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Ein pädagogisches Paradoxon

Ein pädagogisches Paradoxon

Unsere Schulen müssen demokratisiert werden.

Das Recht auf Bildung, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zusätzlich in der UN-Kinderrechtskonvention seinen einflussreichsten Ausdruck fand, hat als Ziel die Emanzipation Minderjähriger, führt jedoch in der Praxis in nahezu allen Schulen zu regelmäßigen und zahlreichen Verletzungen gerade solcher Kinderrechte. Kinder werden dort normalerweise nicht, wie in der UN-Kinderrechtskonvention gefordert, als aktive und kompetente Bürger und Rechtssubjekte betrachtet, sondern vielmehr als unmündige, defizitäre Menschen, deren Mängel in den Bildungsinstitutionen behoben werden müssen (1). Zudem kritisierte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, im Februar 2006 neben diskriminierenden Mängeln im deutschen Schulsystem auch die restriktive deutsche Schulpflicht, die alternative Lernformen kriminalisiere (2).

Tatsächlich wird die Schulpflicht aber oft aus der UN-Kinderrechtskonvention abgeleitet. Bei genauerer Betrachtung der entsprechenden Artikel wird deutlich, dass der zwingende Charakter von Bildung dort in direktem Zusammenhang mit ihrer Eigenschaft als Recht steht, ohne einer logischen Begründung, warum aus einem Recht plötzlich eine Pflicht folgen sollte. Es erscheint wie ein seltsamer Denkfehler, der zu der paradoxen Situation führt, dass ein Menschenrecht zugleich zu einer Pflicht des Trägers dieses Rechtes wird. Eigentlich steht einer Pflicht immer ein Recht gegenüber. Das heißt, man erbringt eine Pflicht für jemanden, der ein Recht darauf hat. Sonderbarerweise sind die beiden Personen in diesem Fall allerdings identisch (3).

Es gibt eine doppelte Antinomie

In vielen Ländern, in besonderem Maße in Deutschland, ist die „befreiende Pflicht“ zur Bildung deckungsgleich mit der Pflicht, sich in die Institution Schule einzufügen, um die Weitergabe dieser notwendigen Bildung zu gewährleisten.

Damit Kindern kritisches Denken und demokratische Prinzipien vermittelt werden, versetzt man sie folglich durch die Schulpflicht in eine Situation, in der sie einer Autorität gehorchen müssen und ihre Grundrechte in erheblichem Maße beschnitten werden, also genau das vorgegeben ist, was durch diese Begriffe ausgeschlossen wird. Damit in direktem Zusammenhang steht außerdem das Dilemma, dass die angestrebte Mündigkeit der Schüler eben nicht vermittelt werden kann, sondern sich entwickeln muss. Der entsprechende Lerninhalt ist kein Wissen, sondern eine Erkenntnis. Es entsteht also eine doppelte Antinomie, bei der einerseits der Lehrende zielgerichtet handelt, er aber zugleich unwissend über die genauen Folgen seines Vorgehens ist, und andererseits die Autonomie der Schüler in einem Kontext von Restriktionen und Reglementierungen gefördert werden muss, in dem sie sich nicht freiwillig befinden.

Es gibt zwei entgegengesetzte Handlungsalternativen an den extremen Enden des Spektrums der Möglichkeiten, um mit dieser Situation umzugehen: Entweder man bleibt passiv und hofft darauf, dass die erwünschten Einsichten irgendwann von selbst eintreten werden, oder man formuliert normative Grundsätze und setzt diese als absolut. Beides ist problematisch, da einmal einer mehr oder weniger willkürlichen Sozialisation die Verantwortung überlassen wird, und im anderen Fall über die Sinnhaftigkeit bestimmter gesellschaftlicher Regeln nicht durch die vernünftige Entscheidung des Individuums geurteilt wird (4).

Kann Schule überhaupt eine positive erzieherische Wirkung haben?

