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Die verdrängte Befreiungsschlacht

Die verdrängte Befreiungsschlacht

In Deutschland gibt es noch immer kein öffentliches Gedenken zum 75. Jahrestag des Sieges der Roten Armee bei Stalingrad.

Ganz still ist es in Deutschland zum 75. Jahrestag des Sieges der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad (1). Mit der Kapitulation von Generalfeldmarschall Paulus endete am 2. Februar 1943 das opferreichste Gemetzel des Zweiten Weltkrieges. Noch bevor US-amerikanische und britische Streitkräfte 14 Monate später mit der Landung in der Normandie endlich die zweite Front eröffneten, leitete die Schlacht von Stalingrad die Wende zum Sieg über den Hitlerfaschismus ein, den die Sowjetunion mit dem ungeheuren Blutzoll von insgesamt 27 Millionen Menschen erkaufen musste.

Und dennoch werden in den deutschen Mainstream-Medien und im Bewusstsein der meisten Bundesbürger „die Sowjet-Russen“ noch immer nicht als Befreier Deutschlands vom verbrecherischen Hitler-Faschismus, vielmehr wird Russland neuerdings wieder als „Feind“ betrachtet. Darum gibt es hierzulande auch kein öffentliches Gedenken bezüglich des 75. Jahrestages des Fanals von Stalingrad, während seit Kriegsende kein wichtiger Jahrestag der Landung US-amerikanischer und britischer Truppen in der Normandie ohne großangelegte öffentliche Feiern vorüberging. Da ist es denn auch nicht verwunderlich, dass — nach einer neuerlichen Umfrage — auf die Frage, wer Deutschland vom Faschismus befreit hat, nur 13 Prozent der Bundesbürger auch „die Russen“ nannten.

Bis heute haben die meisten Deutschen, erst recht die nach dem Krieg Geborenen, keine wirkliche Vorstellung davon, was der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion für diese wirklich bedeutet hat.

In der seriösen historischen Forschung besteht seit langem Einigkeit darüber, dass es sich bei diesem Krieg — so der Historiker Wolfram Wette vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg (2) — „nicht um einen europäischen ‚Normalkrieg‘ handelte, geführt nach den Normen des Kriegsvölkerrechts, sondern um einen rassen-ideologisch begründeten Vernichtungskrieg, an dem sich überdies nicht nur die SS und die sogenannten Einsatzgruppen beteiligten, wie es die apologetische Memoirenliteratur von Weltkriegsteilnehmern wissen wollte, sondern auch Teile der Wehrmacht.“

Zugleich handelte es um einen imperialistischen „Lebensraum“-Krieg gegen das „jüdischbolschewistische System“, wie es im Nazi-Jargon hieß, mit dem erklärten Ziel, koloniales Siedlungsgebiet für deutsche Wehrbauern zu gewinnen. Aus diesem Doppelcharakter erwuchs jene noch nie dagewesene Brutalisierung der Kriegsführung, die dem„Unternehmen Barbarossa“ — wie das geheime Codewort für den Russlandfeldzug lautete — einen singulären Charakter verlieh. „Wenn Barbarossa steigt, hält die Welt den Atem an“, hatte Hitler im engsten Kreis verkündet.

Nicht nur der Holocaust war ein weltgeschichtlich singuläres Verbrechen; singulär war auch die Art der deutschen Kriegsführung im Osten, die sich — im Unterschied zu dem an den Westfronten geführten Krieg und im Unterschied zum deutschen Ostfeldzug von 1914 bis 1918 — über alle bis dahin geltenden Normen des Kriegsvölkerrechts hinwegsetzte.

