Es ist weniger Trotz als Sorge, wenn ein unglücklicherweise aus Verschluss entflohenes Dokument an die Bundesregierung eine marketing-psychologische Handlungs- und Gebrauchsanweisung für Politiker darstellt. Es ist betitelt mit „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ und ich vermisse das letzte Wort: „könnten“. Stellt das nicht die Urteilsfähigkeit meines Souveräns in Frage?
Souverän ist das Parlament, Autorität ist die Regierung und die Gewalten sind geteilt. Das ist das Rückgrat einer Demokratie. Der Ausnahmezustand fordert dagegen die Regierung an mehreren Fronten und seine Deklaration erhebt sie zum Souverän. Und immer steht die Glaubwürdigkeit des gesellschaftlichen Status quo auf dem Spiel. Jedes System braucht Stabilität, deren Garantie eine zentrale Forderung jeden Bürgers an das System Staat ist.
Ganz gleich, wo eine Bedrohung dieser Stabilität gesehen wird: Ob die progressive Linke ein Wirtschaftssystem als Quelle von Chaos verantwortlich sieht oder andere die Überfremdung zum Urgrund eines unfähigen Staates erheben; die Ursache liegt in tatsächlichen Lebensumständen und dem daraus erwachsenden Gefühl der Schutzlosigkeit. Das rüttelt an den Grundfesten einer Gesellschaft.
Naturkatastrophen und Pandemien sind allerdings Lebensumstände, deren imminente existentielle Gefahr tatsächliche Aktion benötigt. Das aus Politik zu Gesetz geronnene Recht kann hier keine Richtung vorgeben. Sein Rahmen wird für die Autorität unter Umständen zu beklemmend. Es wird zum Hindernis, sei es durch Prozess oder Materie. Es bleibt mir das Vertrauen auf die gerechten, die richtigen Entscheidungen derjenigen, die sich außerhalb der Rechtsordnung bewegen.
Gerechtigkeit ist keine hohle Phrase. Sie kann das Recht umschließen, jedoch nicht notwendig die Autorität, welche das Recht setzt. Der Ausnahmezustand teilt letzterer die fragile Möglichkeit von Autoritarismus zu. Seine Urteile müssen sich an dem Maßstab der Gerechtigkeit messen lassen.
Kann ich von Politikern Allwissen verlangen? Sie sind eben keine Philosophen-Könige, die den Ideen für eine gerechtere Gesellschaft zu Leben verhelfen könnten. Von der Regierung verlange ich zumindest Transparenz in ihren Überlegungen und Entscheidungen. Strategiepapiere sind offenbar Handlungsanweisungen, von einer Autorität an den Souverän des Ausnahmezustands; jemand flüstert ihm zu, wie zu handeln sei. Ein gewähltes Parlament disputiert offen, es streitet. Ohne die Verfassung als Ermächtiger des Souveräns und Korrektiv seiner Handlungen bin ich den Fesseln des positiven Rechts ausgeliefert, dessen Unrecht prinzipiell keine Grenzen gezogen sind.
Ich muss weder die Geschichte bemühen, noch auf Militärregierungen verweisen, um klar zu machen, wie Regierungen sich zur Fähigkeit ungerechten Urteilens legitimieren. In Europa beschreitet Ungarn offen den Weg in den Absolutismus, bei Staaten mit funktionierender Gewaltenteilung dagegen zeigen sich seit Langem Muster einer politischen Eindimensionalität, welche auf einem gewissen Fortschrittsglauben technokratischer Gesellschaften aufbaut. Demokratien sehen sich jederzeit einer ideologischen Einflussnahme ausgesetzt, die man nur mit Transparenz bekämpfen kann.
Doch selbst bei voller Transparenz scheint nichts das bürgerliche Bedürfnis nach sichernder politischer Richtungsweisung zu ersetzen. Ich bin geneigt, jede Maßnahme hinzunehmen, die meinem Schutz dient, und verlange allenfalls Transparenz in meinem Sinne. Wichtiger als der Prozess der Entscheidungsfindung wird ihr Ergebnis. Das Ergebnis wiederum ist ein Postulat, das nicht unbedingt meinem Besten entsprechen muss, aber meiner Meinung darüber.
