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Die Wiedergewinnung der Langsamkeit

Die Wiedergewinnung der Langsamkeit

Wenn wir unseren allzu hektischen und zerrissenen Alltag entschleunigen wollen, brauchen wir vor allem wieder mehr Mut zur Selbstbegegnung.

Ich las vor Kurzem wieder in den Aufzeichnungen Walter Benjamins über Baudelaire — „Die Lyrik in Zeiten des Hochkapitalismus“ — und das Paris des Empire (Napoleon der Dritte). In einer Fußnote schrieb er:

„Der Fußgänger verstand, seine Nonchalance unter Umständen provokatorisch zur Schau zu tragen. Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen.“

Ohne jetzt über den Kontext nachdenken zu wollen, ist dieses Bild — nur als Bild, liebe Tierschützer — auch heute noch eine Provokation, wahrscheinlich noch eine viel ärgere als seinerzeit. Wie die Menschen wohl reagieren würden? Wahrscheinlich würden sie es als einen Zirkusakt oder eine Performance ansehen. Manche hätten Mitleid mit dem Tier und würden den Besitzer beschimpfen, manche würden die Polizei holen. Doch kaum jemand würde die Symbolik dahinter verstehen. Weil die Langsamkeit in uns kaum mehr Symbole kennt, Bilder, oder gar Handlungen, in die sie eingebettet ist.

Geschäftigkeit

Man kennt das ja. Ich frage, wie es dir geht. Die Antwort lautet immer: „Sehr gut, aber ...“ Und dann kommt die Litanei über das, was man eigentlich gerne machen würde, aber man komme nicht dazu. Die Arbeit. Man wolle ja schließlich Karriere machen, seine Brötchen verdienen, unabkömmlich sein. Überhaupt: Immer öfter bekäme man etwas Neues aufgehalst, aber man mache es halt, weil man wisse, dass niemand Neues eingestellt werden könne, man sparen müsse. Das Sparen ist der Zwilling der Geschwindigkeit. Will man dann zu einem Spaziergang einladen, kommt die Müdigkeit ins Spiel. Weißt du, ich würde ja gerne, aber ich bin zu müde, und überhaupt muss ich noch so viel vorbereiten. So viel zu tun. Oje.

Ehrgeiz

Wie wohl dies in den Menschen entsteht? Es wurde viel darüber geschrieben und philosophiert. Die christliche Religion nennt den Ehrgeiz eine Untugend. Aber das ist nicht wichtig, zumal man jemandem, der ehrgeizig ist, das hundertmal sagen kann, und er wird es trotzdem nicht verstehen. Ähnlich gilt für Narzissten und eigentlich für alle Menschen, die einen festen Plan haben, keinen losen, das ist etwas völlig anderes. Ehrgeiz macht blind. Ehrgeiz ist das Fundament des Experten. Der Ehrgeiz erzeugt die Geschäftigkeit, dadurch die Unabkömmlichkeit, dadurch permanenten Stress. Werden solche Menschen dem digitalen Kosmos ausgesetzt, verbrennen oder degenerieren sie. Die einen bekommen einen Burnout, die anderen werden, im Falle Deutschlands, Außenministerin.

Medien

Alles, was wir tun, schauen wir uns ab. Unzählige Berater versprechen ewige Gesundheit oder suggerieren, man verstünde die Welt besser, wenn man ihre Informationen beherzige. Was heute gilt, ist morgen veraltet. Ratschläge von gestern sind morgen Humbug. Ein riesiger Abgrund zwischen unserer eigenen Wahrnehmung der nächsten Nähe und dem medialen Raum ist entstanden, und wir bemerken es nicht. Würden wir uns der Geschwindigkeit einer Schildkröte anpassen, also Rücksicht auf sie nehmen, denn sie kann ja nicht anders, hätten wir eine andere Wahrnehmung. Wir hätten endlich Zeit, uns um uns und die anderen zu kümmern. Die mediale Fläche saugt uns auf, wir sind die Zombies, die wir jeden Tag auf dem Bildschirm sehen.