Natürlich kann man einwenden, dass die Erfolgsaussichten von Erziehung nicht völlig unkalkulierbar sind und man im Unterricht durchaus einigermaßen präzise an das Denkvermögen und die Einsichtsfähigkeit der Lernenden appellieren kann, ohne davon ausgehen zu müssen, dass das gesamte Unterfangen völlig ins Leere laufen wird. Doch wer entscheidet letztendlich über die Qualität der Ergebnisse schulischer Einflüsse? Die Lehrperson? Das Kollegium? Der Schulrat? Die Studienergebnisse der Erziehungswissenschaftler? Oder doch diejenigen, deren Bestes von allen Beteiligten angeblich gewollt wird? Deren Urteil ist jedoch in den meisten Fällen alles andere als schmeichelhaft.

Auch wenn Schule heute Humanität und Toleranz anstrebt und als eine sinnvolle Ordnung und hilfreiche Unterstützung dienen soll, sehen die von ihren Auswirkungen unmittelbar Betroffenen generell diese Einrichtung mit Desinteresse bis Ablehnung.

Es stellt sich, bei all diesen Hindernissen und Widersprüchlichkeiten, ganz grundlegend die Frage, ob Schule in ihrer aktuellen Form überhaupt in irgendeiner Art und Weise eine positive erzieherische Wirkung entfalten kann (5).

An diesen Zweifel anschließend, muss man folgerichtig auch die Sinnhaftigkeit der Schulpflicht überdenken, die ja einen Erziehungsauftrag erfüllen soll. Erziehung ist dabei im modernen Sinne gemeint, nämlich, dass sie Menschen urteilsfähig werden lassen soll und damit für das Recht konstitutiv ist (4). Die darin zum Ausdruck kommende tautologische Natur der Schulpflicht liegt in ihrer Eigenart begründet, ein Recht auf Bildung zu sein, das per definitionem optional ist, aber zu dessen Aufkündigung niemand autorisiert ist, bis es vollständig ausgeübt wurde und man damit, zumindest theoretisch, ein mündiger Bürger ist. Doch selbst wenn man das zirkelhafte Wesen dieser Argumentation akzeptiert, sollte das Recht der betroffenen Subjekte, angehört zu werden, dennoch Beachtung finden (3).

Der Wille des Kindes muss ernst genommen werden

Das Recht auf Gehör ist auch in Artikel 12 — und damit verbunden in den Artikeln 13, 14, 15 und 16 — der UN-Kinderrechtskonvention ausformuliert und stellt einen deutlichen Perspektivenwechsel dar: vom Kind als Objekt und schutzbedürftigen Wesen, das auf die Fürsorge von Erwachsenen angewiesen ist, hin zu einem Subjekt mit dem Recht auf Respektierung der eigenen Meinung. Die Partizipationsrechte in den genannten Artikeln sind nicht nur einfach mit kindlichen Bedürfnissen begründet, sondern mit der Vorstellung, dass Kinder spezielle Interessen haben, die sie selbst erkennen und vertreten können. Ein authentischer Wille des Kindes muss nicht erst bewiesen werden, er wird vorausgesetzt und muss ernst genommen werden. Genauso wie sich Erwachsene gekränkt fühlen, wenn ihre Wünsche ignoriert werden, so werden auch die Gefühle von Kindern verletzt, wenn man sie nicht beachtet (4).

Ganz ähnlich werden auch die Interessen und die natürliche Neugierde von Schülern durch die Schulpflicht disqualifiziert. Die Unzulänglichkeit des zwangsverordneten Schulbesuchs wird besonders deutlich an der Unfähigkeit des Unterrichts, systematisch zwischen opportunistischen Strebern und ihren wirklich wissbegierigen Klassenkameraden zu unterscheiden. Das hat nicht selten zur Folge, dass eigentlich lernfreudige Schüler aus Trotz und zur Abgrenzung ihre Anstrengung mindern und in Opposition zu den Lehrkräften treten. Zudem sind die Themen und Lernaufgaben des Unterrichts meist ein Abarbeiten des Curriculums und entstehen nicht organisch. Die Schulpflicht macht die Schule daher zu einer disziplinarischen Anstalt im Geiste von Arbeitshäusern, auch wenn das im Einzelnen eine durchaus sanfte und wohlwollende Gestalt annehmen kann (6).