In Gesetz gegossenen Urteile meines Souveräns bestimmen mein Leben und offenbar werden sie vorrangig vom Vertrauen in die Fähigkeiten und hehren Absichten der Regierung ermöglicht. Die meisten Deutschen oder Neuseeländer sitzen brav zu Hause, weil sie die Maßnahmen ihrer Regierungen als gerecht(fertigt) empfinden.
Ein Urteil, so heißt es in Schneiders „Logik für Juristen“, ist nur dann richtig, wenn es wahr ist und als gerecht empfunden wird. Die Regierung urteilt, ich füge mich umso williger, je stärker ich dieses Urteil als wahr und gerecht einordne. Übrig bleibt das Problem mit der Wahrheit. Die kommt immer von dort, wo ich stehe, bei ihr gibt es kein „gemeinsam“, sondern Ego. Nicht aus Vernunft, sondern aus Habitus und Indoktrinierung erwachsen Überzeugungen von Gerechtigkeit. Max Weber höre ich fragen: „Empirische Feststellung oder praktische Wertung?“
Welchem Virologen soll ich glauben? Je mehr mediale Quellen ich öffne, umso halt- und wertloser scheint mein Weltverständnis zu werden. Während ich mich frage, wie ein Mensch aufgrund dessen überhaupt urteilen kann, gibt es solche, welche Meinungsfreiheit so verstehen, als falle das offene Fantasieren darunter. Eine sich selbst bestärkende Faktizität hat sich eingestellt, gefüttert von kontextlosen Informationsfragmenten in echo-bubbles sozialer Medien, wo Vertrauen in Quellen fraglos ist.
Die Schärfe der Argumentationen nimmt mit dem Glauben zu, Recht zu haben. Und zwar im weitesten Sinne des Wortes: Jedes gefällte Urteil spricht Recht zu Gerechtigkeit und zu Wahrheit. Das Problem für mein Gefühl der Sicherheit in der Welt und damit für die Gesellschaft liegt dort, wo ich meine Schlüsse aus Urteilen anderer ziehen muss. Was für mich das Beste sei ist nicht mehr notwendig meiner eigenen Einstellung erwachsen, sondern aus der Vorgabe, den Urteilen anderer. Meine Empfindung für Gerechtigkeit, für das, was wahr und richtig ist, wird manipulierbar.
Der Rabulismus
Rabulismus muss eine Ausscheidung des modernen Individualismus sein, einer Mischung aus Verwirrung und Haltlosigkeit. Jedermann hat eine Meinung und eine Methode, mittels derer er sich diese Meinung bildet. Wahrheit ist allenfalls Sinnentwurf. Meinungen sind solche Sinnentwürfe, geistig-emotionale Überbauten, welche eine innere Gestimmtheit entwickeln, die zur Richtschnur allen Handelns wird. In mir haben verschiedene basale Antriebe zeitweise die Oberhand gewonnen, seien es Ideal, Neid, Gier, Nächstenliebe.
Das kommunikative Netz meines Sozialsystems beherbergt Millionen Menschen mit inneren Antrieben, welche sich von dieser oder jener Getriebenheit heraus äußern. Und sie raten mir von allen Seiten zu. Auf der Straße, in der Zeitung, im Radio, im Fernseher, im Internet. Jeder hat seinen Teil der Wahrheit beizutragen, von eben jenem eigenen Standpunkt.
Keiner dieser Sinnentwürfe ist per se falsch, denn sie entspringen der human condition, einer emotionalen Grundgestimmtheit, einem Gefühl, das nicht lügt. Es flüstert meinem rationalen Ich, dem eigentlichen Souverän meines emotionalen Selbst, ein, was zu tun sei. Erst die rationale Ursachensuche für die eigene Lebenssituation wird zum Problem der Wahrheitsfindung. Was ist es, das mir Angst einjagt? Und wer kann mir eine Richtung geben, um diese Angst zu überwinden?
