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Die Zeitenwende

Die Zeitenwende

Deutschland steht abermals vor einer großen Wende. Dieser blickt ein Großteil der Bevölkerung jedoch nicht hoffnungsvoll entgegen. Teil 2 von 2.

Die Rede von der „Zeitenwende“

Drei Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hält Kanzler Olaf Scholz seine berüchtigte Rede zur „Zeitenwende“:

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen — aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.“

Und das ist schiere Propaganda — man sagt heute: ein Narrativ —, welche die konfliktreiche Vorgeschichte des Krieges mit einem Schlag erledigt: Nichts soll mehr gesagt werden vom geopolitischen Gezerre um die Ukraine zwischen USA, EU und NATO einerseits und Russland andererseits; nichts soll mehr gesagt werden vom Bürgerkrieg und den inneren Konflikten der Ukraine, nichts von russischen Sicherheitsinteressen angesichts drohender NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.

Das Narrativ von der Zeitenwende: Wer hat ein Interesse daran?

Das Narrativ der NATO-Staaten verlangt, dass Putin als unberechenbarer Aggressor dastehen muss. Wer unberechenbar ist und irrational, den kann man mit rationalen diplomatischen Mitteln nicht zur Umkehr zwingen. So wird dann auch gern der Vergleich mit Hitler gezogen. Eine Dämonisierung Putins und seines Regimes ist für das westliche Narrativ deshalb unverzichtbar, weil kein rational und politisch lösbares Problem in den Konflikten um die Ukraine erkennbar sein darf; so bleibt nur die militärische Unterstützung. Und natürlich muss es jetzt heißen: Russland war doch immer schon so, gewalttätig, imperialistisch und nur durch Stärke zu beeindrucken. Das ist jetzt das Narrativ. Und das heißt insbesondere für die SPD eine radikale Kehrtwende:

Dabei war ein „Markenkern“ der SPD neben dem Streben nach sozialer Sicherheit die Entspannungspolitik, die Politik des „Wandels durch Annäherung“ — nicht durch Handel, wie heute von Kritikern unterstellt wird. Diese historische Wende im Kalten Krieg hin zur Verständigungs- und Entspannungspolitik, in deren Folge die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands erst möglich wurde, ist die großartige Leistung der deutschen Sozialdemokratie! Jahrzehnte war dies auch gesellschaftlicher Konsens: Konfliktprävention, Vorrang diplomatischer Konfliktlösung vor militärischer, eine Politik der Verständigung und des Interessenausgleichs mit seinen Nachbarstaaten, besonders mit Russland. Olaf Scholz hat das mit seiner Rede von der „Zeitenwende“ kurzerhand vom Tisch gewischt.

Russlands Krieg gegen die Ukraine war nicht nur für die SPD-Führung der Anlass, nun umsetzen zu können, was schon lange vorher vorbereitet und ausgearbeitet war: Deutschland sollte eine führende Rolle in dem transatlantischen Bündnis der NATO einnehmen, um die USA in ihrem europäischen Engagement zu entlasten, damit sie sich dem Herausforderer China widmen können. Dafür braucht es eine massive Aufrüstung und natürlich einen emotionalen Moment, der die Bevölkerung aufrütteln sollte — das war die russische Aggression. Die Interessen der USA in diesem Konflikt wurden von niemandem hinterfragt.

Russland als geopolitischer Rivale der USA in Eurasien

Die Neokonservativen in den USA seit George W. Bush, die so vehement den NATO-Beitritt von Georgien und der Ukraine forderten, wollten Russland schon lange militärisch, politisch und wirtschaftlich nachhaltig ausschalten; Deutschlands Kurs der militärischen Zurückhaltung und der Kooperation mit Russland war ihnen ein Dorn im Auge.