Die verbrecherischen Befehle und die nationalsozialistische Geopolitik des Hungers

Schon in der Planungsphase des Russlandfeldzuges lässt sich das Zusammenspiel zwischen der NS-Führung und den Spitzen der Wehrmacht eindeutig belegen. Der Überfall auf die Sowjetunion wurde seit Juli 1940 im Oberkommando der Wehrmacht und im Oberkommando des Heeres sorgfältig geplant. Schon am 17. März 1941 erklärte Hitler gegenüber General Oberst Franz Halder und Oberst Adolf Heusinger — dem späteren ersten Generalinspekteur der Bundeswehr:

„Im großrussischen Bereich ist die Anwendung brutalster Gewalt notwendig. Weltanschauliche Bande halten das russische Volk noch nicht fest genug zusammen. Es wird mit dem Beseitigen der Funktionäre zerreißen.“

Und am 30. März 1941 schärfte Hitler etwa 250 führenden Militärs ein, dass man „in diesem Kampf zweier Weltanschauungen vom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken“ müsse: „Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren. (…) Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen.“ Daraufhin erfolgte die Ausarbeitung der verbrecherischen Befehle durch die Wehrmachts- und Heeresführung. Es handelt sich um:

  • den „Kommissarsbefehl“, der von der Truppe die sofortige Liquidierung der bolschewistischen Kommissare verlangte,
  • den „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“, der die ordentliche Militärgerichtsbarkeit ausschaltete: „Tatverdächtige Elemente werden zugleich einem Offizier vorgeführt. Dieser entscheidet, ob sie zu erschießen sind (...). Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang“,
  • die „Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland“: „(…) dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jeden aktiven oder passiven Widerstandes“,
  • die „Anordnungen für die Behandlung der russischen Kriegsgefangenen“: „Mit heimtückischem Verhalten insbesondere der Kriegsgefangen asiatischer Herkunft ist zu rechnen. Daher rücksichtsloses und energisches Durchgreifen bei dem geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit“.

Alle diese Befehle wurden noch vor dem 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion, erlassen und allen Generalstabsoffizieren in den Verbänden und Kommandobehörden des Ostheeres bekannt gemacht. Den Truppen wurden sie etwas später mitgeteilt. In den „Mitteilungen für die Truppe“ vom Juni 1941, die vermutlich erst im Juli in den Kompanien verlesen wurden, hieß es: „Es geht darum, das rote Untermenschentum, welches in den Moskauer Machthabern verkörpert ist, auszulöschen.“

Es gab nicht nur keinen nennenswerten Einspruch, geschweige denn Widerstand gegen diese Befehle, die sich über die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts, der Haager Landkriegsordnung und des Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen hinwegsetzte — eine Ausnahme war nur Admiral Wilhelm Canaris —, sondern diese Befehle wurden auch von der Mehrheit der Truppenführer in die Tat umgesetzt. Am 30. März 1941 sprach Hitler von „kolonialen Aufgaben“ in Russland; für ihn war es „Deutschlands Afrika“ und die „Russen unsere Neger“. Görings „oberste Zentralstelle für Russland“ forderte am 2. Mai 1941, die gesamte Wehrmacht aus Russland zu ernähren, und nahm eiskalt in Kauf: „Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“

Der Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, alter Parteigenosse und Agrarexperte der NSDAP, entwarf gegenüber der sowjetischen Bevölkerung eine regelrechte Geopolitik des Hungers. Nach Backes Konzept, das weitgehend realisiert wurde, sollten die Überschussgebiete des sowjetischen Südens von den Zuschussgebieten in Mittel- und Nordrussland abgeschnitten und die Ernte für die Wehrmachtsversorgung beziehungsweise nach Mitteleuropa abgezogen werden.