Was bleibt mir kleinem Individuum an Möglichkeiten, Urteile zu fällen, die wahr und gerecht sind? Soll ich Philosophie, Juristerei und Medizin, (und leider auch Theologie) durchaus studieren, mit heißem Bemühen? Das ist unerheblich, wie schon Goethe feststellte. Meine Welt muss rund sein, und sei sie an vielen Stellen aufgeblasen mit der Metaphysik fremder Urteile. Omniscience, die neue mediale Allwissenheit, gibt mir Möglichkeiten von Wissen in einem Über-Goethe’schen Ausmaß. Sie reicht mir konsumierbare Fakten, die Komplexität vieler Kontexte stellt sie nicht für mich her. Es sei denn, ich vertraue dem Urteil anderer, welche diese Komplexität simplifiziert greifbar machen. Diese fremden Überzeugungen setzen sich dadurch in meinem Wissen und Weltverständnis fort aus welchem sich Wahrheit definiert. Das Wort Wahrheit ist übrigens aus der indogermanischen Wurzel wēr- hergeleitet, was Vertrauen, Treue oder Zustimmung enthält.
Als Demokrat muss ich gewillt und gewappnet sein, meiner eigenen Autorität zu vertrauen. Wenn ich aber nicht alles wissen und begreifen kann, bleibt mir dann nichts als eine eigene, prinzipiell unvertretbare Meinung haben zu müssen, auch als jemand, der die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen hat?
Die Verwissenschaftlichung
Wissenschaft besitzt Autorität. Ihr Dasein stiftet Klarheit und Verwirrung zugleich, denn ihre Komplexität beruht neben Logik und Mathematik zugleich auf unzähligen Operanden. Es sind Prämissen, die ihrerseits wahr sein müssen, um in einem wahren Schluss zu enden. Den 2500 Jahre alten Kalenderspruch des Sokrates — „ich weiß, dass ich nicht wissen kann“ — ist durch das Prinzip der Falsifizierung assimiliert und gerade dadurch als unlösbar akzeptiert worden. Wissenschaft ist ein fortwährender und müßiger Prozess des Zweifelns. Er ist in sich nicht sicherheitsstiftend und wird zur Bedrohung einer Gesellschaftsordnung, wenn die Last politischer Verantwortung auf ihm ruht. So werden Virologen zu Hoffnungsträgern und Feindbildern. Sie reden von dem, was Fall ist oder sein könnte. Der Staat muss dagegen notwendig Unzweifelhaftes kommunizieren.
Nur ein populärer Wissenschafts- und Fortschrittsglaube, der eindimensional ist, scheint die Kluft zwischen Zweifel und Eindeutigkeit zu überbrücken. Kontradiktorische Informationen zirkulieren im Blutkreislauf der Informationsgesellschaft, einem Transporteur von potentieller Erkenntnismöglichkeit und Manipulation derselben. Ich taste mich more geometrico im Glauben an eine logisch-mathematisch ableitbare Faktizität zu meiner Meinung, bin dabei allerdings auf Information angewiesen, die ich selbst schwerlich validieren kann.
Es bleibt mir das Vertrauen in ihren wissenschaftlichen Ursprung. Hier setzt Verwissenschaftlichung an. Sie ist die Inanspruchnahme von Wissenschaft für jegliches Kalkül. Sie kleidet Information in das Gewand der Unbestreitbarkeit und straft jeden Widerspruch als Meinungsmache. Es beginnt bei harmlosen „Infomercials” und wird lebensbedrohlich, wenn simple Kausalitätsherleitung zur Einnahme eines Desinfektionsmittels führt.
Wissenschaft wird dadurch auf den Glauben an ihre eigene Methode reduziert, ungeachtet materieller Inhalte. Sie erzeugt alternativlosen Glauben, wenn man Methode und Materie nicht auseinander halten kann. Diese Verwechslung ist zum Problem der Moderne geworden, wie die Verwechslung von Wohlstand und Freiheit, von Freiheit und Arbeit, von Arbeit und Fortschritt, von Fortschritt und Wachstum, et cetera. Diese Begriffe eint der Verlust ihrer Multi-Dimensionalität.
