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Ein sehr seltsamer Triumph

Ein sehr seltsamer Triumph

Julian Assange wirkte bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seit der Inhaftierung angeschlagen, aber nicht gebrochen.

Am Ende von Julian Assanges Aussage vor dem Rechtsausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) erhoben sich 95 Prozent der 220 im Saal Anwesenden zu stehenden Ovationen.

Die Zuhörerschaft bestand aus Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung, die delegierte Mitglieder ihrer nationalen Parlamente aus ganz Europa sind. Zudem waren darunter auch Mitglieder des gesamten europäischen politischen Spektrums — darunter auch der dominierenden Parteien — vertreten.

Unter den Zuhörern befanden sich auch Mitarbeiter und Experten des Europarates sowie weltweiter Medien. Beachtenswert war — und ich habe noch nie so etwas erlebt —, dass die etwa 100 Medienvertreter auch alle aufstanden und sich an dem Applaus beteiligten. Ich muss betonen, dass dies größtenteils nicht die alternativen Medien waren, sondern die alten Medien in ihrer ganzen Pracht.

Als ich hinaufschaute, sah ich sogar, dass man hinter dem Glas der Dolmetscherkabinen ebenfalls stand und applaudierte.

Die Würde und Klarheit von Julians vorbereiteter Stellungnahme und die schonungslose Ehrlichkeit seines Vortrags riefen diese Reaktion hervor, gepaart mit dem Mitgefühl für einen Mann, der seit Jahren zu Unrecht extreme Härte und Entbehrungen zu erleiden hatte.

Ich hoffe, es war ein wertvoller und bekräftigender Moment für Julian, den er so sehr verdient hatte.

Ich muss jedoch zugeben, dass ich zu den applaudierenden Medien hinübersah und mir dachte, wie Julian über ein Jahrzehnt hindurch verleumdet und diffamiert und sein Fall völlig falsch dargestellt worden war. Ich erinnerte mich daran, wie er jahrelang fälschlich als Triebtäter und Verrückter, der Exkremente an die Wände schmierte, dargestellt wurde.

Nun ja … „Die Freude im Himmel ist größer über einen Sünder, der Buße tut“. Wenn die Mainstream-Medien nun bereit sind, positiv über Julians Gedanken zu berichten, wie es bei dieser Veranstaltung ja weitgehend geschehen ist, wird das eine gute Sache sein.

Seine Worte zur Ermordung von Journalisten in Gaza und zur Programmierung von Zielen in Gaza mithilfe von KI waren ein ausgezeichneter Hinweis darauf, in welche Richtung sich seine Gedanken bewegen.

Ich war auch sehr betroffen über Julians Gesundheitszustand. Ich möchte seine extrem gute Leistung und den Erfolg, den er hatte und verdiente, in keiner Weise schmälern, aber die Hinweise darauf, dass er noch nicht vollständig wiederhergestellt war, waren für mich sehr offensichtlich. Seine körperliche Genesung scheint abgeschlossen; er war fit und nicht mehr aufgedunsen wie im Gefängnis. Nach jahrelanger Isolation braucht das Gehirn jedoch länger, um angemessen auf Reize zu reagieren.

Das alte Funkeln und das Feuer waren noch nicht ganz wieder da. Seine Stimme variierte kaum in Tonfall und -höhe, die Vortragsweise war leicht stockend. Er beantwortete Fragen angemessen und überlegt, aber es fehlte an Schlagfertigkeit und manchmal schien er den Kern einer Frage nicht erfasst zu haben.

Als ihm die deutsche Abgeordnete Sevim Dagdelen — eine langjährige Freundin und unerschrockene Kämpferin für ihn — eine Frage stellte, erkannte er sie offensichtlich nicht und erklärte, zu müde zu sein, um fortzufahren.

Ich kenne Jetlag sehr gut — dies war keiner.

Ich bin auch mit den Auswirkungen der Einzelhaft gut vertraut, nachdem ich diese vier Monate lang selbst erlebt habe. Julian hat siebzehn Mal mehr ertragen, nach acht Jahren in der Botschaft und dazu dem extremen Druck, nicht zu wissen, ob und wann es je enden würde. Erinnern wir uns daran, dass Julians Behandlung einer jahrelangen Folter gleichkam, wie Professor Nils Melzer, Sonderberichterstatter der UN für Folter, berichtet hatte und wie es nun vom Europarat bestätigt wurde.