Es galt insbesondere, die großen Industriezentren mit ihren Bevölkerungsmassen von der Versorgung aus dem agrarischen Inland zu isolieren und auszuhungern, um so die für deutsche Zwecke benötigten Überschüsse zu gewinnen. Der gewünschte Nebeneffekt war die Vernichtung derjenigen „Bevölkerungselemente“, die im NS-Verständnis als rassisch minderwertig und politisch am unzuverlässigsten galten: Juden, Moskowiter und Industriearbeiterschaft. Ihr Hungerstod sollte für eine radikale Entindustrialisierung Russlands und koloniales Siedlungsland für germanische Wehrbauern sorgen. Folgt man Backes Richtlinien vom 23. Mai 1941, dann war auch die Aushungerung der Zweimillionenstadt Leningrad nicht nur ein militärisches Druckmittel, um die Stadt zur Kapitulation zu zwingen, sondern auch ein durchaus gewünschter Nebeneffekt der nationalsozialistischen Aushungerungspolitik gegenüber den „Zuschussgebieten des sowjetischen Nordens“.

Das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangen und seine Ursachen

Görings zynische Prophezeiung sowie Backes Planungen sollten schon im ersten Kriegswinter 1941/42 auf schreckliche Weise Wirklichkeit werden. Der Krieg sollte den Krieg ernähren, das heißt der für die deutsche Kriegsführung erforderliche Bedarf an Nahrungsmitteln und Rohstoffen sollte aus dem eroberten Land herausgepresst werden. Demgegenüber hatten die Belange der Zivilbevölkerung und der sowjetischen Kriegsgefangenen zurückzustehen.

Die Rotarmisten, die gleich in den ersten Wochen nach dem Überfall in den großen Kesselschlachten zu Hundertausenden in die Hände der Wehrmacht fielen, waren — aus Sicht der deutschen Führung — lästiger Ballast. 1941 starben allein in den Lagern im besetzten Polen 45.690 sowjetische Gefangene — mehr als 4.500 am Tag. Von den 361.612 Gefangenen, die dort im Herbst 1941 auf Dauer untergebracht werden sollten, waren bis zum 15. April 1942 307.816, mehr als 85 Prozent, verhungert, erfroren, an Seuchen gestorben oder erschossen worden.

Der zweite Grund, der das Massensterben vor allem im Kriegswinter 1941/42 hervorrief, waren die absolut unzureichenden Unterkünfte. Die Lagerkomplexe, für jeweils 30.000 bis 50.000 Gefangene geplant, waren in der Regel mit Stacheldraht umzäunte Areale oder Truppenübungsplätze unter freiem Himmel; es gab nicht einmal Baracken, geschweige denn die primitivsten sanitären Einrichtungen. Die Folge war, dass die Gefangenen bis in den Winter hinein in Gräben und Erdlöchern, in Laub- und Erdhütten dahinvegetieren mussten, wobei Zigtausende erfroren oder durch Infektionskrankheiten wie Ruhr und Typhus dahingerafft wurden.

Hunderttausende verloren ihr Leben auf dem Transport von der Front in die Gefangenenlager. Ein weiterer Grund für die extrem hohe Sterblichkeit in den Lagern für sowjetische Kriegsgefangene und verschleppte „Ostarbeiter“ waren die oftmals tödlichen Arbeitseinsätze. Nicht nur wurden ihnen, im Unterschied zu den Gefangenen anderer Nationen, die schwersten und gefährlichsten Arbeiten aufgebürdet, sondern Zigtausende wurden, vor allem bei den späteren Einsätzen in den deutschen Rüstungsfabriken, systematisch durch Arbeit vernichtet.

Im Arbeitslager Stukenbrock bei Paderborn wurden die Arbeitskommandos für den ganzen nordrhein-westfälischen Raum zusammengestellt. Die russischen Kriegsgefangenen wurden mit Vorliebe in die Kohlegruben, Bergwerke und in die unterirdischen Rüstungsfabriken vom Typ „DORA“ geschickt. Wer hier arbeiten musste, kam nicht mehr zurück. Von den 65.000 — vorwiegend russischen — Kriegsgefangenen, die in Stukenbrock waren, waren bei Kriegsende noch 5.000 am Leben. Von den 5,7 Millionen Soldaten der Roten Armee, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, sind annähernd 3,3 Millionen in deutschen Lagern verhungert, Seuchen erlegen, durch Arbeit vernichtet, erschossen, vergast oder durch Misshandlungen zu Tode gebracht worden. Nicht nur Auschwitz und Treblinka, auch die deutschen Lager für sowjetische Kriegsgefangene mit ihrer durchschnittlichen Sterbequote von fast 60 Prozent muss man daher als Todes- und Vernichtungslager qualifizieren.