Wissenschaft ist Autorität im Moment, wo ihre Erkenntnis zur Bestimmung des archimedischen Punkts gebraucht wird. Es sind die Virologen, deren Dienste hoch im Kurs stehen und von denen weniger wissenschaftliche Antworten, sondern konkrete, populär-anwendbare Richtungsweisungen erwartet werden.
Seit Wissenschaft ökonomisiert wurde, spaltete sich ein Großteil philosophisch-empirischer Geistes- und Humanwissenschaft nach und nach von den applied sciences ab, jenem Zweig, der im Dienst des jeweiligen Fortschritts-Paradigmas finanziert und instrumentalisiert wird. Dort ist Wissenschaft ein Werkzeug in den Händen derer, die Fortschritt proklamieren und dabei diesem Begriff seine Facetten abschleifen.
Ich lebe in einer Welt, wo das Erscheinen neuer Smartphone-Modelle und Elektroautos zelebriert wird und wo man sich zugleich einem sozialen Konservativismus hingibt. Die Hinwendung zur „guten alten Zeit“ und zur „Heimat“ lässt eine verkümmerte Gesellschaft zurück und sie produziert High-Tech, deren Existenzberechtigung nur noch in sich selbst ruht.
Es ist fraglicher gesellschaftlicher Fortschritt, wenn eine Regierung die Rücklagen der Steuerzahler zum Weiterbetrieb der Wachstums-Maschinerie von Zins und Anlage einsetzt. So soll der Trickle-down-Effekt weiterhin gewährleistet werden nach dessen Logik an einer Stelle der Gesellschaft Überfluss herrschen muss, damit der übrige, der arbeitende Teil von dort aus Lohn und Brot beziehen kann. Diese eindimensionale Verdichtung des Begriffs „Fortschritt“ auf „Wachstum“ spaltet in oben und unten. Es macht aus Bürgern und Demokraten Reiche, Arme, Prekäre und Faulpelze. Diese Definition von Macht durch vertikale Güterverteilung lässt keinen Raum für Gleichheit, für das Primat des Rechts.
Aufrechnung von Statistiken
Wo Multidimensionalität keine Rolle mehr spielt, kann der Mensch nicht gedeihen. Stattdessen ist er mit der Wissenschaft gemeinsam objektiviert und zu Fehlerintoleranz optimiert worden. In der Konsequenz bleibt nur noch die wissenschaftliche Methode mit der kontextlos Statistiken aufgerechnet werden; Tote gegen mögliche Tote, Abstraktion, Objektivierung. Meine Hilflosigkeit ist jene des Staates, jene der Wissenschaftler, die alle gemeinsam auf Exponentialkurven starren und deuten. Doch sind wir im Deuten nicht sonderlich geübt. Philosophische und sozialwissenschaftliche Ansätze stapeln sich in den Regalen der Universitäten und bekommen weder Platz im Politischen noch im Populären. Für jenen eindimensionalen Fortschrittsbegriff scheint die Technokratisierung der Wissenschaft zu genügen.
Sie hat seit Jahrzehnten ihren Keim im Bildungssystem, das einem Katechismus gleicht, welcher die richtigen Antworten ihrer Schüler erwartet und aus Lernerfolgen Wettbewerbe macht. Hier richtet sich der Fokus auf Wissen, einer Wahrheitssuche im Sinne jenes indogermanischen wēra- also, dem Vertrauen in essentielle dogmatische Ordnungsprinzipien, die es zu verinnerlichen gilt. Lehrpläne definieren, was wahr sei und widersprechen damit jahrtausendealter philosophischer Erkenntnis. Das Potenzial zur komplexen Welterfassung verkümmert. Mit den Worten der Kulturwissenschaftlerin Sandra Geschke:
„Die Widersprüchlichkeit des Anderen wird zunehmend als anstrengend empfunden. Linearität und Kausalsschlussprinzip ersetzen die Kontingenz und damit die Potentialität des Anderen.“
Bildung sollte Methode lehren und damit Wissenschaftlichkeit an sich. Erkenntnisfähigkeit und Selbstvertrauen ihrer Schüler sollte ihr Ergebnis sein. Hilfe zur Sinn-Stiftung wird zu den Soft Skills gezählt, welche Schulen und Universitäten kaum im Angebot haben, noch weniger das populäre Internet. Man hat mich mit den wesentlichen Fragen des Mensch-Seins alleingelassen. Das menschliche Potenzial und der Mut, mit dem eigenen archimedischen Punkt zu leben, sollte gefördert werden, nicht die Angst, Fehler zu machen.
