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Entfremdete Kampfgefährten

Entfremdete Kampfgefährten

In Westdeutschland gingen in den 1970er-Jahren linke Intellektuelle noch in die Betriebe, um die Arbeiterschaft wachzurütteln.

Seit einigen Jahren gibt es eine Debatte darüber, warum die Linke keinen Kontakt mehr zur Arbeiterklasse hat. Diese Debatte ist meist akademisch. Aber warum werden die realen Arbeiterkämpfe in Deutschland ausgeblendet? Offenbar passen sie nicht in die modernen Theorien. Warum redet man nicht über den Kampf der Amazon-Arbeiter in Bad Hersfeld und Leipzig, die am 14. Mai 2013 als erste Amazon-Belegschaften weltweit in den Streik traten, oder über den Streik der Lokführer 2015? Es war der längste Streik, den es je bei der Bahn gab, und er war erfolgreich.

Vergessen sind auch die Erfahrungen der linken Intellektuellen, die in den 1970er-Jahren in die Betriebe gingen, Gewerkschaftsgruppen aufbauten und bei Betriebsrats- und Jugendvertreterwahlen Erfolg hatten.

Es waren junge Leute wie Christian Krähling. Er kam 2009 nach dem Abitur und einem abgebrochenen Studium zu Amazon, wo er den jahrelangen Kampf für einen Tarifvertrag und Lohnerhöhungen organisierte. Krähling starb am 10. Dezember 2020 im Alter von 43 Jahren.

Der Weg zur Arbeit

An einem grauen Novembermorgen im Jahre 1974 standen Arbeiter und Angestellte in meist dunklen Jacken und Mänteln auf dem Ponton des Schiffsanlegers „Teufelsbrück“ in Hamburg-Othmarschen. Sie warteten auf ein Fährschiff, das sie auf die Südseite der Elbe zur Flugzeugwerft „Messerschmidt-Bölkow-Blohm“ (MBB) — heute „Airbus“ — bringen sollte.

Es war noch ziemlich dunkel und der Himmel grau. Eine feuchte Kälte kroch unter die Jacken der Arbeiter. Aus dem Grau näherte sich ein weißes Fährschiff. Mit einem dumpfen Rumms legte es an. Im Nu füllte sich die Fähre mit Menschen. Nur wenige sprachen miteinander. Der Gang zur Arbeit ist nicht unbedingt die schönste Etappe des Tages. Die Passagiere blickten über das kalte Wasser in die Ferne. Nur die Möwen, die das Fährschiff mit spitzen Schreien umflogen, erinnerten daran, dass das Leben eine aufregende Sache ist.

Unter den Passagieren war damals auch Uwe (Name geändert). Als er 1974 seine Lehre bei MBB als Flugzeugbauer begann, war er 20 Jahre alt.

Ich sitze mit Uwe im „Engel“, einem beliebten Ausflugsrestaurant, das auf dem Schiffsanleger an der Elbe seinen Platz hat. Von dem Restaurant hat man einen guten Blick auf die Produktionshallen von Airbus auf der anderen Elbseite.

Uwe erzählt, sein Vater habe gewollt, dass er eine Lehre bei einer Bank oder eine kaufmännische Ausbildung macht, damit er dann später in der väterlichen Handelsfirma einsteigen kann. Doch Uwe wollte nicht in die Fußstapfen des Vaters treten. Er war Fan von Che Guevara und Rory Gallagher. Seine lockigen Haare trug er wie der Blues-Musiker lang. Einen Schlips tragen und auf die Feste der Hamburger Gutverdiener gehen, das war ihm ein Graus.

Statt Kunststudium in die Verpackungsabteilung

In einen Betrieb zu gehen war in den 1970er-Jahren ein Trend unter linken Jugendlichen. Das hing zusammen mit dem enormen Vertrauensverlust der politischen Elite und der Suche nach radikalen, neuen Wegen. Der Vietnamkrieg, die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit Diktatoren wie dem Schah des Iran, die Notstandsgesetze, die nicht aufgearbeitete NS-Vergangenheit, die Gefahr eines neuen Faschismus, die Hetze gegen alles Linke, die Sowjetunion und die DDR: Das alles waren für aufgeweckte Jugendliche damals Gründe, der herrschenden Klasse zu misstrauen.