Wehrmachtshilfe für die SS: Beihilfe zum Völkermord

Zu den unverwüstlichen Legenden über den Russlandfeldzug gehört bis heute die Behauptung, die deutsche Wehrmacht habe im Osten einen reinen „militärischen Krieg“ geführt, während die Vernichtungsaktionen, von denen der normale Kriegsteilnehmer ohnehin nichts gewusst habe, allein von den im Rücken der Front operierenden Einsatzkommandos der SS und des SD (3) verübt worden seien.

Eine Behauptung, die das kollektive Rechtsfertigungsbedürfnis der deutschen Kriegsteilnehmer ebenso hartnäckig zementiert hat wie die populäre Memoirenliteratur ehemaliger Wehrmachtsangehöriger. Für die nahtlose Zusammenarbeit von Einsatzgruppen, SS und Wehrmacht gibt es jedoch eine Fülle von Beweismaterial. Man lese nur die umfangreichen Studien der Mitarbeiter des militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg zu diesem Thema.

Schon in der Planungsphase des Russlandfeldzuges war der „Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD im Verband des Heeres“ einvernehmlich geregelt worden. Wie es in einer Übereinkunft zwischen dem Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, und dem Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, am 28. April 1941 hieß. Die Zusammenarbeit zwischen Heer und SS zur Ausrottung der „jüdischbolschewistischen Intelligenz“ hatte sich schon im Polenfeldzug „bewährt“. Schon damals waren die dort eingesetzten Wehrmachtsoffiziere zu Mitwissern der Vernichtungspraxis der Einsatzgruppen geworden, der die polnische Intelligenz und die polnischen Juden zum Opfer fielen. Einige wenige Wehrmachtsoffiziere protestierten, doch die Mehrheit schwieg.

Viele Wehrmachtsoffiziere haben nicht nur bolschewistische Kommissare, Offiziere, Funktionäre und Juden bereitwillig den Einsatzgruppen ausgeliefert, sondern auch bei der Vorbereitung zur Massentötung organisatorische Beihilfe geleistet. In vielen nachgewiesenen Fällen stellten Wehrmachtseinheiten bei Massenerschießungen Absperrkommandos auf und halfen bei der „Durchkämmung“ der besetzten Städte und Gebiete. Beim Einmarsch der deutschen Truppen wurden die Juden in der Regel durch Armeebefehle zur Kennzeichnung und Registrierung bezwungen; oft ergriffen auch Orts- und Feldkommandanten die Initiative und bestellten die „Sonderkommandos“, um ihre Gebiete „judenfrei“ zu machen. In etlichen Fällen haben sich sogar dienstfreie Soldaten freiwillig dem SD zur Mithilfe bei der Durchführung von Erschießungen angeboten, als Zuschauer beigewohnt und dabei Fotos gemacht.

All diese Hilfen waren eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die vier Einsatzgruppen bis zum April 1942 mehr als eine halbe Million sowjetische Juden umbringen konnten. Die mörderische Beihilfe, die Teile der Wehrmacht den Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD leisteten, ist im Falle des Massakers von Babi Jar besonders gut dokumentiert. Nach der Eroberung von Kiew durch deutsche Truppen im September 1941 wurden 33.771 jüdische Einwohner, nach Absprache der Einsatzgruppe C mit dem Stadtkommandanten von Kiew, Generalmajor Eberhardt, in die Schlucht von Babi Jar gelockt. Die Propagandakompanie der sechsten Armee druckte 2.000 Plakate, mit denen die Juden zur „Umsiedlung“ aufgerufen wurden. Heereseinheiten der sechsten Armee besorgten die Absperrung der Schlucht, Heerespioniere sprengten nach dem Massaker die Wände der Schlucht, um die Leichenberge zu verdecken.