Wo sind die Konzepte einer gerechten Gesellschaftsordnung, einer Ethik des Internets und seiner Algorithmen oder die einer universellen Bildung? Meine Identität als Mensch ist geformt, meine Angst nicht genommen, um über den Sinn meines eigenes Daseins nachzudenken. Nach alledem ist der Mensch von unten bis oben, von links nach rechts, mit der Aufgabe des Zweifelns alleingelassen und hat irrationale Angst, diesen Zweifeln nachzugehen.
Das eröffnet geistige Anlegestellen für populistische und abstruse Verschwörungstheorien und subtiler Nachrichten zur Erziehung von Staatsdienern, Konsumenten oder Reichsbürgern durch Rückversicherung ihrer inneren Gestimmtheit. Es ermöglicht einerseits den Staat mit seinem Sicherheitsversprechen, aber zugleich Faktenverdrehung, Populismus und Demagogie.
Demagogen haben wir in Deutschland und anderswo nicht lediglich auf den Straßen und Plätzen. Sie sitzen und reden auch in Parlamenten und unabhängig ist jeder in der Wahl seiner Berater, jenen Souffleusen, von Gewissen bis Experten.
Gefährlich wird es, sobald Kalkül zur Hebamme von Zynismus wird. Wer dem Souverän Handlungsempfehlungen ausspricht, darf kein Kalkül besitzen.
Erhalter des Status quo
Es scheint, als gebe es lediglich die Wahl zwischen zwei Polen, die sich in ihrer Rückwärtsgewandtheit nicht unterscheiden. Wer einem patriotischen Demagogen folgt, hat seine Stellung als Teil jenes „gemeinen Volkes“ in einer vertikalen Gesellschaftsordnung akzeptiert und kämpft inzwischen gegen diese Klassifizierung an. Wer seinen gesellschaftlichen Status aus Not verändern will, ist in diesem Moment progressiv. Hier teilt sich die Linke den grundsätzlichen Veränderungswillen mit der Rechten. Wer sich an Behauptungen des konservativem Wohlstandsgedankens — dem Schliff der old white men und ihres Moscheen-attackierenden Nachwuchses — erwärmt, findet sich als Erhalter des Status quo wieder.
In letzterer Gruppe finden sich erstaunlicherweise auch Minderheiten, denen gerade diese Politik nicht zugutekommt. Auch wenn jene gerade nicht der reichen weißen Klasse angehören, erhalten sie dieselbe durch ihre Arbeit. Sie sind inzwischen „Helden“ der Krise. Das ist eine Möglichkeit, die Stabilität ihrer Weltanschauung, das heißt ihr Vertrauen in jene Trickle-down economy zu erhalten.
Deswegen kommt mir öfter eine erschreckende Utopie in den Sinn, in welcher ich mich im Griff von geistigen Blitzableitern und Stimmungsmachern wiederfinde, besonders solchen, die proklamieren, mit Falsifizierung besser vertraut zu sein als ich. Sogar der Geist eines humanistischen Weltbürgers wird von der populistischen Art verkündet: Man möge und respektiere alle Rassen, solange sie zu Hause bleiben. Ich bin woanders zu Hause und bei jeder Rückkehr in mein Geburtsland umschließen mich die Arme einer nationalen Identität. Ich kenne Thüringer, Münchner, Hamburger und Neapolitaner, Christchurcher und einen blondierten Japaner in Osaka. Sie sind Teil meiner Identität, die mir von solchen Demagogen in Frage gestellt wird.