Angehende Lehrer und Oberschüler, die Physik studieren wollten, Realschüler, die am liebsten Kunst oder Geschichte studiert hätten, gingen aus freien Stücken an Fließbänder, Werkbänke und in Verpackungsabteilungen. Der Gang in den Betrieb war damals etwas ganz Normales. Und es war damals leicht, einen Arbeitsplatz zu finden.

Nachdem es in Deutschland 1969 und 1971 das erste Mal „wilde Streiks“ gegeben hatte — das heißt Streiks, die nicht von einer Gewerkschaft organisiert wurden —, keimte in der neuen Linken die Hoffnung, die Arbeiterklasse würde sich allmählich aus dem Korsett der Sozialpartnerschaft befreien und so radikal werden wie die Kollegen in Italien und Frankreich, die damals häufig „wild“ streikten.

Die wilden Streiks in Deutschland waren damals auch der Zündfunke für die Gründung zahlreicher kommunistischer Parteien, die radikaler auftraten als die 1968 gegründete Deutsche Kommunistische Partei (DKP). In Hamburg entstand 1971 aus dem Zusammenschluss von „Sozialistisches Arbeiter- und Lehrlingszentrum“ und „Kommunistischer Arbeiterbund“ der Kommunistische Bund (KB). In seiner Hochphase 1977 hatte der KB bundesweit mit seinen „Bündnisorganisationen“ im Schüler- und Studentenbereich 2.500 Mitglieder. Nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende der DDR löste sich der KB auf.

Wenn schon links, dann richtig

Manche Jugendliche, die sich Ende der 1960er und Anfang der 1970er politisiert hatten, gingen zu den Jusos oder zur DKP. Aber Uwe fand, das seien halbe Sachen. Wenn schon links, dann schon zu den Kommunisten, die ein kritisches Verhältnis zur Sowjetunion haben, die Sowjetunion aber nicht — wie der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) und die Kommunistische Partei Deutschlands-Aufbauorganisation (KPD-AO) — mit den USA gleichsetzten. Uwe organisierte sich im Kommunistischen Bund.

Mit seiner Politik in den Betrieben war der Kommunistische Bund zunächst erfolgreich. Bei den Betriebsratswahlen 1975 wurden 100 Mitglieder und Sympathisanten des KB gewählt, ermittelte Michael Steffen in seiner Dissertation über die Geschichte des KB, die 2002 als Buch unter dem Titel „Geschichten vom Trüffelschwein“ erschien.

Es gab aber auch zahlreiche andere Linke, die „in die Betriebe gingen“ und bei Betriebsratswahlen Erfolge hatten. Dazu gehört die „Plakat-Gruppe“ bei Daimler-Benz Untertürkheim, die von dem ehemaligen KPD-Mitglied Willi Hoss geführt wurde. Die Plakat-Gruppe erreichte bei den Betriebsratswahlen 1978 mit einer eigenen Liste 39 Prozent der Stimmen.

Bundesweit bekannt wurde auch die 1972 gegründete „Gruppe oppositioneller Gewerkschafter“ — später umbenannt in „Gewerkschafter ohne Grenzen“ — bei Opel Bochum, die mit mehreren Kollegen im Betriebsrat vertreten war und im Oktober 2004 eine Betriebsbesetzung gegen die geplante Schließung des Opel-Werkes organisierte.

Ausbildungsleitung und Betriebsrat überrumpelt

Doch zurück zu Uwe. Nachdem er die Probezeit überstanden hatte, wurde er aktiv. Zusammen mit anderen jungen Kommunisten gründete er eine gewerkschaftliche Jugendgruppe. Bei MBB — einem Unternehmen mit damals 4.000 Mitarbeitern, davon 200 Lehrlinge — gab es damals keine gewerkschaftliche Jugendgruppe.

Uwe und seine Genossen luden ihre Arbeitskollegen zu Treffen in eine Kneipe ein, nicht weit von der Flugzeugwerft. Auf den Treffen wurde ein Programm für die anstehenden Jugendvertreterwahlen ausgearbeitet. Man forderte bessere Lichtverhältnisse an den Werkbänken, eine bessere Belüftung der Lehrwerkstatt, ein preislich ermäßigtes Mittagessen und Duschgelegenheiten.

Im Betriebsrat hatten SPD-Mitglieder das Sagen. Der Betriebsratsvorsitzende, Heinz Henk, saß für die SPD in der Hamburger Bürgerschaft. Die Tätigkeit der neu gegründeten gewerkschaftlichen Jugendgruppe betrachteten die Betriebsräte, von denen die meisten Mitglieder der IG Metall waren, mit Argwohn. Die jungen Leute hatten einfach auf eigene Faust losgelegt und weder den Betriebsrat noch die IG Metall vorher informiert.