Hardware oder das Gerät

Erleichterung als Schein. Hier noch ein längerer Auszug aus Walter Benjamins „Baudelaire“:

„Der Komfort isoliert. Er rückt (auf der anderen Seite) seine Nutznießer dem Mechanismus näher. Mit der Erfindung des Streichholzes um die Jahrhundertmitte tritt eine Reihe von Neuerungen auf den Plan, die das eine gemeinsam haben, eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulösen. Die Entwicklung geht in vielen Bereichen vor sich; sie wird unter anderem am Telefon anschaulich, bei dem an die Stelle der stetigen Bewegung, mit der die Kurbel der älteren Apparate bedient werden wollte, das Abheben eines Hörers getreten ist. Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens und so fort wurde das Knipsen des Fotografen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Schock.“

Dieser Schock ist wichtig. Nach der Bewegung kommt das emotionale Betroffensein. Das Aufschlagen einer Zeitung, das Wischen über den Bildschirm, das Teilnehmen an sozialen Medien. Ein leichter Druck — oder ein Wischen — bringt die Menschen kontinuierlich in eine neue Schockerfahrung. Das Klicken für ein Selfie erschrickt oder erfreut einen, je nach Selbstbewusstsein. Genau diese Erfahrungen des dauernden Schreckens, der Katastrophen und persönlichen Schicksale, die von den Medien ausgeschlachtet werden, haben Suchtcharakter und entmündigen uns.

Wir sind nur noch verfügbare Masse, die durch die Medien kontrolliert wird. Ein Mittel dagegen ist die Langsamkeit, die einen Raum entstehen lässt, indem Verzicht geübt wird, sich dadurch eine individuelle Neugier entwickeln kann, sodass die Menschen wieder zueinander finden können, weil sie wirklich etwas aus ihrem eigenen Erleben zu erzählen haben und nicht über den Skandal von gestern oder den Kriegsfilm.

Software

Die größten Scharlatane unserer Zeit sind die Softwareentwickler. Ihr Argument sind die Analyse und die Vereinfachung. Es scheint den digitalen Heilsbringern wichtig zu sein, dass es keine Vergangenheit gibt, und wenn doch, wird sie als untauglich für die heutige Zeit beschrieben. Sie wollen zum Beispiel Verwaltungsvorgänge bis in die letzten Verästelungen beschreiben und analysieren.

Datenmengen entstehen, denen die Menschen ausgesetzt sind und die sie kaum bewältigen können. Das Gefühl dafür, was notwendig ist und was man getrost vernachlässigen kann, geht vollkommen verloren.

Man ignoriert, dass auch früher Firmen und Institutionen funktionierten und in ihrem Funktionieren war noch ein wenig Langsamkeit spürbar, wenn auch manchmal negativ, etwa in Bezug auf Ignoranz und schleppende Bearbeitung eines Anliegens , aber der große Freund der Langsamkeit ist das Zögern. Da fällt einem noch etwas auf, da geht man noch mal spazieren oder trinkt einen Cognac mit einem Kollegen — es gilt das generische Maskulinum! —, bevor man entscheidet. Diese Atmosphäre ist vollkommen verschwunden. Gerät man heute in die Fänge einer solchen Verwaltung, dauert es genauso lang, wenn nicht sogar viel länger, und die Mitarbeiter sind dauernd gestresst. Durch Verdichtung entsteht Schnelligkeit.

Dadurch, dass die Langsamkeit aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen ist, wird dieser verkompliziert und unnötig verklumpt, wie ich es nenne.

Also ist die Langsamkeit ein Segen? Gewiss. Jede Arbeit, in allen Bereichen, muss Räume der Langsamkeit gestatten, und die digitale Technik ist drauf und dran, diese zu zerstören.

Kontrolle

Die digitale Technik ist ein hervorragendes Werkzeug zur Kontrolle. Auf den Straßen sieht man die Bildschirme, die dir anzeigen, wenn du ein gewisses Tempo überschritten hast.Wenn es nachts gefroren hat, sagt dir der Bildschirm in deinem Auto am Morgen, dass es glatte Straßen geben könnte. In der Firma hast du genaue digitale Ablaufpläne, wie du arbeiten sollst. Von außen werden dauernd neue Kontrollmechanismen eingeführt, weil man dir nicht trauen darf. Deine eigene Wahrnehmung wird vollkommen ignoriert, sie hat keinen Wert mehr und wird nur registriert, wenn du von der Norm abweichst. Das muss dir doch auffallen, oder hast du ein so geringes Selbstwertgefühl, dass du dir das alles gefallen lässt? Bist schon ein seltsames Tier, Mensch! Zumal ja diese Kontrollen nichts nützen, denn eins ist gewiss: Der Mensch war schon immer in der Lage, Kontrollen zu unterlaufen, zu manipulieren, zu ignorieren.

