das in der Universitätsklinik ebenfalls nicht erkannt worden war, obwohl im Gesicht von Anfang an eine dunkle Verfärbung der Wange wie nach einem Bluterguss bestand (10).

Befangene Wahrnehmungen und voreingenommene Interpretationen ersetzten auch hier die Fähigkeit und den Willen zur vorurteilsfreien Ursachenforschung.



Quellen und Anmerkungen:

(1) La Mettrie, Julien Offray de: Über die Kunst, die Gesundheit zu erhalten und das Leben zu verlängern. Paris 1738.
(2) Henoch, Eduard: Vorlesungen über Kinderkrankheiten; Berlin 1881; Seite 551.
(3) Meier, Pirmin: Paracelsus — Arzt und Prophet. Ammann Verlag, Zürich 1993.
(4) Marx, Werner; Gramm, Gerhard: Literaturflut — Informationslawine — Wissensexplosion. Wächst der Wissenschaft das Wissen über den Kopf? Zentrale Informationsvermittlung der Chemisch-Physikalisch-Technischen Sektion der MPG am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung Stuttgart 1994/2002.
(5) Kraus, Karl: Pro domo et mundo. Wien 1919.
(6) Marshall Barry J.; Warren John Robin: Unidentified curved bacilli in the stomach of patients with gastritis and peptic ulceration. Lancet 1984; 1(8390):1311–5.
(7) Leiß, Ottmar: Helicobacterisierung psychosomatischer Konzepte? Deutsches Ärzteblatt 2001; 98(14): A-886–90.
(8) Konrad Spindler: Der Mann im Eis. Die jungneolithische Gletschermumie vom Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen. in: Nürnberger Blätter zur Archäologie 1992/93; 9: 27 bis38.
(9) Egarter-Vigl E, Gostner P: Insight: Report of Radiological-Forensic Findings on the Iceman. In: Journal of Archaeological Science 2002; 29(3): 323 bis 6.
(10) Lippert A et al.: Vom Leben und Sterben des Ötztaler Gletschermannes. Neue medizinische und archäologische Erkenntnisse. Germania 2007; 85/1:1 bis 21.


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