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Die Wirklichkeits-Macher

Die Wirklichkeits-Macher

Der Skandal um den betrügerischen Spiegel-Reporter Claas Relotius muss im Kontext eines insgesamt gestörten Verhältnisses der Presse zur Wahrheit gesehen werden.

Es sollte ein Breitwandspektakel sondergleichen werden. Die große Tragödie unserer Tage. Irgendwas in dieser Art. Detailliert diktierte Ressortleiter Matthias Geyer seinen beiden Reportern, wie die Reportage auszusehen habe.

„Wir wollen an zwei Personen die großen Konflikte erzählen, die es im Moment in der Welt gibt. Der eine Konflikt ist die große Flucht, der andere Konflikt ist die Abkehr der USA von dem, was wir unter Demokratie verstehen. Die Figur für den ersten Konflikt beschreibt Juan in dem großen Treck. Wir suchen nach einer Frau mit einem Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land. (…) Wir wollen alles von ihr wissen.

Jedes Detail ihrer Biographie, ihre Lebensumstände, ihre Ängste. (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas. Das ist einer dieser Ranger, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die Grenzen zu Mexiko in eigener Regie zu sichern. (…) Dieser Typ hat selbstverständlich Trump gewählt, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, so wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.“

Der eine Reporter war der 48-jährige Juan Moreno, ein freier Journalist, der gelegentlich für den Spiegel arbeiten durfte. Der andere hieß Claas Relotius und war der vermutlich höchstdekorierte Reporter Deutschlands. Erst 32 Jahre alt, stand er vor seiner Ernennung zum Ressortleiter. Aber irgendwann beschlichen Moreno leise Zweifel, ob Kollege Relotius genau recherchiere, bald wurden die Zweifel lauter, und Juan Moreno immer unsicherer.

„Ich glaubte zu dem Zeitpunkt nicht, dass Relotius alles erfunden hatte, ich glaubte, dass er einfach maßlos übertrieben hatte. (…) Das war mein Verdacht und mein Problem, denn mein Name stand über dem Text. (…) Ich ahnte, dass Relotius als netter Kerl galt. Aber mir war völlig unklar, wie beliebt und wie wichtig er für das Ressort war. Ich hatte mir den denkbar schlechtesten Verdächtigen ausgesucht. Ein ehemaliger *Spiegel-Chefredakteur erzählte später, dass Relotius im Gesellschaftsressort ,vergöttert‘ wurde.“*

Claas Relotius hatte weder schlecht recherchiert oder einfach übertrieben, er hatte diese Story glatt erfunden, so wie die meisten seiner Geschichten, für die er die bedeutendsten Journalistenpreise in Serie kassiert hatte, komplett erfunden waren.

Juan Moreno kommt der Verdienst zu, gegen erhebliche Widerstände seiner Vorgesetzten Relotius enttarnt zu haben. Davon handelt sein Buch „Tausend Zeilen Lüge“. Das ist Morenos große Reportage, er erzählt sie gut, sie ist spannend und glaubhaft. Moreno versteht sein Geschäft, deshalb übertreibt er auch maßlos:

„Der Journalismus ist ein anderer geworden nach Relotius. Der Fall Relotius ist einzigartig. (…) Relotius hat einen enormen Schaden angerichtet. Im Journalismus, im Blatt, menschlich.“

Nichts hat sich geändert. Man hatte sich rasch erholt. Relotius war einfach ein Betrüger, mit dem man nicht gerechnet hatte. Das Aufsichtspersonal hatte sich gründlich blamiert, doch wer wäre dem schlauen Fälscher gewachsen? Relotius hatte das System gehackt, aber er verkörpert kein System — wie Moreno im Untertitel seines Buches behauptet, allerdings ohne diesem System auf die Spur zu kommen.

Der erfinderische Reporter mag eine Beule im Image hinterlassen haben, aber die medialen Zustände hat er nicht verändert.

Die Leitung des Hamburger Magazins hat sich schnell von dem Schlag erholt und umgehend an die Spitze des Skandals gesetzt, natürlich um sie abzubrechen. Ein paar Köpfe rollten im Zeichen glühender Bekenntnisse zu den klassischen journalistischen Tugenden: Wahrheit, Objektivität et cetera. Man erinnerte an den gnadenlosen Faktencheck der weltberühmten Dokumentationsabteilung des Spiegels. So gesehen offenbarte die Größe des Skandals im Grunde die Tiefe der Tugenden. Juan Moreno macht sich diese Strategie weitgehend zu eigen.

Erstaunlich. Lange vor Relotius hatte man dem Spiegel dutzendfach erhebliche Mängel in seiner Berichterstattung nachgewiesen, haarsträubende Einseitigkeiten und „Irrtümer“, die sich mit ein bisschen bösem Willen auch als Lügen interpretieren ließen. Und hatten nicht etliche Kollegen ihren hervorragend bezahlten Arbeitsplatz aufgegeben und danach angedeutet, wie es um die journalistische Praxis des Wochenblatts tatsächlich bestellt sei? Darüber hatte die Branche meist zuverlässig geschwiegen.

Nicht Claas Relotius hat den klassischen Journalismus in Schwierigkeiten gebracht, daran hat die Zunft seit Längerem selbst gebastelt. Große Teile der Bevölkerung vertrauten längst vor Relotius den vertrauten Medien nicht mehr.

Doch der aufgeflogene Betrug bot die Gelegenheit für ein fulminantes Scheingefecht vor laufenden Kameras: Edle Medien-Ritter führten das Spektakel heiliger Wahrheitssuche auf, ließen ihre Waffen in der hell ausgeleuchteten Arena funkeln, bevor sie die Drachen der Lüge erschlugen.

Doch journalistische Wahrheit ist keine aus irgendwie gecheckten Fakten errichtete Trutzburg, sondern ein hochkomplexes Ideal. Wenn Juan Moreno sich in medialen Betrachtungen verliert, wenn er konsequent Daten, Fakten, Information, Abbildung, Darstellung, Reportage, Kommentar und Nachricht durcheinanderwirft, so vermischt, wie es in fast jeder Spiegel-Geschichte Usus ist, dann ahnt man, dass Journalisten sich in der Regel eher selten mit den Grundlagen ihres Gewerbes beschäftigen. Allerdings wäre eine Beschäftigung mit der Frage, wie man mit journalistischen Mitteln Zeugnis von der Welt ablegen kann, meist auch kaum mit den geläufigen redaktionellen Routinen vereinbar.



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