Im „National Security Archive“ der USA gibt es eine Fülle von Dokumenten, die das Streben, Russland als Konkurrenten auszuschalten, deutlich belegen. 1991 wurde bereits diskutiert, ob mit der Auflösung der Sowjetunion nicht auch eine Ausschaltung Russlands möglich sei. 1992 wurde die sogenannte Wolfowitz-Doktrin veröffentlicht; der damalige US-Verteidigungsminister wollte erreichen, dass niemals wieder der Aufstieg einer anderen Macht neben den USA zugelassen werde. 1997 legte der Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński Überlegungen vor, wie es gelingen könnte, die einzige Weltmacht zu bleiben, durch die dauerhafte Kontrolle Eurasiens (1). Auch die permanenten deutschen Exportüberschüsse im Handel mit den USA waren aus amerikanischer Sicht ein Ärgernis, insbesondere weil die deutsche Wirtschaft einen Wettbewerbsvorteil durch günstige russische Gas- und Öllieferungen hatte, während die US-Frackinggas-Industrie am Boden war. Das änderte sich schlagartig mit der Sprengung der Nord-Stream-Pipeline.

Die Reaktion der Bundesregierung auf die Zerstörung der Pipeline war peinliches Schweigen, obwohl in ihren sicherheitspolitischen Richtlinien (Weißbuch) ein Angriff auf die Energiesicherheit und Infrastruktur Deutschlands als Verteidigungsfall ausdrücklich festgehalten war. Bis heute steht der Aufklärungswille der Regierung infrage; auch die betroffenen NATO-Staaten Schweden und Dänemark schweigen. Der schwerste Angriff auf unsere Energieversorgung und Infrastruktur wird einfach ignoriert? Keine nachhaltige Thematisierung in den Medien, kein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, keine Debatte, nichts, nur Schweigen! Das kostet wieder Vertrauen!

Transatlantische Netzwerke als politische Nebenregierung? Wie die neue deutsche Sicherheitspolitik bestimmt wurde

Kennen Sie den German Marshall Fund (GMF)? Die US-amerikanische Stiftung, 1972 von Willy Brandt gefördert, widmet sich der Förderung transatlantischer Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur und der Förderung politischer Talente. Der Hauptsitz ist in Washington, die deutsche Vertretung sitzt exklusiv am Potsdamer Platz in Berlin.

Heike Mac Kerron, die Direktorin des deutschen Ablegers des GMF, hat 2014 dem Deutschlandradio Kultur freimütig Auskunft darüber gegeben, von wem die Initiative zu dem neuen außenpolitischen Kurs der Bundesrepublik ausging — es geht um die Studie „Neue Macht — neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“, 2013 veröffentlicht. Sie erklärt das so:

„Der ursprüngliche Impetus kam nicht von hier, sondern vom Kollegen in Washington, die Kollegen dort, die viel mehr als wir hier hören (ein Verweis auf die Nachrichtendienste und den Sicherheitsapparat in den USA, Anmerkung des Autors); (fragten,) was wollt ihr denn jetzt mit eurer Außenpolitik? Dann haben wir uns überlegt, das ist interessant für die Amerikaner zu wissen, was wir eigentlich wollen, aber es ist eine sehr heikle Diskussion in Deutschland. Wir haben mit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) einen Partner gefunden, die das mit uns macht, wir haben mit 40 Leuten Unterhaltungen geführt, (…), das war eine Grundsatzunterhaltung.“

Kernaussage der Studie: Deutschland soll „die Kultur der Zurückhaltung“ endlich überwinden und die USA bei der Verteidigung „der freien und friedlichen Weltordnung“ nicht allein lassen, sondern stärker als bisher „Verantwortung“ übernehmen, notfalls auch mit militärischer Gewalt.

Dass dabei auch Militäreinsätze der NATO wie im Kosovo ohne UN-Mandat möglich sind, zum Beispiel getarnt als „humanitäre Intervention“, soll zwar von deutschen Teilnehmern kritisch diskutiert worden sein — so erinnert sich Omid Nouripour von den Grünen —, wurde aber nicht in der Studie ausgeschlossen. Die Stimmungslage in der Bevölkerung war jedoch eindeutig ablehnend. So schrieb der Spiegel 2014:

„Die Mehrheit der Bürger ist laut einer Umfrage gegen eine international größere Verantwortung Deutschlands. Genau die hatten Politiker aber zuletzt gefordert. Außenminister Steinmeier spricht nun von tiefen Gräben zwischen Volk und Politik. (…) Politik muss sich über solche Gräben hinwegbewegen, damit sie handlungsfähig bleibt.“

Und dafür braucht man Journalisten, die diese Gräben überbrücken sollen.