Auch bei der Partisanenbekämpfung hat die Wehrmacht mit den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD reibungslos zusammengearbeitet. Der Begriff des Partisanen und „Freischärlers“ war schon nach den Bestimmungen des „Kriegsgerichtsbarkeitserlasses“ so weit gefasst worden, dass praktisch jede verdächtige Zivilperson als Partisan oder Partisanensympathisant liquidiert werden konnte. Auch jede Begünstigung und Hilfe für Partisanen seitens der Zivilbevölkerung sollte mit der Todesstrafe geahndet werden. Wilhelm Keitels Erlass über „die Bekämpfung kommunistischer Aufstandsbewegungen“ vom 16. September 1941 gab den Wehrmachtsangehörigen nicht nur die Möglichkeit, mit jedem als Partisan verdächtigten sowjetischen Zivilisten sofort kurzen Prozess zu machen, sondern auch Anschläge auf deutsche Soldaten fünfzig- bis hundertfach zu vergelten. In diesem Erlass heißt es:

„Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muss in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 50 bis 100 Kommunisten als angemessen gelten. Die Art der Vollstreckung muss die abschreckende Wirkung noch erhöhen.“

In der Praxis war der „Vergeltungs“-Quotient oft um das Vielfache höher. Viele Hunderttausende Sowjetbürger wurden außerhalb der eigentlichen Kampfhandlungen als „Freischärler, „Partisanenverdächtige“, „Saboteure“ und Geiseln erschossen oder im Zuge kollektiver „Vergeltungsmaßnahmen“ wie des Niederbrennens ganzer Dörfer und Ortschaften umgebracht. Allein in Weißrussland sind auf diese Weise 628 Dörfer mit fast allen Einwohnern vernichtet worden; in vielen Fällen wurden die Dorfbewohner in Schulen, Scheunen und Kasernen getrieben und dort bei lebendigem Leibe verbrannt: auch dies eine Art Auschwitz. Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass gab den Wehrmachts- und SS-Angehörigen dabei die Sicherheit, dass keiner von ihnen zur Rechenschaft gezogen wurde, wenn sie Russen und Juden außerhalb von direkten Kampfhandlungen umbrachten.

Um eine Vorstellung davon zu geben, welche Zerstörungen und Verbrechen auf das Konto nur einer Armee und der in ihrem Operationsbereich tätigen Sonderkommandos gingen, sei hier das Beispiel der 18. Armee (Nord) aufgeführt, die auch an der Belagerung Leningrads beteiligt war. Dem Generalstabschef, Friedrich Foertsch, der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, wurde nach dem Krieg von einem sowjetischen Gericht der Prozess gemacht.

Foertsch wurde angeklagt, „erstens Hitlers Plan der Vernichtung Leningrads und seiner Bevölkerung, soweit die Faschisten das verwirklichen konnten, vollstreckt zu haben, zweitens als Generalstabschef in unmenschlicher Weise die Bevölkerung aus dem frontnahen Gebieten evakuiert und Massenvernichtungen von Ortschaften vorgenommen zu haben, drittens die alten russischen Städte Novgorod, Pskow und Ostrow vollständig zerstört und die Massenvernichtung friedlicher Bürger betrieben sowie im Gebiet Novgorod allein 186.760 Kriegsgefangene, Soldaten und Offiziere der Sowjetarmee getötet zu haben“ (4). Zur geplanten Vernichtung Leningrads erklärte Foertsch vor Gericht: „Ich gebe zu, die Befehle zum Beschuss gegeben zu haben, bekenne mich aber nicht schuldig.“

