Das Schrappe-Papier
Professor Matthias Schrappe, Internist und Gesundheitsökonom, Universität Köln, hat mit einem Team erst Mitte Mai ein Thesenpapier veröffentlicht, Titel: „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren” (1). Aus dem Text:
„Da eine Epidemie jedoch nie allein ein medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar.“
Eine Feststellung, deren Umsetzung bislang in der gesamten politischen Entscheidungsfindung zu bemängeln ist.
In dem Papier werden unter anderem die Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Intensivauslastung problematisiert. Das Papier wurde von einigen Medien kritisiert. Nun kommt der Bundesrechnungshof aber zu einem ähnlichen Ergebnis und geht sogar noch über Schrappes Kritik hinaus. „Der Bundesrechnungshof hat unsere Beobachtungen bestätigt, und er geht sogar noch einen Schritt weiter“, sagt Schrappe. Er warte gespannt auf die kommenden Bilanzen der Krankenhäuser.
„Der Krankenhauskonzern Helios hat ja bereits kundgetan, dass er trotz verminderter Fallzahlen den Erlös enorm steigern konnte“, sagte Matthias Schrappe der ZDFheute. Im Zeitraum vom 16. März 2020 bis 15. Juni 2021 sind laut Bundesamt für soziale Sicherung 14,4 Milliarden Euro an Ausgleichszahlungen an die Krankenhäuser geflossen (2).
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) — als Lobbyverband der Krankenhäuser — wies alle Vorwürfe ab, dass man sich ungerechtfertigt an den Zahlungen bereichert hätte. „Von allen Fehlentscheidungen des Ministers Spahn ist dieser Umgang mit den Ausgleichszahlungen sicherlich die kostspieligste. Das toppt alles andere. Jetzt müssen wir klären, wo die Mittel geblieben sind“, sagte Professor Schrappe.
Auch das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) behauptet, stets belastbare Zahlen geliefert zu haben. Dabei kann das Intensivregister aber auch nur die gemeldeten Zahlen abbilden. Das Register wurde am 17. März 2020 aktiviert, um freie Beatmungsplätze in allen Kliniken Deutschlands registrieren und abfragen zu können. Es beruht auf einer Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin, dem Robert Koch-Institut und der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Aus der Pressemitteilung des in Berlin ansässigen DIVI-Intensivregisters: Man habe keinen Hinweis darauf, dass eine bewusste Falschmeldung der Krankenhäuser erfolgt sei.
Bundesgesundheitsministerium kann keine Zahlen für Intensivbetten nennen
Der Bundesrechnungshof wirft in seinem Bericht vom 09. Juni 2021 dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) vor, die Zahl der Intensivbetten nicht zu kennen: „(...) dass das BMG bis heute nicht in der Lage ist, die Zahl der tatsächlich aufgestellten sowie die der zusätzlich angeschafften Intensivbetten verlässlich zu ermitteln.“
Dem Bericht zufolge haben Krankenhäuser weniger freie Intensivbetten gemeldet, als tatsächlich verfügbar waren. Den Kliniken soll es dabei um die Ausgleichszahlungen gegangen sein.
Mit dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz können Krankenhäuser seit dem 18. November 2020 erneut Ausgleichszahlungen mit einer Grenze von 75 Prozent Auslastung erhalten. Wenn die Krankenhäuser weniger als 25 Prozent freie Intensivbetten-Kapazitäten haben, kommen sie in den Genuss von zusätzlichen Zahlungen. Die nachprüfbare „Kurve“ der Intensivkapazitäten weist genau zu diesem Zeitpunkt einen Abfall auf.
Der Bundesrechnungshof stellt außerdem fest, dass die Intensivkapazitäten der Krankenhäuser teils im Nachhinein korrigiert wurden. Das wäre ein weiterer Hinweis auf bewusst korrigierte Zahlen, um in den Genuss der Freihaltezahlungen zu kommen.
Außerdem wurden für zusätzliche intensivmedizinische Betten im Zeitraum vom 16. März bis zum 30. September 2020 Zahlungen von 50.000 Euro je Bett ausgeschüttet. Die Rechtsgrundlage findet sich in Paragraf 21 Absatz 5 Krankenhausfinanzierungsgesetz, siehe Bundesamt für soziale Sicherung (3). Für die zusätzlichen Intensivbetten berechneten die Krankenhäuser 686 Millionen Euro. Teilt man diese Summe durch den Betrag pro Bett, müsste es also 13.700 neue Intensivbetten in Deutschland geben — die kann der Rechnungshof aber nicht finden.
„Ein solcher Kapazitätszuwachs ist aus den vorliegenden Statistiken und Datensammlungen indes nicht abzulesen. Dies gilt auch für die im DIVI‐Intensivregister abrufbaren Zahlen“, schreiben die Rechnungsprüfer. Selbst die Tagesschau titelte schon am 16. Juli 2020: „Wo sind 7.305 Intensivbetten geblieben?“ Von einem Großteil der mit einer halben Milliarde Steuergeldern bezahlten Betten fehle jede Spur.
RKI schreibt: Daten des DIVI-Registers nicht für eine Bewertung geeignet
Das Gesundheitsministerium gab in diesem Punkt immerhin zu, von März bis Juli 2020 zu viel Geld ausgegeben zu haben. Seit November 2020 erhalten deshalb die Kliniken Ausgleichszahlungen nur noch, wenn die freien Intensivbetten in der Region weniger als 25 Prozent betragen. In dieser Regelung sieht der Rechnungshof einen gefährlichen Fehlanreiz, mit den Zahlen zu tricksen und die freien Intensivbetten künstlich nach unten zu rechnen. Deshalb schrieb das RKI am 11. Januar dieses Jahres ans Gesundheitsministerium und monierte, die an das DIVI-Register gemeldeten Daten seien „daher nicht mehr für eine Bewertung der Situation geeignet“.