Der Betriebsrat wusste nicht, was er machen sollte. Nur die Ausbildungsleitung wurde aktiv. Sie organisierte kurz vor den Wahlen zur Jugendvertretung für die 200 MBB-Lehrlinge die arbeitgeberfreundliche Liste „Flekz“. Der Name wurde gebildet aus den Anfangsbuchstaben der Ausbildungsberufe: Flugzeugbauer, Elektroniker, kaufmännische Auszubildende und Zeichner.

Doch diese Initiative kam zu spät. Bei den Jugendvertreterwahlen im Herbst 1974 wurden drei Linke und zwei Vertreter der „Flekz“-Gruppe in die Jugendvertretung gewählt.

Graue Militärflugzeuge aus der Nazizeit

Wie sah es auf der Flugzeugwerft eigentlich aus? Das Gelände war riesig. Es gab eine Startbahn für Flugzeuge und zahlreiche Produktionshallen, in denen wegen der mit Luftdruck betriebenen Niethämmer ein ziemlicher Lärm herrschte.

In Halle Nr. 2, der sogenannten Teileschlosserei, fertigten Arbeiter im Akkord Einzelteile für den Airbus. Die Aluminiumbleche wurden in einem Lösungsbad „vorgeglüht“ und dann mit Hämmern und Kantmaschinen in eine bestimmte Form gebracht. Auf dem Werftgelände gab es auch eine große Maschinenhalle, in der computergesteuerte Fräsen aus dicken Aluminiumblöcken tragende Teile für den Airbus fertigten.

Die riesigen Produktionshallen, in denen an salatgrünen Flugzeugrümpfen gebaut wurde, wirkten luftig. Ganz anders wirkten die schmucklosen, langgestreckten Verwaltungsgebäude der Werft aus rot-braunem Klinker. Beim Anblick dieser in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre gebauten Gebäude dachte Uwe unwillkürlich an den Faschismus.

Uwes Ahnung, dass die Flugzeugwerft eine üble Geschichte hat, bestätigte sich, als er einmal neugierig in das Foyer des Hauptgebäudes ging. Dort sah er graue Flugzeugmodelle, die auf der Werft während des Zweiten Weltkrieges gebaut worden waren. Die Modelle standen in einem Kasten aus Plexiglas. Für diese Mordmaschinen schämte sich die Unternehmensleitung damals nicht.

Uwe erzählt, dass der Hamburger Industrielle Walter Blohm nur drei Monate nach dem Machtantritt von Hitler beschloss, nicht nur Schiffe, sondern auch Flugzeuge zu bauen. Blohm wollte von den Aufrüstungsplänen der Luftwaffe profitieren, weshalb er im Juni 1933 die „Hamburger Flugzeugbau GmbH“ gründete. Man baute 297 Exemplare des dreimotorigen Seeaufklärers BV 138, 855 Leitwerke für den düsengetriebenen Jagdbomber Messerschmitt 262 und lenkbare Gleitbomben vom Typ BV 246, die aus 10.000 Meter Höhe abgeworfen wurden.

Nach der Zerschlagung des Hitler-Faschismus wurde der Hamburger Flugzeugbau — später umbenannt in Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) — von der britischen Besatzungsmacht demontiert. Doch 1954 ging die Militärproduktion auf dem Gelände in Hamburg-Finkenwerder mit einer Lizenz-Fertigung des französischen Transportflugzeuges Noratlas wieder los. Ab 1965 wurde das militärische Transportflugzeug Transall gebaut. Von den 169 Maschinen der ersten Serie gingen 90 an die deutsche Luftwaffe, 50 an Frankreich, 20 an die Türkei und — entgegen allen Dementis — neun an Südafrika, wo damals ein Apartheid-System herrschte (1).

Verbesserungen ja, Sozialismus eher nein

Zurück zu der im Herbst 1974 gewählten neuen Jugendvertretung bei MBB. Kaum waren die linken Jugendvertreter im Amt, kam es auf einer Lehrlingsversammlung zum Eklat. Die Ausbildungsleitung verließ demonstrativ eine Lehrlingsversammlung. Betriebsräte blieben und lasen aus einem Artikel im Rebell, der Jugendzeitung des KB, vor. In dem Artikel wurde die Arbeit der Jugendvertretung gelobt. Die Vertreter des Betriebsrates forderten von den linken Jugendvertretern, sich von dem Artikel zu distanzieren, andernfalls müsse man die Jugendvertreter von der Teilnahme an den Betriebsratssitzungen ausschließen.