Friedrich Foertsch wurde vom sowjetischen Tribunal als „überführter Kriegsverbrecher zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, musste aber nur zehn Jahre absitzen. 1955 wurde er zusammen mit anderen deutschen Kriegsverbrechern an Westdeutschland zurückgegeben. Für seine zehnjährige Haftzeit wurde Foertsch alsbald auf besondere Weise entschädigt: und zwar durch eine Bilderbuchkarriere bei Bundeswehr und NATO. Bereits 1956 wurde er Divisionskommandeur der zweiten Grenadierdivision in Kassel und kurz darauf zum General ernannt. 1959 wurde er stellvertretender Stabschef Planung und Politik im NATO-Hauptquartier, 1961 löste er den damaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, Heusinger, ab, der ebenfalls ein „verdienter“ Nazi-Oberst gewesen war. Dass solche Militärkarrieren nach 1945 beileibe keine Ausnahme bildeten, belegt die nahezu ungebrochene personelle Kontinuität in den Führungsstäben von Wehrmacht und Bundeswehr.

Bereits 1957 traten 44 ehemalige Wehrmachtsgenerale und -admirale und mehr als 1.000 ehemalige Wehrmachtsoffiziere in leitender Stellung wieder in den Dienst der neuen deutschen Armee. In einem SPIEGEL-Beitrag (5) hat jüngst der Militärhistoriker Sönke Neitzel wieder die Rückbesinnung auf „militärische Werte“ angemahnt: Die Bundeswehr müsse wieder ein „Instrument des Kampfes“ sein. Man könne „Panzergrenadieren und Fallschirmjägern“ doch nicht „lauter nicht-kämpfende Vorbilder anbieten“. Sie „sollen kämpfen und töten können“ und sich deshalb nicht auf „Traditionselemente“ beschränken, „die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen“.

Neitzel empfiehlt der Bundeswehr allen Ernstes, sie solle sich wieder in die Traditionslinie der Wehrmacht stellen. Wenn ein deutscher Militärhistoriker und Lehrstuhlinhaber in einem deutschen Leitmedium wieder solche Thesen verkünden darf und eine Armee als Vorbild empfiehlt, die sich ohne nennenswerten Widerstand für den ungeheuerlichsten Angriffs-, Raub- und Vernichtungskrieg der Neuzeit zur Verfügung stellte — welche Schlüsse haben wir daraus zu ziehen? Dass die Bundesrepublik Deutschland als die wirtschaftsimperiale Hegemonialmacht innerhalb der Europäischen Union ihre bisherige militärische Zurückhaltung endlich aufgeben und bei den künftigen US-geführten Rohstoff- und Regimechange-Kriegen wieder ganz vorne mit dabei sein soll?

Der Pyrrhussieg im „Großen Vaterländischen Krieg“

In keinem deutschen Geschichts- oder Schulbuch über den Zweiten Weltkrieg findet man eine annähernd realistische Beschreibung, welche Zerstörungen und Verwüstungen die deutschen Armeen auf dem Vormarsch, besonders aber während des Rückzugs angerichtet haben und was der „Führer-Befehl“ „verbrannte Erde“ für die Sowjetunion bedeutete. In dem von 88 Millionen Menschen bewohnten Besatzungsgebiet wurden insgesamt 15 Großstädte, 1.710 Kleinstädte und 70.000 Dörfer ganz oder teilweise verwüstet und sechs Millionen Häuser verbrannt oder demoliert, wodurch 25 Millionen Menschen ihr Obdach verloren. Ein Drittel des bebaubaren Landes war in Ödland verwandelt, die Kolchosen und Sowchosen waren ohne Vieh, ohne Saatgut, ohne Gerätschaften und Maschinen.