Damit wird deutlich: Der Impuls zu einer Politik der militärischen Intervention weltweit an der Seite der USA kam nicht aus der Bevölkerung, nicht aus dem Parlament, sondern aus US-nahen transatlantischen Netzwerken, dem GMF sowie der Stiftung Wissenschaft und Politik, und wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Kanzleramt und dem Außenministerium unter Beteiligung von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der ZEIT diskutiert. Eine transatlantische Offensive gegen den Pazifismus in der Bevölkerung gewissermaßen.

Was machen Journalisten in diesen Netzwerken?

Am 31. Januar 2014 hielt Bundespräsident Gauck auf Basis dieser Studie eine Grundsatzrede mit dem Titel „Deutschlands Rolle in der Welt“ zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz; es war das erste Mal, dass ein deutsches Staatsoberhaupt diese Aufgabe wahrnahm. Einer der Mitverfasser der Studie war der zeitweilige US-Korrespondent der ZEIT, Thomas Kleine-Brockhoff, 2007 schon aktiv im GMF in Washington; von 2013 bis 2017 diente er als Redenschreiber und Berater von Bundespräsident Joachim Gauck. Inzwischen ist er neuer Direktor des German Marshall Fund — ein Zufall? Nicht der einzige „Drehtüreffekt“ zwischen Journalismus und Politik: Steffen Seibert vom ZDF-heute-journal wurde Regierungssprecher und ist derzeit als Botschafter tätig.

Was haben Journalisten in diesen Netzwerken zu suchen? Können sie auf Dauer eine kritische Distanz zu ihnen einhalten, wie es für unabhängige journalistische Arbeit geboten ist? Gerade die Elite-Journalisten der ZEIT (Jochen Bittner) und der FAZ (Nicolas Busse), die an dieser Studie mitgewirkt haben, waren später diejenigen, die in ihren Artikeln über die neue Außenpolitik die Kernbotschaften dieser Studie verbreiteten; und so breitete sich kaskadenartig die neue Doktrin in den journalistischen Kommentaren aus, von denen sich kaum einer traute zu widersprechen.

Willy Wimmer war Staatssekretär im Verteidigungsministerium unter Helmut Kohl und bis 2009 Bundestagsabgeordneter der CDU und kennt sich mit der Presse aus: „Wer äußert sich denn gegen das, was alles am Morgen in der FAZ steht? Das ist ein Meinungskartell.“

Uwe Krüger, Medienwissenschaftler aus Leipzig, hat die Medienberichterstattung zur neuen Sicherheitspolitik genau untersucht und herausgefunden, dass die Leitmedien sich in einem ganz engen Meinungskorridor bewegten, im „Mainstream“ das neue sicherheitspolitische Konzept unterstützten. Journalisten, die „gegen den Strom“ kritisch berichten wollten, gingen „das Risiko ein, sich zu isolieren“, wer aber „die Mehrheitsmeinung hinter sich weiß und allgemein anerkannte Glaubenssätze teilt (…), muss sich wenig Sorgen um seine Reputation machen“. Zugleich förderten die Zentralredaktionen auch der Lokalzeitungen diese politische Ausrichtung. In Teilen der Bevölkerung wuchs indessen das Misstrauen gegenüber der veröffentlichten Meinung. 47 Prozent der Deutschen glaubten 2014, dass ihre Medien einseitig berichten (2).

Die Macht der Transatlantiker

„Die deutschen Journalismuseliten — am Beispiel der Jahre 2007 bis 2009 untersucht — waren vielfältig mit Eliten aus Politik und Wirtschaft verflochten. (…) Grob vereinfacht, treffen die Hauptstadtkorrespondenten und Berliner Büroleiter der Leitmedien (…) in Hintergrundkreisen auf deutsche Spitzenpolitiker (…) und Konzernchefs“ und „sind in Organisationen und Elitenzirkeln involviert, die sich mit Außen- und Sicherheitspolitik befassen und eine Schlagseite zu den USA und zur NATO aufweisen“ (3).