Julian selbst erklärte zu Beginn seines Vortrags, dass „die Jahre der Isolation ihren Tribut gefordert haben“. In einer anschließenden Pressekonferenz erklärte Stella, ohne Julians Privatsphäre zu verletzen, dass seine Wiederherstellung noch lange nicht abgeschlossen sei.

Ich hoffe, dass die Unterstützung des Europarats Julians Stimmung einen starken Auftrieb verliehen hat, ich hoffe aber auch, dass er sich nun wieder auf eine Genesung konzentrieren wird und nicht zu schnell wieder in öffentliche Angelegenheiten eintaucht.

Ich sehe, dass vonseiten derjenigen Druck ausgeübt wird, die Julian aus den besten Motiven heraus in diesem entscheidenden Moment der Krise — nicht nur eines bewaffneten Konflikts, sondern einer Krise der Werte und Überzeugungen, die durch Technologien noch verschärft wird — in verschiedene Angelegenheiten hineinziehen wollen.

Julian deutete an, dass seine zukünftigen Hauptinteressen in der KI, Kryptologie und Neurotechnologie sowie deren Einsatz und Missbrauch liegen könnten. In der ohne Julian stattfindenden Pressekonferenz sagte Kristinn Hrafnsson, Chefredakteur von WikiLeaks, dass man sich mit der Zukunft von WikiLeaks und Julians Rolle darin auseinandersetzen würde, dass er jedoch erst ein paar Wochen wieder frei sei und man mehr Zeit brauche, um große Entscheidungen zu treffen.

Ich bin sicher, dass dies richtig ist und verstehen Sie bitte diesen Artikel als Bitte an alle, Julian in Ruhe zu lassen und ihm mehr Zeit zu geben — so viel, wie er möchte —, um vollständig zu genesen. Er ist ein Mensch — keine Sache oder ein Prinzip.

Nun möchte ich gerne anmerken, dass meine eigenen 14 Jahre im Kampf für die Befreiung Julians nun zu Ende sind. Dies war ein triumphaler Abschluss. Hier halte ich — wesentlich jünger— am Tag seines Betretens der ecuadorianischen Botschaft eine Rede vor derselben.

Und hier mehr als ein Jahrzehnt später meine Rede nach seiner letzten Auslieferungs-Berufungsverhandlung vor dem High Court.

Dazwischen lag ein langer, harter Weg, der mich durch die ganze Welt führte und mich dazu brachte, so viele wundervolle Aktivisten zu treffen und so viele wunderbare neue Freunde zu gewinnen, von denen jeder einzelne zu dem Klima beitrug, das schließlich zu Julians Freilassung führte.

Julians vollständige Rede und die anschließende Fragestunde sind hier zu sehen.

Der Europarat ist der Großvater der europäischen Institutionen. Er ist weder die Europäische Union noch die Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa. Das Mandat des Europarats besteht darin, Demokratie und Menschenrechte zu fördern. Er war ebenfalls ein wichtiges Instrument der Entspannung, wenngleich Russland kürzlich aus Protest gegen die Heuchelei bei den Zielen des Rates ausgetreten ist.

Der Europarat hat — anders als die Europäische Union — keine wirtschaftliche Funktion. Auch ist die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) im Gegensatz zum Europäischen Parlament der EU, das in Zusammenarbeit mit dem Rat und der Kommission Gesetze erlässt, kein gesetzgebendes Organ. Sie wird auch nicht direkt gewählt.

Nationale Parlamente der Mitgliedsstaaten des Europarates entsenden aus ihren eigenen Reihen Delegierte in die PACE. Diese besteht also aus nationalen Abgeordneten.

Im Falle des Vereinigten Königreichs sind mehrere von ihnen Mitglieder des House of Lords. So kam es zu der Besonderheit, dass dem Rechtsausschuss, vor dem Julian erschien — in einem europäischen Organ, das sich der Förderung der Demokratie verschrieben hat — ein britischer Politiker vorsaß, den niemand je gewählt hatte: Lord Richard Keen, ein schottischer Tory.