Fast die Hälfte des sowjetischen Industriepotenzials war vernichtet worden — „was einer Zerstörung Amerikas östlich von Chicago gleichkäme“, wie Präsident Kennedy in einer Rede am 10. Juni 1963 gesagt hatte. Der gesamte Sachschaden für die sowjetische Volkswirtschaft wurde mit 679 Milliarden Rubel beziffert. Dafür forderte die Sowjetunion auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 zehn Milliarden Dollar Reparationen von Deutschland, das heißt weniger als ein Drittel der Summe, die die Westmächte 1921 von Deutschland verlangt hatten. Am schrecklichsten aber waren die Verluste an Menschenleben.

Angesichts der Tatsache, dass der militärische Sieger Sowjetunion mindestens viermal so viele Menschen verloren hatte wie der Angreifer und militärische Verlierer Deutschland, kann man wohl nur noch von einem „Pyrrhussieg“ sprechen. Stellt man dazu die gigantischen materiellen Zerstörungen in Rechnung, müsste man eigentlich auch die Sowjetunion zu den Verlierern des Zweiten Weltkrieges rechnen — eine Optik, die freilich zu ihrer eigenen, stolzen Selbst- und Außendarstellung nach 1945, zum alljährlich triumphal beschworenen Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ nicht recht passen will.

Geteiltes Land, halbierte Schuld

Die meisten Bundesbürger gehen noch heute von der irrigen Vorstellung aus, die 27 Millionen Toten auf sowjetischer Seite seien Opfer „normaler Kriegshandlungen“ gewesen. Mindestens sieben bis acht Millionen — manche Historiker sprechen von 10 Millionen — sind jedoch außerhalb der eigentlichen Kampfhandlungen zu Tode gekommen: ein Tatbestand, der es wohl rechtfertigt, von Völkermord zu sprechen. Ausschwitz wurde als „unfassbares Verbrechen“ von allen Deutschen eingestanden — der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion dagegen und die damit verbundene Schuld wurden mit dem Einsetzen des Kalten Krieges in der BRD rasch wieder verdrängt, verleugnet oder bagatellisiert. Dabei hatte der Krieg gegen die Sowjetunion überhaupt erst die Voraussetzung für den Holocaust geschaffen, indem er die osteuropäischen und sowjetischen Juden in die Hände der Nazis brachte.

Mit der Teilung Deutschlands war nicht nur eine höchst unproportionale Verteilung der gesamten deutschen Kriegsschuld und der Wiedergutmachungszahlungen zugunsten der Bundesrepublik eingetreten — siehe das Londoner Schuldenabkommen von 1953, bei dem alle ausstehenden Forderungen auf Reparationen bis zum Abschluss eines förmlichen Friedensvertrages, der jedoch nie geschlossen wurde, aufgeschoben wurden.

Die deutsche Teilung und der wenige Jahre nach Kriegsende einsetzende Kalte Krieg, in dem „die Sowjetunion“ wieder zum Feind erklärt wurde, hatten auch eine Teilung des deutschen Schuldgefühls zur Folge.

Während die DDR, das heißt ein Drittel der deutschen Bevölkerung, stellvertretend für Gesamtdeutschland die Kriegsschuld gegenüber der Sowjetunion im materiellen wie moralischen Sinne übernehmen musste, eine besondere Wiedergutmachungspflicht gegenüber den Überlebenden des Holocausts und dem Staat Israel erst spät, im Jahre 1988 anerkannte, sah sich der bundesrepublikanische Staat in der alleinigen Schuld Israels. In Deutschland gibt es heute eine ausgeprägte Erinnerungskultur bezüglich des Holocausts. Wo aber sind die Gedenkstätten und Mahnmale für die 900.000 Leningrader Bürger, die unter der deutschen Blockade verhungert sind? Und für die Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die in den deutschen Lagern und KZs verhungert, ermordet und durch Arbeit vernichtet wurden? Wo sind die Gedenkstätten für die Opfer der zahllosen verbrannten Dörfer? Es gibt sie nicht.