Doch das war noch nicht alles. Zwei der drei linken Jugendvertreter bekamen von der Ortsverwaltung der IG Metall einen Brief, in dem sie aufgefordert wurden, sich von einem Bericht im Metallarbeiter, einer Betriebszeitung des KB für MBB, zu distanzieren. Der Bericht enthalte „massive Verunglimpfungen der IG Metall und bestimmter Funktionäre“.

Der ständige Stress im Betrieb schlug Uwe auf den Magen. Einmal musste er sich direkt vor der Lehrwerkstatt übergeben. Uwe tat so, als ob nichts Besonderes geschehen wäre. Gesehen hat es wohl niemand. Für Uwe war klar: Klein beigeben wollte er nicht.

Der Betriebsrat und die Ausbildungsleitung arbeiteten Hand in Hand. Einer der drei linken Jugendvertreter hielt dem Trommelfeuer nicht stand. Er trat von seinem Amt zurück. Ein Vertreter der unternehmerfreundlichen „Flekz“-Gruppe rückte nach. So verloren die Linken ihre Mehrheit in der Jugendvertretung.

Der zunehmende Druck auf die Linken hatte aber auch noch einen anderen Effekt. Nicht wenige Lehrlinge waren beeindruckt vom Mut ihrer Interessensvertreter. Und einige wollten sogar den Rebell kaufen, um sich selbst ein Bild zu machen. Uwe hatte deshalb, wenn er in der Lehrwerkstatt Dienst in der Werkzeugausgabe hatte, immer ein paar Exemplare der Jugendzeitung unter dem Ausgabetisch liegen. Vertrauenswürdigen Kollegen wurde die Zeitung zugeschoben. Der Käufer zahlte und ließ das Blatt dann schnell in seinem froschgrünen Arbeitsanzug verschwinden.

Nein, dass die Lehrlinge nun begannen, sich — wie von den Linken erhofft — für den Sozialismus zu interessieren, war nicht der Fall. Doch man ließ nicht locker. Immer wieder wurden Kollegen auf linke Kulturveranstaltungen in die Hamburger Uni eingeladen.

„Pueblo unido“ — Geeintes Volk

Der Kommunistische Bund war damals an der Organisation von Wohltätigkeitskonzerten zugunsten des kollektiv organisierten Hamburger Kinderhauses beteiligt. Bei den Veranstaltungen traten im großen Hörsaal der Hamburger Uni bekannte Künstler wie Konstantin Wecker, der Kabarettist Henning Venske und die österreichische Folk-Gruppe Schmetterlinge auf.

Als die chilenische Musikgruppe Karaxú nach dem Militärputsch in Chile die Hymne der Revolutionären Linken (MIR) vortrug, sangen 2.000 begeisterte Zuhörer den Refrain „Trabachadores al poder“ (Arbeiter an die Macht). Und kaum war das Lied zu Ende, riefen die Leute „Hoch die internationale Solidarität“, und Fäuste wurden rhythmisch nach oben gestreckt.

Begeisterungsstürme gab es auch, als die österreichische Folk-Gruppe Schmetterlinge ihr Lied „Jalava“ vortrug. Es handelt von Lenin, der im April 1917 als Heizer verkleidet auf einer Lokomotive über die finnisch-russische Grenze nach Petrograd fuhr.

„Jalava, Jalava, du Finne, was lachst du so gegen den Wind?
Ich lache, weil meine Sinne alle beisammen sind
und weil wir weiterkamen und weil die Welt sich dreht
und weil mein Heizer von Flammen und Dampfkesseln was versteht.“

Auf den Konzerten verflogen die Beschwernisse des Fabrikalltags. Und auch die Horrorgeschichten der Bild-Zeitung über angebliche linke Unterstützer der Rote-Armee-Fraktion und die „Gräuel der SED-Kommunisten“ an der Berliner Mauer waren für ein paar Stunden vergessen.

Als radikaler Linker fühlte man sich damals wie ein Mitglied einer weltweiten Familie von Revolutionären, erzählt Uwe.