Macht man sich klar, dass Schulbildung, wie erwähnt, ein Recht ist, das nur deshalb zur Pflicht wird, weil es für seinen Träger nicht möglich ist, darauf zu verzichten, so wird die Absurdität dieser Situation noch offensichtlicher.

Es sollte selbstverständlich sein, dass es viel eher die Aufgabe des Staates ist, die Interessen der Lernenden zu berücksichtigen, die ihr Recht in Anspruch nehmen, als die Unterstützung von Zielen der Gesamtgesellschaft oder von Bedürfnissen der Unternehmen (3).

Kinder gelten nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft

Dieses Spannungsverhältnis besteht seit den Anfängen der modernen Pädagogik. Die Schulpflicht, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts sukzessive aus den Notwendigkeiten der Industrialisierung und der demokratisierten Nationalstaatsbildung entwickelte, sollte sicherstellen, dass die Arbeiter und Bürger über die sozial erforderlichen Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen verfügen sowie minimal abstraktionsfähig und informiert sind (6). Der Theologe und Pädagoge Peter Villaume ging zu dieser Zeit sogar so weit zu sagen, dass „die Gesellschaft ein unwidersprechliches, heiliges Recht“ habe, dass die Menschen ihre Selbstvervollkommnung zugunsten ihrer standesbezogenen Brauchbarkeit opfern, um ein „Rad in einer großen Maschine“ zu werden, und es sei die Aufgabe der Erziehung, dies zu gewährleisten (7).

Heute steht hingegen offiziell die Mündigkeit der Schüler im Mittelpunkt der Bemühungen von Bildungseinrichtungen. De facto wird allerdings immer noch davon ausgegangen, dass Minderjährige nur zu akzeptablen Mitgliedern der Gesellschaft werden, wenn Erwachsene sie instruieren und kontrollieren.

Ihre Mitbestimmung beschränkt sich zumeist auf die formale Beteiligung im Rahmen der Schülermitverwaltung (1). Inwieweit Kinder eine aktive Rolle in der Formulierung und Durchsetzung ihrer Rechte spielen können, wird jedoch kaum diskutiert. Es ist offensichtlich, dass die Entwicklung zu einer vollen Bürgerschaft von Kindern durch ihren marginalisierten Status unterminiert wird: Sie gelten heute, wie in früheren Zeiten Frauen und manche ethnischen Minderheiten, als ungeeignet, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Folglich wird in der Literatur über Kinderrechte immer wieder betont, dass Kinder und Jugendliche ein tiefes Gefühl von Machtlosigkeit und Ausschluss empfinden.

Der Sozialwissenschaftler Manfred Liebel schlägt als Abhilfe vor, dass Kinder in der Schule nicht erst befähigt werden sollten, vollwertige Bürger zu werden, sondern dass der Lernprozess der Kinder darin besteht, sich ihrer Wichtigkeit und ihres eigenen Beitrags zum gesellschaftlichen Leben bewusst zu werden. Es geht um den Aufbau von Solidargemeinschaften und die Einforderung von Teilhabe und Mitverantwortung. Kinder müssen die Möglichkeit haben, eigene gruppenspezifische Interessen geltend machen zu können, auch wenn diese von den Erwartungen und Sichtweisen der Erwachsenen abweichen.