Statt sich für die Bedrohungsgefühle der sowjetischen Seite mitverantwortlich zu fühlen, haben sich die westdeutsche Kriegsgeneration und deren Politiker jahrzehntelang in eine Bedrohungshysterie hineingesteigert, die es den ehemaligen Angreifern gestattete, sich selbst als bedrohte Opfer eines jederzeit möglichen sowjetischen Überfalls zu begreifen und, im Bündnis mit der US-geführten NATO, zur Strategie der militärischen und atomaren Abschreckung ihre Zuflucht zu nehmen.

„Im kollektiven Verhalten“, schrieb hierzu der Hamburger Psychoanalytiker Carl Nedelmann, „benehmen wir uns so, als wären nicht wir es gewesen, die die Sowjetunion überfallen, an den Rand einer Niederlage gebracht und mit unsäglichem Leid überzogen haben. Die Schuld haben wir nicht auf uns genommen, sondern verdrängt, abgespalten, verschoben und projiziert. Dieser Abwehrvorgang wurde durch die Erinnerung an das Leid, das die Russen uns angetan haben, gebahnt und verfestigt. Immer noch trauen wir den Russen zu, was sie uns angetan haben, aber unbewusst bürden wir ihnen zusätzlich in projektiver Verkehrung auf, was wir ihnen angetan haben“ (6).

Eben darum kann die offizielle deutsche Politik, im Verein mit den Mainstreammedien, heute wieder bruchlos an das alte Feindbild „Sowjetunion“ beziehungsweise „Russland“ anknüpfen und ohne die geringsten moralischen Skrupel die — von Washington eingeleitete — neue Runde des Kalten Krieges und des Wettrüstens als wichtigster NATO-Partner mit vorantreiben. Was nützt unsere — so oft gepriesene — Aufarbeitung der Vergangenheit, wenn wir, was unseren Umgang mit Russland angeht, nichts aus dieser Vergangenheit gelernt zu haben scheinen?

Stehen russische Truppen etwa an der deutschen Grenze oder verhält es sich nicht vielmehr genau umgekehrt? Was hat die Bundeswehr im Baltikum verloren? Wer hat, angesichts der Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands und angesichts des letztjährigen, seit Kriegsende größten militärischen Aufmarsches der NATO im Baltikum und an der polnisch-russischen Grenze, eigentlich Grund, sich bedroht zu fühlen: Wir oder Russland?

Man muss kein Freund des Autokraten Putin und des russischen Oligarchen-Kapitalismus sein, um zu begreifen, dass ein verlässliches und nachhaltiges gesamteuropäisches Sicherheits- und Friedenssystem nur mit und unter Einbeziehung Russlands, aber nicht gegen Russland errichtet werden kann.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Diese Rede wurde gehalten zur Veranstaltung „Das Fanal von Stalingrad: Befreiung statt Vernichtungskrieg — gute Nachbarschaft zu Russland statt Feindschaft“ in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 19. Februar 2018
(2) Alle nachstehend aufgeführten Fakten und Zahlen entstammen den Studien des militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg in dem 1983 erschienenen 4. Band „Der Angriff auf die Sowjetunion“. Auf der Basis dieser wissenschaftlichen Forschungen und zahlreicher Interviews, die ich im Zuge zweier ausgedehnter Reisen durch die Sowjetunion mit sowjetischen Kriegsteilnehmern führte, entstanden auch meine beiden Bücher „Das Unternehmen Barbarossa. Die verdrängte Erblast von 1941 und die Folgen für das deutsch-sowjetische Verhältnis“, Darmstadt 1989, und „Iwan der Deutsche“, zusammen mit Rady Fish, Darmstadt 1989.
(3) SD: Sicherheitsdienst des Reichführers SS
(4) „Neue Zeit“, Außenpolitische Wochenschrift der UDSSR, Januar 1961
(5) DER SPIEGEL 29/2017
(6) Carl Nedelmann, Von deutscher Minderwertigkeit, in: Nedelmann (Hrsg), Zur Psychoanalyse der nuklearen Bedrohung, Göttingen 1987, S. 29.


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