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Eine unendliche Geschichte

Eine unendliche Geschichte

Seit Jahrhunderten wird Gewalt damit gerechtfertigt, dass man behauptet, der Gegner habe diese „verdient“ — besser ist es, zu fragen, wohin die eigenen Taten führen werden.

Gerade habe ich eine verzweifelte Nachricht von einem palästinensischen Freund erhalten.

Er schrieb:

„Ich versuche alles Mögliche und Unmögliche, um herauszufinden, wie ich meiner Familie helfen kann, aus dem Gazastreifen herauszukommen … Sie sind jetzt seit 3 Wochen nicht mehr in ihrem Heim, sondern im Süden von Gaza. Sie leben seither mit weiteren 50 Menschen in einem kleinen Haus ohne Wasser und Strom. Es gibt nur Wasser aus Flaschen. Am Wochenende werden die Lebensmittelvorräte zur Neige gehen.“

Die Familienmitglieder meines Freundes sind alle Christen. Keine Hamas-Unterstützer. Sie sind der Kollateralschaden eines sehr hässlichen Kriegs. Diese Geschichte wurde schon hunderttausend Mal erzählt.

Es ist entsetzlich, was im Laufe des letzten Monats geschehen ist. Ohne zu wissen, was ich als Nächstes sagen werde, ist jeder bereit, dem zuzustimmen. Egal auf welcher Seite der Gazastreifen-Frage jemand steht.

Darüber, was jetzt im Einzelnen entsetzlich ist, haben unterschiedliche Menschen unterschiedliche Ansichten. Es ist entsetzlich, dass pro-palästinensische Studenten-Organisationen die Hamas-Angriffe gefeiert haben, bei denen Hunderte unschuldiger Zivilisten, inklusive Babys in ihren Bettchen, ermordet, gefoltert und entführt wurden. Und dass die Universitäten nichts getan haben, um den wachsenden Antisemitismus einzudämmen. Es ist entsetzlich, dass vier- oder fünftausend Kinder aus Gaza bei den Bombenangriffen getötet wurden, bei denen sogar Krankenwagen ins Ziel genommen wurden, die Patienten nach Süd-Gaza evakuierten, während Siedler im Westjordanland tagtäglich unschuldige Palästinenser ermorden und die Armee tatenlos dabei zusieht.

 Falsche Gleichsetzung! Wie kann Eisenstein nur diese beiden Dinge im selben Atemzug nennen? Das darf man doch nicht als gleichwertig hinstellen! Weiß er denn nicht, dass die eine Seite völlig unentschuldbar ist, während die andere sehr nachvollziehbar und sogar gerechtfertigt handelt, wenn man den richtigen historischen Zusammenhang herstellt?

Äh — aber welche ist jetzt welche?

Die allermeisten Argumente in dieser Debatte, die ganze Bewegungen zerreißt und weite Teile der Kommentarspalten unwirtlich werden lässt, drehen sich um die Frage, was gerechtfertigt ist, was unentschuldbar ist, wer zu verurteilen ist, welche Seite im Recht und welche im Unrecht ist. Trotz eines Monats aufreibender gegenseitiger Beschimpfungen sind beide Seiten einer Verständigung anscheinend kein bisschen nähergekommen. Tatsächlich wird es Woche für Woche schlimmer: Die andere Seite ist stur und dickköpfig wie eh und je, moralisch auf beiden Augen blind und komplett resistent gegenüber allen unbequemen Tatsachen. Frieden wird unmöglich, wenn man solchen Ungeheuern gegenübersteht. Wir bekämpfen den Inbegriff des Bösen.

So hört sich die Rhetorik in dieser Frage an. Ich übertreibe nicht.

Ich wurde gefragt, warum ich die Hamas nicht verurteile. Und warum ich Israel nicht verurteile. Aus einer Mentalität der Verurteilung ist es einfach, einen Fall zu konstruieren, bei dem eine oder beide Seiten verurteilt werden müssten. Für Millionen auf jeder Seite scheint der Fall für ihre eigene Sache unanfechtbar.

Aber ich verurteile nicht, denn es sind die Grundannahmen und die Geisteshaltung des Verurteilens, die uns auf ewig auf dem grässlichen Karussell des Gemetzels auf dieser Erde festhalten.

Es gibt etwas, das mir wichtiger ist als die Guten gewinnen zu sehen und die Bösen bestraft. Ich will, dass das Gemetzel aufhört. Es bedeutet nicht, dass ich Israelis und Palästinenser bei diesem Konflikt für gleichstarke Parteien halte. Ich verstehe die Dynamik von Unterdrücker und Unterdrückten, die sich hier abspielt. Aber ich werde nicht sagen, „die Palästinenser haben ein Recht auf bewaffneten Widerstand“, genauso wenig werde ich sagen, „Israel hat ein Recht, die Terroristen auszurotten“. Genauso wenig sage ich, dass sie dazu kein Recht haben. Stattdessen steige ich ganz aus dieser Diskussion aus. Die Schlacht um richtig und falsch, um Sollen und Dürfen, überlasse anderen. Und nein, ich sage nicht, dass diese Konzepte „falsch“ sind. Ein Gespräch auf dieser Basis kann das Gelobte Land allerdings nicht erreichen.