Vergangene Bemühungen zur Demokratisierung der Schule sind gescheitert

Diese Ansätze kamen mit der Idee der „Schulgemeinden“ in den 1920er Jahren bereits auf. In solchen pädagogischen Einrichtungen waren die Kinder und die Erzieher gleichberechtigt und es gab ein gemeinsames Entscheidungsrecht aller. Das Konzept war nicht als Spiel für die Kinder gedacht, in dem Demokratie bloß simuliert wird, sondern es gab ihnen die Möglichkeit, ihre eigenen Vorstellungen erfolgreich umzusetzen und solidarisches Handeln zu erleben. In den 1960er Jahren wurden diese Gedanken wieder von der Schülerbewegung aufgegriffen (8). Diese heute weitgehend in Vergessenheit geratene Protestbewegung sah Schüler als rechtlose, unterdrückte und von undemokratischen Instanzen abhängige Gruppe. Gefordert wurde: „Mitbestimmung in allen die Schüler bestimmenden Angelegenheiten, in Zeugnis- und Versetzungskonferenzen — in der Fächerbewertung, der Lehrplangestaltung und Lehrmittelauswahl“ (9).

Die Ansätze und Forderungen dieser und ähnlicher Bemühungen um eine Demokratisierung der Schule sind weitestgehend an der Macht des bestehenden Systems gescheitert. Ihre Motivation ist jedoch nachvollziehbar und auch im Hinblick auf die vielbeschworene Erziehung zur Mündigkeit erstrebenswert, denn es ist einfacher, in einer partizipativen Umgebung die Vorzüge eigenständigen Denkens zu begreifen als in einengenden Verhältnissen. Insbesondere da aus dem Recht auf Bildung durch den erwähnten sophistischen Kunstgriff eine Einschränkung der Freiheit abgeleitet wird, wäre es durchaus angebracht, ein Mitbestimmungsrecht derjenigen zu etablieren, die hiervon in erheblichem Maße betroffen sind. Die Konsequenzen aus der juristischen Einordnung der Bildung als einem reinen Recht, und nicht einer Pflicht, sind enorm. Die Anerkennung dieser Schlussfolgerung würde der Leichtfertigkeit, mit der Regierungen und Schulen über Lehrpläne und Vorschriften entscheiden, ohne den Willen der Schüler zu berücksichtigen, ein Ende bereiten (3). Das wäre eine begrüßenswerte Entwicklung und ein Schritt hin zu einer für alle Beteiligten respektvolleren und harmonischeren Beziehung.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Maywald, Jörg 2016: 25 Jahre UN-Kinderrechtskonvention. Der Kinderrechtsansatz in der Schule. In: Krappmann, Lothar/Petry, Christian (Hrsg.): Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben. Kinderrechte, Demokratie und Schule: Ein Manifest. Schwalbach/Ts.: Debus Pädagogik Verlag/Wochenschau Verlag, 57-69.

(2) https://www.pressreader.com/germany/neues-deutschland/20170909/282136406566984

(3) https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/00071005.2021.2024136

(4) Ammann, Kira 2020: Kinderrechte und Bildsamkeit. Ein kritisches Plädoyer aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

(5) Göppel, Rolf 2011: Schule und Erziehung — Ein kompliziertes Verhältnis. In: Göppel, Rolf/Rihm, Thomas/Strittmatter-Haubold, Veronika (Hrsg.): Muss — kann — darf die Schule erziehen? Heidelberg: Mattes Verlag, 9-17.

(6) Oevermann, Ulrich 2003: Brauchen wir heute noch eine gesetzliche Schulpflicht und welches wären die Vorzüge ihrer Abschaffung? In: Pädagogische Korrespondenz, 2003, 30, 54-70.

(7) Helsper, Werner 2004: Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. In: Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Einführungskurs Erziehungswissenschaft I. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 15-34.

(8) Liebel, Manfred 2007: Bürgerschaft von unten — Kinderrechte und soziale Bewegungen von Kindern. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2(1), 83-99.

(9) Schildt, Axel 2003: Nachwuchs für die Rebellion — die Schülerbewegung der späten 60er Jahre. In: Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 229-251.


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