Aus Vietnam, Afrika und Lateinamerika kamen Nachrichten über die Vertreibung von Imperialisten und Kolonialisten. Und selbst in Europa züngelten die Flammen der Revolution. Im April 1974 stürzte eine Gruppe von 300 linken Offiziere der portugiesischen „Bewegung der Streitkräfte“ den Diktator Marcelo Caetano. Die Offiziere, die ihre Panzer mit roten Nelken schmückten, machten dem portugiesischen Kolonialismus ein Ende. Im Hamburger Audimax trug der portugiesische Sänger José Afonso die langsam-getragene Hymne der Nelkenrevolution vor, „Grândola, Vila Morena“. Die Stimmung war feierlich.

Tausende Arbeiteraugen

Auf Schulungen mit Lenin-Texten hatte Uwe gelernt, dass man das Bewusstsein der Arbeiter heben muss. Und als auf der Sitzung der Betriebszelle des KB die Redebeiträge für die nächste Betriebsversammlung bei MBB verteilt wurden, übernahm er — ohne zu zögern — den Redebeitrag zu Franz Josef Strauß. Der war nicht nur Aufsichtsratsvorsitzender von Airbus Industrie. Er wollte seine CSU als bundesweite „vierte Partei“ ausbauen. Das konnte nicht unwidersprochen bleiben.

Einige Tage später war es so weit. Uwe war ziemlich aufgeregt. Schließlich kam er dran. Er erklomm die Stufen zum Podium, stellte sich hinter das Rednerpult und sah vor sich Tausende Arbeiteraugen. Nein, so entschlossen wie Lenin fühlte er sich nicht. „April-Thesen“ hatte er nicht vorzutragen. Die Gesichter der Arbeiter guckten neugierig zu ihm hinauf. Uwe musste sich konzentrieren. Die Augen der Arbeiter verschwammen, und er hielt seine Rede. Eine „vierte Partei“ als Sammelbecken von Nationalisten, Revanchisten und Gewerkschaftsfeinden sei eine bedrohliche Sache. Das könne man nicht zulassen.

Ob es Applaus gab, daran erinnert sich Uwe nicht. Aber das war für ihn nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war, dass er Strauß demaskiert hatte.

Doch dann gab es eine Episode, die hat Uwe nicht vergessen. Als er von der Rednertribüne stieg und an den Ausbildern in ihren grauen Kitteln vorbeimusste, sagte einer der Meister laut: „Und solche Leute besetzen hier die Lehrplätze.“ Dabei guckte er sehr grimmig.

Gejagt von der Polizei des Zaren

In den 1970er-Jahren habe man sich fast gefühlt wie ein Bolschewist während der Zarenzeit, erzählt Uwe. Ein Verbot von K-Gruppen war damals möglich gewesen. Das „Leitende Gremium“ des KB empfahl den Genossen als Freizeitlektüre einen Roman von Iwan Popow, „Als die Nacht verging“. Der Roman schildert den Kampf der Bolschewiki im Untergrund, immer auf der Flucht vor der zaristischen Geheimpolizei.

Die Disziplin im KB war streng. Uwe erinnert sich, wie er einen Genossen aus einer Arbeiterfamilie zur Rede stellte, warum er am Wochenende auf die Ostsee zum Segeln fahren und nicht an einer Schulung teilnehmen wollte. Regelmäßig gab es Schulungen, vor allem mit Lenin-Texten, aber auch mit Analysen von KB-Autoren.

Doch das war noch nicht alles an Aufgaben. Die KB-Zeitung Arbeiterkampf musste Korrektur gelesen werden. Und am Wochenende mussten die Genossen aus den Betrieben in norddeutsche Städte fahren, um dort den Arbeiterkampf zu verkaufen. Man fuhr in andere Städte, damit man nicht zufällig Arbeitskollegen traf.

Für Hobbys — womöglich noch unpolitische wie Tanzen, Malen oder Musik — oder sich einfach mal ein Wochenende ausruhen war fast keine Zeit. Und das war einer der Gründe, warum der KB nicht lange durchhielt. Man war zu kurzatmig drauf.

Die Repressionsschraube

Die kämpferische Zeit des Betriebskampfes in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre endete mit einer Niederlage. Linke Lehrlinge bei MBB wurden nach der Ausbildung nicht in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen. Ältere linke Kollegen wurden im Rahmen „betriebsbedingter“ Kündigungen an die frische Luft gesetzt.