Ich sehe es der Leserin nach, wenn sie zum Schluss kommt, dass zu einem Zeitpunkt, wo Tausende von Kindern ermordet werden, kein Platz für ausgefeilte philosophische Feinheiten sei. Wird es nicht viel leichter ein Ende nehmen, wenn ich es einfach als falsch bezeichne? Nun, da bin ich mir nicht so sicher. Ich glaube sehr wohl, dass es wichtig ist, alle Aspekte der Situation sichtbar zu machen. Denn wenn wir herausfinden wollen, wie wir die Bedingungen ändern können, die sie hervorgebracht haben, müssen wir möglichst viel verstehen. Würde es irgendetwas nützen, der Information eine moralische Erklärung überzustülpen?

Meiner Meinung nach schadet das in Wirklichkeit. Deshalb mache ich es jetzt, wo Tausende Kinder ermordet werden, zum Thema. Es gibt einen Ausweg. Ich habe in vorhergehenden Essays darüber geschrieben.

Solange wir damit beschäftigt sind zu rechtfertigen und zu verurteilen, stärken wir das entsprechende Bewusstseinsfeld und dessen Grundannahmen. Wir verstärken den Impuls, Gewalt anzuwenden, solange sie gerechtfertigt scheint.

Aber stell dir vor: Im Krieg denkt jeder, dass die Gewalt auf seiner Seite gerechtfertigt sei. Sogar Adolf Hitler glaubte, dass die Auslöschung der Juden gerechtfertigt wäre. Die Nazis hatten lauter ausgefeilte Argumente – eingebettet in Begriffe der Wissenschaft und Vernunft, an hohe Ideale von Vaterlandsliebe und Fortschritt appellierend – für die Notwendigkeit des Abscheulichsten, was je in der Menschheitsgeschichte vorgefallen ist.

George Orwell betont diesen Punkt auf krasse Weise in 1984. Hier rekrutiert O'Brien Winston für die revolutionäre Bruderschaft zum Sturz der Partei.

„Sie sind bereit, Morde zu begehen?“

„Ja.“

„Sabotageakte zu verüben, die vielleicht den Tod von Hunderten unschuldiger Menschen herbeiführen?“

„Ja.“

„Ihr Land an fremde Mächte zu verraten?“

„Ja.“

„Sie sind bereit, zu betrügen, zu fälschen, zu erpressen, Kinder zu korrumpieren, Drogen in Umlauf zu bringen, zur Prostitution zu animieren, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten — kurz: alles zu tun, was zur Demoralisierung beiträgt und die Macht der Partei schwächt?“

„Ja.“

„Wenn es beispielsweise unseren Interessen dienlich wäre, einem Kind Schwefelsäure ins Gesicht zu schütten — wären Sie dazu bereit?“

„Ja.“

Die Partei ist das reine Böse; daher ist keine Tat böse, wenn sie dazu dient, die Partei zu stürzen. Inbrünstiger Glaube an die eigene Rechtschaffenheit reicht völlig aus, damit eine Person — oder eine Nation — Gräueltaten begehen kann.

Es gibt eine Menge Leute in Israel und Palästina, die inbrünstig an ihre eigene Rechtschaffenheit glauben. Wenn sie dem Rechtfertigungsprinzip folgen, das Orwell da ausbreitet, können wir uns auf eine Menge mehr Gräueltaten gefasst machen.

Wie sollen wir dann entscheiden, was wir tun, wenn wir uns nicht davon leiten lassen, was richtig und falsch ist? Eine Möglichkeit liegt darin, einem gewünschten Ziel entsprechend zu entscheiden.

Sagen wir, das Ziel ist Frieden. Sagen wir, das Ziel ist die Beendigung des Teufelskreises der Gräueltaten. Sagen wir, das Ziel ist, dass die Menschen im Heiligen Land ohne Angst vor einander leben können. Dann ist es nicht mehr die Frage, was gerechtfertigt ist, sondern, was dem Ziel dient.

Es könnte natürlich sein, dass Handlungen, die den eigenen Vorstellungen von Rechtschaffenheit dienen, auch dem Frieden dienen. Aber es wird immer irgendwann der Punkt kommen, wo man die Wahl hat. Wenn alle weiterhin die Gewalt wählen, die sie für gerechtfertigt halten, wird sie niemals ein Ende nehmen.

Wenn wir die Rechtfertigungen für Gewalt und Rache loslassen, können wir anfangen andere Ziele zu verfolgen. Frieden zum Beispiel. Sie werden nicht leicht zu erreichen sein. Aber wir werden sie erreichen, wenn wir es versuchen. Wir werden einen Weg finden. Wir werden jeden Schritt erkennen, sobald er ansteht. Wenn es tatsächlich das ist, wonach wir streben.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „A Story Told a Hundred Thousand Times“ auf dem Blog von Charles Eisenstein. Er wurde von Ingrid Suprayan ins Deutsche übersetzt, von Christoph Peterseil korrekturgelesen und auf dem deutschen Ableger des Blogs unter dem Titel „Eine hundert Mal erzählte Geschichte“ zweitveröffentlicht.


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