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Gegen die Unmündigkeit

Gegen die Unmündigkeit

Aufklärung und menschliche Reife setzen die Fähigkeit zum Ungehorsam gegen Autoritären voraus. Exklusivabdruck aus „Der Kult“.

Franz Kafkas Der Prozess ist vor allem die Geschichte eines undurchsichtigen Rechtssystems, das den Josef K. auf undurchschaubare Weise unterdrückt. Am Ende wird das Urteil vollstreckt und K. rechtskräftig erstochen. Der Roman liest sich wie eine düstere Allegorie auf die Bürokratisierung der modernen Gesellschaft, deren überbordendes Versicherungswesen, in dem Kafka beruflich zu Hause war, die Verwaltbarkeit und Planbarkeit der Menschen, deren „Sicherheit nur durch ihre Dummheit möglich“ (Kafka) ist, ebenso drastisch erhöhte wie den Zugriff der juristischen und staatlichen Verwaltung.

„Vor diesem Hintergrund zeigt ‚Der Prozess‘ in schmerzhafter Deutlichkeit, welche Gefahren in einem blinden, technokratischen Vertrauen in das Recht lauern. Kein Recht ist vor den Menschen da. Das Recht wird immer von Menschen gemacht, ja, sie müssen es machen: Überlassen sie dieses Handeln nämlich den anderen, dann sind die Menschen auch gezwungen, sich dem Recht der anderen zu unterwerfen“ (Christoph Braun.

All dieser Prozesse der Anonymität einer übermächtigen Verwaltungs- und Planungsmacht und unserer eigenen Ohnmacht, die wir innerlich zerrissen wie K. teilweise als unsere eigene Schuld verbuchen — Prozesse, durch die „die Lüge zur Weltordnung“ (Kafka) gemacht wird und die also nicht erst seit gestern, aber seit gestern so schnell vor unser aller Augen ablaufen —, sollten wir uns bewusst sein. Wir sind nicht die Ersten, die sich zu ihnen verhalten müssen.

Aber wir sollten uns zu ihnen verhalten, das heißt eine informierte Entscheidung treffen, so weit sie uns noch möglich ist. Das Tragen der Maske ist da nur eine Vorstufe, ein Test und ein Symbol dafür, ob du der aufgeklärte Bürger bist, den ein demokratischer Rechtsstaat braucht, oder ob du dich im Zustand der Unmündigkeit befindest.

Unmündigkeit, sagt Immanuel Kant, ist „(…) das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn ihre Ursache nicht am Mangel des Verstandes, sondern am Mangel des Entschlusses und am Mangel des Mutes liegt, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘“

Und in weiser Voraussicht schreibt er uns Heutigen ins Stammbuch:

„Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“

Wie die Mündigkeit, von der Kant spricht, heute aussehen könnte und was Strategien gegen den Kult sein könnten, das ist ein Thema, für das es sich lohnt, weitere Bücher, ja ganze Bibliotheken zu schreiben — weswegen hier auch nur vorläufige Anregungen skizziert werden sollen. Letztendlich muss eigenverantwortliche Mündigkeit gegen den Kult aber gelebt werden, und die individuelle Ausgestaltung dieser Eigenverantwortlichkeit kann einem niemand, kein Buch und keine Impfung, abnehmen.

Gegen die Spaltung

Eine freie Gesellschaft besteht immer aus zwei Sphären: der der Individualität und Differenz sowie der des Zusammenhalts und der Solidarität. Eine freiheitlich-demokratische Politik muss immer zwischen diesen beiden Sphären vermitteln. Recht auf freie Entfaltung hier, Solidarität da.

Die pluralistische Gesellschaft kann als Staat und Gemeinwesen nur dann existieren, wenn es eine Sphäre gibt, in der ihre Angehörigen nicht als Vertreter verschiedener fremder und feindlicher Glaubensstandpunkte zusammentreffen, sondern als Menschen, die der gleichen Kultur entstammen und den gleichen sozialen und individuellen Problemen gegenüberstehen.