In der anschließenden Debatte wurde eine Resolution verabschiedet, die ausdrücklich anerkennt, dass Julian Assange ein politischer Gefangener war. Einzig in diesem Aspekt von Bericht und Resolution versuchten die Atlantiker, ein Rückzugsgefecht zu starten. Dagegen unternahmen sie keinen Versuch, die Teilaspekte bezüglich Meinungs- und Informationsfreiheit, US-Kriegsverbrechen, dem Beenden der Straffreiheit, dem Schutz von Informanten, dem Missbrauch von gerichtlichen Verfahren oder der entsetzlichen Bedingungen von Julians Inhaftierung zu entfernen. Aber den Ausdruck „politischer Gefangener“ versuchten sie zu streichen.

Dies gelang ihnen nicht. Nur die extremen Atlantiker — vor allem von der British Conservative Party und der polnischen Recht und Gerechtigkeit — stimmten für entsprechende Anpassungen. Bei der Schlussabstimmung der Resolution konnten sie nur 13 Stimmen aufbringen gegen 88 Ja-Stimmen.

Der Grund dafür, dass ALDE (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa) und EVP (Europäische Volkspartei) die Resolution bei der PACE unterstützen, während ihre Kollegen im Europäischen Parlament ein solches Vorgehen blockierten, liegt darin, dass Parteiführungen die PACE viel weniger kontrollieren. Deshalb konnte man einen Untersuchungsausschuss einrichten, dessen isländischer Berichterstatter einen hervorragenden Bericht erstellte.

Ich sprach mit drei Mitgliedern des Ausschusses, die mir alle erzählten, sie seien darüber schockiert, wie sehr die wahren Fakten von der Berichterstattung der Medien abwichen.

Im Gegensatz dazu lehnte es das Europäische Parlament ab, sich überhaupt mit dem Fall Julian Assange auseinanderzusetzen und sowohl ALDE als auch EVP haben sich schlicht geweigert, ihn auch nur in internen Sitzungen zu diskutierten.

Dieser PACE-Bericht verfügt über keine Durchsetzungskraft, kann jedoch die Wahrnehmung deutlich verändern. So hatten beispielsweise der PACE-Bericht und die Resolution zu Folter und außerordentlicher Auslieferung, bei denen ich selbst als Zeuge ausgesagt habe, erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche und politische Meinung und darauf, die Medien dazu zu bringen, diese Ereignisse als Tatsachen zu akzeptieren.

Die Resolutionen der PACE sind für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, einem Organ des Europarates, von Interesse. Wir haben von Julian unter anderem erfahren, dass sein Deal Bestimmungen dagegen enthält, sich wegen seiner Behandlung an den EGMR zu wenden sowie Anträge auf Informationsfreiheit zu stellen.

Ich vermute, dass es einen Mechanismus in den USA gibt, der im Falle einer Zuwiderhandlung gegen diese Bestimmungen eine Wiederaufnahme der Strafverfolgung oder zumindest Strafzumessung ermöglicht. Ich sehe jedoch nicht, wie dies in Europa gegen ihn durchgesetzt werden könnte.

Der EGMR wird nicht akzeptieren, dass das Anfechtungsrecht bei Grundrechten in einer unter Zwang abgegebenen Vereinbarung aufgegeben werden kann; und ich kann es mir selbst beim Vereinigten Königreich nicht vorstellen, dass es jemanden an die USA ausliefert, weil er sich an den EGMR gewandt hat.

Das schient undenkbar.

Es mag wichtig sein, dass sich unter Assanges seltsam großem Gefolge auch die belgischen und französischen Anwälte befanden, die für den Fall einer Auslieferungsanordnung durch die britischen Gerichte gezielt mit der Vorbereitung seiner Berufung beim EGMR betraut worden waren. Wir dürfen gespannt sein …

Bemerkenswert ist auch, dass PACE für die regelmäßige Überprüfung seiner Menschenrechtsbilanz ab dem nächsten Jahr Schweden ausgewählt hat. Diejenigen, die die Auswahl verantworten, haben es gezielt vorgeschlagen, damit ein Bericht erstellt werden kann, der sich intensiv mit dem ungewöhnlichen Gebräu aus Anschuldigungen sexueller Übergriffe gegen Assange und deren Missbrauch durch die Behörden auseinandersetzt, wie es Nils Melzer in seinem bemerkenswerten Buch genau beschreibt. Auch hier dürfen wir gespannt sein …


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „A Very Peculiar Triumph“ auf dem Blog von Craig Murray. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.


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