Manchmal ist mir dagegen, als beschränke sich meine Identität auf Ziffern, nach Lebenserwartung, Leistungsfähigkeit, Qualifikation und Pandemie-Verbreitungsquotient. Dann stecke ich im Korsett jenes konservativistischen Fortschritts-Glaubens, wo die „gute alte Zeit“ herrschte, wo Trachten und Volksgesundheit und Arbeit, Wohlstand und Geld in exklusivem Equilibrium waren. Ein Oxymoron, das es doch nur im Traum geben kann?
Ausblick
Der Staat umschließt mich. Ich bin mir nicht sicher, ob und wann sein Griff womöglich zu fest ist. Seit Jahren frage ich mich, was den Menschen sozial macht. Ist er dem anderen Wolf? Gibt es eine Lex aeterna, eine allen einsichtige Vernunft? Oder ist der Mensch ein Staaten bildendes Wesen wie die Biene, weil es seiner Natur entspricht? Die Neurowissenschaft gibt diesem aristotelischen Gedanken neuen Aufwind. Ein Denkanstoß: Wenn die Kommunikation die kleinste soziale Einheit ist, weiter Familie, Freunde, Nachbarn und die Gemeinde, warum endet ihre Definition zumeist beim Nationalstaat?
Wird diese Grenze dort gezogen, wo Kommunikation, der kleinste Nenner, erschwert ist durch sprachliche Differenzen? Genügt dem Gemeinschaftsgedanken eine wohlig-kulturelle Abstraktion des Zusammenhaltsgefühls? Wer an die europäische Jungfer denkt, welche ihre Verlobte, die Freiheit küsst, hat die letzten Wochen verschlafen. Europas Grenzen sind klar gezogen, innen und außen. Welchen Wert hat „Europa“ auf dem Papier? Welchen Wert hat es für mich?
Ich frage nicht nach dem empirischen Europa, ich frage nach dem praktischen. Aus simpler Empirie erkenne ich, dass Europa, wie Deutschland, vom Geld zusammengehalten und vom selben auseinandergetrieben wird, während ich, der Bürger, in faktischen Grenzen eingesperrt bin. Da schwindet die Hoffnung auf politisches Umdenken, hin zu jenen praktikablen Werten eines Weltbürgers, die ich suche.
Eine Äquivalenzfunktions-Diskussion findet derzeit statt, wonach Menschenleben in statistischen Ziffern hoch- und mit Konsequenzen eines kollabierenden Wirtschaftssystems aufgerechnet wird. Es wird nach Alternativen für Arbeitsgestaltung gesucht. Der Frage, wie kongruent die Wirtschafts- mit der Gesellschaftsordnung ist, wird politisch allerdings nicht nachgegangen.
Dabei ist es bedenklich, in sozialer Abhängigkeit von einem System zu sein, das es ohne seinen Prozess von Wachstum in dieser Art nicht geben kann.
Das ist die Konsequenz eines Paradigmas, dem Zweifel ungeheuer sind. Ich möchte dem von Niklas Luhmann geprägten „Äquivalenzfunktionalismus“ eine Erweiterung verschaffen, die nicht wertfrei sein kann, kurz: ein Richtungsvorschlag für die Suche nach neuen sozialen Strukturen. Er ermutigt zu Urvertrauen in eigene Geistesregungen, in eigene Urteilskraft und hat den Imperativ, nie den Zweifel zu verlieren. Ich darf mich nicht der wohligen Gemütlichkeit unkritischer Meinungen hingeben und sie so zu meinen eigenen machen, denn so entfernt sich mein Selbst vom Ich; ich werde kontrollier- und manipulierbar, meine Gesellschaft wird die Vision anderer.
Wie wäre es zur Abwechslung mit dem Mut zum Zweifel? Mit Urvertrauen in die Idee Europas und vom Weltbürger oder in die Möglichkeit, dem Begriff „Wohlstand“ in diesen Zeiten eine neue Weite geben zu können. Wohlbefinden könnte darin aufgehen, Fortschritt und Freiheit so zu begreifen, von nichts anderem getrieben sein zu müssen als vom eigenen kritischen Lebensentwurf mit all seinem Potenzial, Fehler zu machen.
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