Ob man nun der Meinung ist, dass eine Maske hilft und ein Zeichen von Solidarität ist, und man sie tragen möchte, weil sie für einen wenig schädliche Nebenwirkungen hat, oder nicht — auch das ist nämlich Solidarität: in einer Sphäre mit den Vertretern verschiedener feindlicher Glaubensstandpunkte zusammenkommen und mit ihnen im Gespräch bleiben. Auch das ist gesellschaftlicher Zusammenhalt, auch das ist Bindung. Solidarität zweiter Ordnung sozusagen. Diese Solidarität versteht sich durchaus nicht von selbst. Es ist ein langwieriger und schwieriger Prozess, eine langsame Entwicklung, die wir der langsamen Entwicklung in den Abgrund entgegenstellen müssen.

Gegen den Gehorsam

„Der Mensch hat sich durch Taten des Ungehorsams weiterentwickelt. Nicht allein war seine geistige Entwicklung nur möglich, weil es Menschen gab, die es wagten, Nein zu den Mächten zu sagen, die im Namen ihres Gewissens oder ihres Glaubens auftraten, sondern auch seine intellektuelle Entwicklung war abhängig von der Fähigkeit, ungehorsam zu sein, ungehorsam gegenüber Autoritäten, die versuchten, neue Gedanken mundtot zu machen, und gegenüber der Autorität längst etablierter Meinungen, die einen Wandel für Unsinn hielten“ (Erich Fromm).

Wir stehen in nie da gewesenem Maße unter der „Allherrschaft des Organisationsprinzips“, die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schon Mitte des 20. Jahrhunderts hinaufziehen sahen. Der weltumspannende Traum von Sozialingenieuren, die günstige Gelegenheit der Krise für die Große Transformation der Wirtschaftssysteme zu nutzen, um wohlklingende „linke“ Floskeln von Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit, Inklusion und Kreislaufwirtschaft mit einem dystopischen, digital-technokratischen Transhumanismus zu verbinden, ist nichts anderes als Horkheimers „verwaltete Welt“ auf Speed. Hier sind Autonomie oder Spontanität nicht gefragt, ja sie sind sogar schädlich. Für sie verschwinden alle Schlupfwinkel, wie Adorno es in seinen unter dem Titel Kultur und Verwaltung veröffentlichten Vorträgen formuliert.

Eine freie Gesellschaft kann dies also nicht sein. Denn „je mehr die Gesellschaft unter die Verwaltung einheitlich organisierter Gruppen gerät, umso weniger dürfen wir sie eine Gesellschaft der Freiheit nennen“ (Max Horkheimer).

Der Hellsichtige wird sich dem entziehen wollen und der Mutige von Revolution, gar von Utopie träumen. Der Möglichkeit einer solchen Revolution unter den gegebenen Bedingungen des „gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs“ standen schon Adorno und Horkheimer skeptisch gegenüber. Sie mag nicht eben größer geworden sein. Klar ist aber, dass sie mit einer Tat beginnt, die sich über die Selbstverständlichkeiten hinwegsetzt.

Diese Selbstverständlichkeiten sind ebenso in Zeichen manifest, wie es die Straßenverkehrsordnung ist. Andernfalls ist es nicht weniger als der lange beschriene Tod des Individuums in einer total verwalteten Welt, vor dem wir Angst haben müssen. Vielleicht ist es diese Angst, die uns lähmt, und das nicht erst seit ein paar Jahren. Vielleicht ist aber auch sie es, die uns am Ende dazu antreiben kann, nicht mehr blind den Regeln zu gehorchen. Vielleicht ist sie es, die uns dazu bringt, bei Rot über die Straße zu gehen und wieder zu fragen: Was ist der Mensch in seinem Eigenwert?

Was macht uns Menschen aus? Sicherlich auch, dass wir soziale Wesen sind, ausgerichtet auf andere, abhängig von anderen, angewiesen auf andere, eingebunden in die Sitten und Normen der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Kultur. Dass wir uns an dem orientieren, was unsere soziale Umwelt uns vorgibt — Autoritäten wie Eltern, Lehrer oder Politiker, die öffentliche Meinung oder der Zeitgeist. Zugleich jedoch ist es der Ungehorsam gegen all das, was uns vorgegeben und vorgeschrieben ist, der uns zum Menschen macht.