Das ist einer der Unterschiede zur digitalen Technik. Der Mensch ist nicht nur ein Betrüger seiner selbst, sondern betrügt auch die anderen. Er versucht immer, zu seinem eigenen Vorteil zu handeln. Deshalb kann auch der geplante Überwachungsstaat nicht funktionieren; selbst wenn er eingeführt werden würde, endete alles entweder im Chaos oder in der Absurdität.

Erste Anzeichen kann man ja jetzt schon erkennen. All das fällt einem auf, wenn man langsamen Schrittes durch die Landschaft des Lebens geht. Da erkennt man jene, die hektisch vor sich hinstolpern und versuchen, in der Eile ihren Trost zu finden. In der Eile stolpert man viel öfter, als wenn man langsam geht.

Krankheit

Die Krankheit ist einer der letzten Rückzugsorte, um dem Wahn der Geschwindigkeit zu entgehen. Ob gewollt oder erzwungen, ist wahrscheinlich nicht klar zu benennen. Dadurch wird man auf sich selbst zurückgeworfen und verlangsamt sein Leben. Allerdings ist dies eine sehr passive Handlung, erwartet man doch das Mitgefühl der anderen, wird als schwach wahrgenommen, und das Umfeld erwartet, dass man irgendwann wieder in den Hochgeschwindigkeitszug einsteigt.

Blaise Pascal, ein französischer Mathematiker und Philosoph, schrieb in seinen „Gedanken“ Folgendes: „Wenn ich es mitunter unternommen habe, die mannigfaltige Unruhe der Menschen zu betrachten, sowohl die Gefahren wie die Mühsale, denen sie sich, sei es bei Hofe oder im Krieg, aussetzen, woraus so vielerlei Streit, Leidenschaften, kühne oder böse Handlungen und so weiter entspringen, so habe ich oft gesagt, dass alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich dass sie unfähig sind, in Ruhe alleine in ihrem Zimmer zu bleiben.“

Das Zimmer, oder die Kammer, oder auch die Wohnung, meinetwegen das Haus, sind Räume in denen die Langsamkeit geboren wird. Dort ist der erste Lernraum, um sich darin einzuüben, denn die Langsamkeit ist ein Handwerk, dass man lernen kann.

Man gehe gemäßigten Schrittes von ein Eck zum anderen und setze sich dann hin, aber es ginge auch im Stehen, gar im hin und her gehen. Man schäle eine Orange nicht, indem man ihr die Schale vom Leib reißt, sondern gewissenhaft, beobachtend, dass man ja kein Fruchtfleisch verletzt. Hat man sie dann geschält, zerteilt man sie mit ruhigen, sanften Bewegungen in ihre Einzelteile, schaut sie sich noch einmal an, bewundert die ädrige Struktur, das mal blassere, mal dunklere Orange, gar die einer Blutorange. Nimmt ein Schnitz, riecht zuerst daran, schaut noch mal zum Fenster hinaus, bemerkt das es schon Nacht ist und der Mond in seiner vollen Pracht einem die Augen glänzend macht. Rührt sich vielleicht noch einmal, wenn man sitzt, schaukelt hin und her wenn man steht, hüpft, kurz nur, um sich seinem Wohlergehen bewusst zu sein und geht man, gönnt man sich vielleicht einen Stolperschritt, nur um zu bemerken, welch ein Tölpel man eigentlich ist. Sinniert vielleicht noch über den vergangenen Tag, blinzelt, verfällt womöglich in einen kleinen Tagtraum, wacht auf, wahrscheinlich wegen eines leisen Klopfens des Partners auf die Schulter. Nur sollte man nicht vergessen die Orange auch irgendwann zu essen.


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