Wer als Journalist in diesen Netzwerken verkehrt und dort auch seine Quellen findet, wird nicht nur wenig kritisch darüber berichten, sondern auch dort entstandene gemeinsame Werte und Überzeugungen in seine Artikel einfließen lassen.

Neben dem GMF gibt es an die hundert transatlantische Netzwerke und Vereinigungen, zum Beispiel die Atlantik-Brücke, Münchner Sicherheitskonferenz, European Council on Foreign Relations, Aspen Institute, Goldman Sachs Foundation, The American Interest, Atlantic Council, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Rockefeller Foundation, Atlantische Initiative und andere. Mit diesen Netzwerken nehmen die USA Einfluss auf die Politik. Der Atlantik-Brücke gehören beziehungsweise gehörten zum Beispiel folgende Politiker an: Angela Merkel (CDU), Friedrich Merz (CDU), Friedbert Pflüger (CDU), Sigmar Gabriel (SPD), Karsten Vogt (SPD), Christian Lindner (FDP), Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Philipp Rösler (FDP), Omid Nouripour (Bündnis 90/ Die Grünen), Stefan Liebich (Die Linke) oder Wolfgang Ischinger (Münchner Sicherheitskonferenz). Hinzu kommen aus den Medien unter anderem: Claus Kleber (Moderator und Leiter der ZDF-Nachrichtenredaktion), Kai Diekmann (ehemaliger Chefredakteur für Bild und Bild am Sonntag), Josef Joffe (Herausgeber der ZEIT), Stefan Kornelius (Leiter Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung), Jan Fleischhauer (Der Spiegel) und Michael Hüther (Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft); des Weiteren Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

Hier formiert sich eine parteiübergreifende, transatlantisch orientierte politische und eine Medienelite, die maßgeblich den politischen Prozess in Deutschland bestimmen und durch „Young Leader“-Formate auch den politischen Nachwuchs gezielt fördern, wie zum Beispiel Cem Özdemir oder Annalena Baerbock von den Grünen.

So bildet sich unter tatkräftiger Mithilfe von Elite-Journalisten in den Netzwerken ein neuer militaristischer Geist heraus, der in Kriegszeiten — da stehen alle zusammen! — zu einem propagandistischen Mainstream wächst, als wäre die Presse von oben gelenkt, was natürlich viel zu simpel wäre.

Dazu noch einmal der Medienwissenschaftler Uwe Krüger:

„Meine These ist eben nicht, dass da unbeschriebene Blätter in irgendwelche Zirkel reinkommen und dass dann das Gehirn gewaschen wird, sondern dass die Personalauswahl einfach ganz natürlich vom System her stattfindet, dass Elitenzirkel nur diejenigen Journalisten kooptieren, die von vornherein schon ähnliche Werte haben, das heißt, ein transatlantischer Zirkel wird nur Journalisten einladen, die die transatlantischen Beziehungen für schützenswert erachten; dann würde ich aber behaupten, dass das Eingebundensein in diese Netzwerke die Meinungen bestärkt, das ermutigt dann vielleicht auch Journalisten, die sich im Dissens mit der Bevölkerung befinden, dagegen anzustreben“ (4).

Und das geschieht seit einiger Zeit massiv: Fehlendes Vertrauen der Bevölkerung in Politik und Medien wird durch eine transatlantisch synchronisierte Welle parteilicher Medieninhalte überflutet oder schlichter: durch Propaganda. Das wirkt auf mich wie ein stiller Putsch von oben.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) nach Verheugen, Erler: Der lange Weg zum Krieg, Seite 58 folgende.
(2) ZEIT-Online, Dezember 2014. Vergleiche Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. August 2016.
(3) Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten, Köln 2019, Seite 149 folgende.
(4) Albrecht Metzger: Transatlantische Netzwerke, 2014.

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