Der Sündenfall, als erster Akt des Ungehorsams gegen die moralische Instanz und Autorität schlechthin, ist die Urszene der Menschheit, die erste wirklich menschliche Tat. Erst im Nicht-Gehorchen auf einen Gebieter und Nicht-Befolgen eines Gebotes konnten sich Adam und Eva ihrer eigenen Stimme, ihrer Mündigkeit, gewahr werden und — wenn auch unter Scham und Schande sowie ihres harmonischen Verhältnisses zur Natur entrissen — all ihren Mut aufbringen, um ihre ersten Schritte in Richtung Unabhängigkeit und Freiheit zu wagen. Diesen Mut, diese innere Revolte scheint es zu brauchen, um dem blinden Dasein in autoritärer Vormundschaft und Gehorsam, kurz, der eigenen Angst vor der Freiheit zu entkommen.

Es ist eine innere Revolte auch gegen einen faulen, falschen Frieden. Entschlossenheit, sich nicht länger zu betäuben, sich nicht länger leiten zu lassen von vermeintlich objektiven, dafür aber toten Ideen, die uns ihr Gesetz aufzwingen. Erst wenn wir uns des eigenen Selbst gewahr werden, wenn wir eine eigene Stimme bekommen und den Mut aufbringen, mit dieser eigenen Stimme zu sprechen, und wenn wir wieder Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, die eigenen Ideen, Gedanken und Lebensentwürfe fassen — erst dann lässt sich lernen, frei zu denken.

Wenn uns jemand einreden will, dass wir auf eine bestimmte Weise zu fühlen oder zu denken haben, braucht es Mut, zu der eigenen Wahrnehmung und dem eigenen Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu stehen.

Man muss Störenfried sein können, der „puer robustus“ (Thomas Hobbes), der eine ultimative Bedrohung für die Ordnung darstellt. Der ungehorsame Störenfried beharrt auf sich, hält Distanz und wendet sich ab, gleichzeitig eckt er an, geht über sich hinaus und kreiert Differenz. Im Wesentlichen aber führt er seinen Kampf gegen die Ordnung im Vorgriff auf eine neue Welt, die er als menschwürdiger erkannt hat. Ungehorsam im engeren Sinne ist folglich keine „gegen etwas gerichtete Einstellung“, sondern vielmehr „eine Haltung, die sich für etwas einsetzt“ — nicht zuletzt für sich selbst.

Jedes Nein gegen angemaßte Autoritäten ist auch ein Ja zu sich selbst. Während ich im Gehorsam gegenüber einer Person, einer Institution oder Macht (also im heteronomen Gehorsam) fremde Entscheidungen anstelle meiner eigenen akzeptiere, ist der Ungehorsam die Bejahung der eigenen Vernunft, des eigenen Willens und der eigenen Freiheit. Der Ungehorsam bejaht das eigene Leben.

Wenn man es vermeidet, das eigene Leben zu bejahen, wird es unlebendig und tot. In der Gesellschaft zeigt sich eine Spaltung in diejenigen, die das Leben in ihrer Lebendigkeit bejahen, den Biophilen, und den Nekrophilen, denjenigen, die es verneinen, die ein reduziertes, verarmtes Verständnis von Leben haben — als eines des bloßen Am-Leben-Sein, das man natürlich durch das blinde Befolgen von auferlegten Regeln, so sinnlos sie auch sein mögen, sowie durch eine Verherrlichung von Sicherheit, Planbarkeit, Voraussagbarkeit und Kontrolle am besten erreichen kann. Dieses bloße Am-Leben-Sein steht im krassen Gegensatz zur echten Lebendigkeit.

Die Frage nach der Entscheidung zwischen Biophilie und Nekrophilie ist daher auch eine Entscheidung, ob man Mensch sein will, der den ersten Akt des Ungehorsams gegen die Urautorität wiederholt und sich selbst ermächtigt — oder ein Sklave, so sicher und zufrieden er sich auch fühlen mag.

Neben der lebenslangen Aufgabe der Selbsterkenntnis scheint die Schwierigkeit im Ungehorsam vielmehr darin zu liegen, zu erkennen, dass jeder von uns sich, sei es ökonomisch, kognitiv oder emotional, in einer Abhängigkeit befindet.

Abhängigkeit ist ein notwendiger Bestandteil des menschlichen Lebens, und sie bringt eine gewisse Form von Hörigkeit mit sich, als Grundeinstellung zu den frühen und überkommenen Autoritäten. Doch erst wenn man sich der eigenen Hörigkeit gewahr wird sowie der Quelle dieser Hörigkeit, des „heteronomen Gehorsams“, lässt sich auch die Frage stellen, warum man diese Unterwerfung bislang schlichtweg ertragen hat — eine Unterwerfung, die den Verzicht auf die eigene Autonomie und die Akzeptanz eines fremden Willens mit sich bringt.