Das RKI äußerte die „Vermutung, dass Krankenhäuser zum Teil weniger intensivmedizinische Behandlungsplätze meldeten, als tatsächlich vorhanden waren“. Auch Länder seien an das RKI herangetreten und hätten rückwirkend um eine Anpassung der Zahl der gemeldeten freien betreibbaren intensivmedizinischen Betten gebeten. Dabei seien Anpassungen nur für Zeiträume gefordert worden, die für die Ausgleichszahlung relevant waren.
Dieses und andere RKI-Schreiben, die weitere Klarheit bringen können, sind bislang nur im Bericht des Rechnungshofes erwähnt, sie müssen also noch öffentlich zugänglich gemacht werden. Im Bericht finden sich noch andere Zahlen: Die Bettenauslastung mit COVID-19-Patienten betrug 2020 nur 2 Prozent und die der Intensivbetten 4 Prozent. Dabei gab es im Frühjahr 2020 aber schon den ersten Lockdown.
Grafik: Bundesrechnungshof
Quelle: DIVI-Intensivregister
In der Grafik sieht man ebenso die Abnahme der freien Intensivbetten ab November 2020 und die maximale Belegung von Intensivbetten mit COVID-19-Patienten von gerade mal 25 Prozent im Januar 2021. Für Schlagzeilen wie „Nur noch 295 Intensivbetten“ in vielen „Leitmedien“ im April 2021 wird deutlich, dass die 10.000 Betten „Notfallreserve“ nie in Gebrauch gekommen sind. Diese Notfallbetten haben sich außerdem von etwa 12.000 auf 10.000 reduziert. Genauso wenig ist nachzuvollziehen, weshalb bei derartiger Panik-Berichterstattung die zusätzlichen 10.000 von Jens Spahn bei Dräger in Lübeck georderten Beatmungsgeräte bis auf 1.557 bereits gelieferte wieder storniert wurden. Die Bundesregierung musste, nebenbei bemerkt, die bereitgestellten Fertigungskapazitäten für die Geräte bezahlen (4).
Der Bericht des Bundesrechnungshofes ist auf der hauseigenen Webseite am 28. Juni 2021 veröffentlicht worden (5).
Die Zahl der freien Intensivbetten war also wohl höher als die gemeldeten Angaben. Aber neben der Inzidenz, die ohne Angabe der Anzahl von Tests oder Test-Positivenrate ebenfalls wenig Aussagekraft besitzt, wurde die Anzahl der freien Intensivbetten als Begründung für die Schwere der Coronamaßnahmen angesetzt.
# Nicht vorhandene Betten und heruntergerechnete Zahlen waren bekannt
Sowohl die nicht vorhandenen Betten als auch das Schreiben über die heruntergerechneten Zahlen waren also seit Monaten bekannt, und trotzdem wurden die Zahlen als Begründung sogar für Ausgangssperren herangezogen. Die Opposition ist zornig — die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Christine Aschenberg-Dugnus, sagte dem ZDF:
„Das finde ich schon ein ziemlich starkes Stück. Die Politik hat wie alle anderen Abgeordneten sämtliche Maßnahmen auch darauf ausgerichtet, dass wir gedacht haben, die Intensivkapazitäten seien wesentlich geringer, als sie tatsächlich waren.“
Gesundheitsminister Jens Spahn: „Das können wir alles bei der nächsten Pandemie berücksichtigen, wenn man nicht unter Zeitdruck schnell handeln muss, um Menschenleben zu retten.“
Aha, die „nächste Pandemie“, vielleicht mit noch härteren Maßnahmen — Spahn soll dieses Statement doch bitte gegenüber Menschen mit durch die Lockdown-Politik vernichteter Existenz abgeben. Die werden das ganz bestimmt einsehen.
Gewünschte Schockwirkung auf die Bevölkerung
Da muss sich doch wohl auch der härteste Vertreter strenger Lockdowns als „gesundheitsfördernder Maßnahme“ fragen: Wenn weder eine so starke Intensivauslastung gegeben ist, noch auch nur halbwegs seriöse Infektionszahlen vorliegen, warum hält man dann trotzdem an den schärfsten Maßnahmen fest? Die Fakten begründen das jedenfalls nicht.
In diesem Zusammenhang muss man noch einmal auf das COVID-19-Papier des Bundesinnenministeriums schauen — aus den Schlussfolgerungen für „offene“ Kommunikation mit der Bevölkerung (6): „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen (...)“; Szenario: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.“ Weiter: „Wenn sie (die Kinder) dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein (...).“
Da passt es doch recht gut, wenn Schlagzeilen wie „Nur noch 295 Intensivbetten, demnächst müssen Ärzte über Triage entscheiden“ gedruckt werden. Damit kann man dann Ausgangssperren rechtfertigen, nur dass dies eben nicht der Realität in Deutschland entspricht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.bmcev.de/wp-content/uploads/thesenpapier_corona_200405.pdf
(2) https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/themen/covid-19-krankenhausentlastungsgesetz/auszahlungsbetraege/
(3) https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/themen/covid-19-krankenhausentlastungsgesetz/ueberblick/
(4) https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/coronavirus/Draeger-Bund-storniert-Tausende-Beatmungsgeraete,draeger238.html
(5) https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/beratungsberichte/2021/massnahmen-des-bundes-zur-corona-bewaeltigung-im-gesundheitswesen
(6) https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19.html
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