Doch das war noch nicht alles. Zwei linke Jugendvertreter bei MBB wurden 1974 aus der IG Metall ausgeschlossen. Grundlage war ein vom Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) am 1. Oktober 1973 gefasster „Unvereinbarkeitsbeschluss“, der sich gegen die Tätigkeit von Mitgliedern der K-Gruppen in den Gewerkschaften richtete. Anlass für die Ausschlüsse war meist die Kandidatur auf oppositionellen — als von den Gewerkschaftsführern nicht abgesegneten — Listen zu den Betriebsrats- oder Jugendvertreterwahlen.

Waren wir zu ungestüm, zu kompromisslos gewesen?, fragt sich Uwe heute. Dass die Betriebsleitungen mit hartem Besen gegen die Linken vorgehen würden, war doch eigentlich abzusehen. Doch für diesen Fall hatte man nicht vorgeplant. Man hatte gehofft, Arbeiter und Arbeiterinnen würden über kurz oder lang aktiv werden. Die Ideologie der Sozialpartnerschaft aber war fester in den Köpfen der Beschäftigten verankert, als es sich die jungen Linken vorstellen konnten.

Der Arbeiterkampf, die Zeitung des KB, hatte immer vor der Illusion einer schnellen Linkswendung in Westdeutschland — wie sie etwa der KBW voraussagte — gewarnt. Die KB-Mitglieder fühlten sich „klüger“ als die Genossen vom KBW und lachten sogar über sie. Doch das half nur wenig. Die Enttäuschungen im Betriebskampf waren eine kalte Dusche.

Aber der Kampf ging weiter. Die KB-Mitglieder fanden neue Betätigungsfelder in der Anti-AKW-, der Frauen-, der Anti-NPD- und der alternativ-grünen Wahlbewegung. Auf die „Bunte Liste — Wehrt Euch“, die 1978 bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen 3,5 Prozent der Stimmen erreichte und zwei Kandidaten auf der Bezirksebene durchbrachte, waren die Genossen und Genossinnen mächtig stolz.

„Resozialisierung“ in den 1980er-Jahren

Nicht wenige KB-Mitglieder blieben nach der Repressionswelle in den Betrieben. Sie blieben Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute. Einige gingen ihren Weg auch weiter als Gewerkschaftssekretäre. Inzwischen war man klüger geworden. Seine revolutionäre Vergangenheit verschwieg man.

Nachdem der Kampf in den Betrieben gescheitert war, gingen viele ehemalige Aktivisten zurück ins „bürgerliche Leben“. Es begann eine Phase der „Resozialisierung“.

Nach einer Zeit, die Elemente eines Bürgerkrieges hatte, musste man wieder lernen, mit „der anderen Seite“ zu reden. Man suchte das Gespräch nicht mehr von der angreifenden, revolutionären Position aus, sondern von der Position desjenigen, der bereit ist, sich an der Demokratisierung der Gesellschaft zu beteiligen.

Der bürgerliche Staat und die Unternehmen ihrerseits zeigten sich offen für ehemalige Revolutionäre. Man musste nicht unbedingt reumütig sein. Es reichte, wenn man auf politische Betätigung verzichtete. Man durfte das an Ideen und kreativem Potenzial einbringen, worauf Konservative nicht kamen: Müllvermeidung, die Integration von „schwierigen“ Jugendlichen und die Gleichstellung der Geschlechter im Arbeitsleben.

Ob er die Betriebsarbeit und seine zwanzig Jahre im KB bereue? Nein, meint Uwe. Wenn er heute in den Flugblättern und Betriebszeitungen des KB blättere, finde er vieles, was er heute noch genauso schreiben würde. Er sei froh, dass er dabei war. Und dann fällt ihm ein Zitat von Brecht ein: „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.“


Bild

Fähranleger Hamburg-Teufelsbrück. Auf der anderen Elbseite die Produktionshallen von Airbus, Foto Ulrich Heyden 2019


Quellen und Anmerkungen:

(1) Hans Walden: „Wie geschmiert — Rüstungsproduktion und Waffenhandel im Raum Hamburg“, 1998, https://www.nadir.org/nadir/initiativ/ikrg/buch/register/m009.htm

Von Ulrich Heyden erschien 2020 das Buch „Wie Deutschland gespalten wurde. Die Politik der KPD 1945 bis 1951“. Verlag tredition, 445 Seiten, Paperback 19,99 Euro, https://tredition.de/autoren/ulrich-heyden-30935/wie-deutschland-gespalten-wurde-paperback-138954/


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