Gehorsamkeit und Machtverhältnisse konstituieren sich auf „der Voraussetzung, daß die Vielen lernten zu gehorchen“ (Erich Fromm) und sich anhand unterschiedlichster Mittel der Angsterzeugung ihres Mutes nicht mehr habhaft werden können. Indem dieses Einimpfen eines heillosen Respekts vor der Konformität und eben das Erstarken von Ohnmachtsgefühlen und Angst davor, „anders“ zu sein, uns jeglichem Ausdrucksvermögen unserer Selbst beraubt, verlieren wir gleichsam unsere Fähigkeit zum Ungehorsam und merken somit nicht einmal mehr, dass wir gehorchen.

Nur im Durchdringen internalisierter Machtstrukturen lässt sich erkennen, dass sich oft nur die Oberfläche, das Aussehen der Autorität geändert haben mag. Ihr Wesen bleibt immer gleich. Abhängig von ihren jeweiligen Interessen bedient sie nur jeweils andere Teile der Klaviatur.

Solange ich nun jedoch meine eigenen Lebensentscheidungen nicht aktiv bejahen kann, ich meinem Leben keinen eigenen Sinn verleihen kann, sondern diesen stets zugeschrieben bekommen muss, wird mein Selbstwertgefühl, das somit von anderen abhängig ist, immer unsicher sein. Was Hannah Arendt über die Isolation gesagt hat, gilt auch für das verhinderte Leben, das Dasein ohne Lebendigkeit: Es mag zuweilen der Beginn des Terrors sein, es ist immer dessen fruchtbarster Boden und immer sein Ergebnis.

Für Erich Fromm ist der Ungehorsam demnach eine Art initiale Störung, die den Übergang in einen autonomen Gehorsam einleitet, der der eigenen Vernunft und Überzeugung folgt. Erst wenn das „autoritäre Gewissen“ zum Schweigen gebracht wird und unsere internalisierte heteronome Stimme, mit der wir diese Autorität zufriedenstellen und keinesfalls verärgern möchten, verstummt, kann das „humanistische Gewissen“ in uns wieder Gehör finden. Das humanistische Gewissen als die „in jedem Menschen gegenwärtige Stimme, die von äußeren Sanktionen oder Belohnungen unabhängig ist“ und uns als menschliche Wesen intuitiv wissen lässt, „was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört“.

Das humanistische Gewissen „ist die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit zurückruft“. Erst indem sie, anstelle der heteronomen Gewalt, zum Teil der eigenen Identität wird, so Fromm, lernen wir, „wir selbst zu sein und selbstständig zu urteilen“.

Wer allerdings sämtliche Intuition und Empfindsamkeit verloren hat, kann auch nicht herausfinden, wer er ist oder was er sein könnte. Angst und Macht führen zum Verlust unseres humanistischen Gewissens und berauben uns nicht nur jeglichen Gefühls und Urteilsvermögens dafür, „was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört“, sondern letzten Endes auch unserer Menschlichkeit selbst. Es ist das wechselseitig abhängige Verhältnis von Freiheit und Ungehorsam, das Angst zu unterbinden versucht und Mut unabdingbar macht.

Da wir aber aus einem Mangel an Selbstsicherheit und der Befähigung dazu, uns selbst zu behüten, uns vom Gedanken des Ungehorsams entfremdet haben und folglich dazu bereit geworden sind, unhinterfragt zu gehorchen, gilt es nun den Mut jedes Einzelnen und sein Vertrauen in die Selbstbestimmung und Autonomie seiner Individuation zu stärken.

Erich Fromm schreibt:

„Nur wenn der Mensch sich vom Schoß der Mutter und von den Geboten des Vaters befreit hat, nur wenn er sich als Individuum ganz entwickelt und dabei die Fähigkeit erworben hat, selbstständig zu denken und zu fühlen, nur dann kann er den Mut aufbringen, zu einer Macht Nein zu sagen und ungehorsam zu sein.“

Der Wahlspruch der Aufklärung muss also heute mehr denn je nicht nur lauten: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern auch: Bringe den Mut auf, zu einer Macht Nein zu sagen und ungehorsam zu sein.


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