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Himmel und Hölle

Himmel und Hölle

Durch den Missbrauch der Gentechnologie droht ein Ausverkauf der Menschenwürde — wir müssen uns dem entgegenstellen.

Der Begriff der Ferne hat ausgedient. In der Informationsgesellschaft spielt sich das Weltendrama zu Hause ab. Was am anderen Ende des Erdballs geschieht, vollzieht sich in unmittelbarer Nähe — gleich um die Ecke, vor der Haustür oder in den eigenen vier Wänden. Telematik, Video und Lasertechnik öffnen das Tor zum Paradies der Informatik. Internet, Satelliten und Düsenflugzeuge sorgen für eine globale Kommunikation. Daten sausen mit Lichtgeschwindigkeit von Kontinent zu Kontinent: Alles geht alle etwas an. Information ist eine Sache, die gespeichert, verfügbar gehalten und jederzeit abgerufen werden kann; sie ermöglicht die vollständige Erfassung der Tatsachen, den schnellen Zugriff und somit die Möglichkeit, den Informations- und Wissensstand der Menschen zu beeinflussen oder gar zu bestimmen.

Die Drahtzieher der Weltgeschichte sind nicht mehr Politiker und Diplomaten, sondern Finanziers und Manager, die über die Technologien verfügen, mit denen Information erfasst, erforscht, zurückbehalten, verfälscht oder verbreitet wird. Finanz und Wirtschaft wachen über Industrie und Wissenschaft, ihr Einfluss reicht von der Börse über die Medien bis zur Forschung. Für sie arbeiten Lohnempfänger wie Bankiers und Verwaltungsräte, Professoren und Lehrer, Redakteure und Journalisten, Angestellte und Beamte, Chemiker und Genetiker.

Ohne Information kein Wissen, ohne Kommunikation keine Entwicklung und ohne Fortschritt kein Profit. Diese kausale Kette, an deren Ausgangspunkt die Information steht, erklärt auch die weltweite Forschung mit Milliardenbudget auf dem Gebiet der Gentechnologie.

Information ist Macht

Die Gene, Träger der Erbinformation, bergen ein unermessliches Machtpotential. Wer mit ihnen und ihrer Information umzugehen weiß, wird nicht nur mit Tatsachen jonglieren können, sondern auch mit lebender Materie. Ob Bakterie, Pflanze, Tier oder Mensch, die chemische Speicherform des Erbguts (Genom) ist bei allen dieselbe. Die Desoxyribonucleinsäure (DNA) ist in jeder einzelnen Zelle untergebracht, 1 Milligramm des DNA-Bandes überspannt die Entfernung zwischen Erde und Mond. Die Gene sind Abschnitte dieser DNA. Seit 2003 gilt das menschliche Genom offiziell als vollständig entschlüsselt. Insgesamt enthält das Genom 20.000 bis 25.000 Gene.

Die Gentechnologie geht aus der Molekularbiologie hervor und bezeichnet den gezielten Eingriff in die strukturelle Einheit des naturgegebenen Erbguts. Ein wichtiges Ziel der Gentechnologie ist es, ein Gen aus der Erbmasse eines Organismus herauszulösen und in jene eines anderen Organismus einzupflanzen. Die Eigenschaften eines Lebewesens können mit dieser Methode verändert und die Grenzen zwischen Arten aufgehoben werden.

Auf die Herausforderungen der Postmoderne reagiert die Politik mit vielen Worten und wenigen Antworten, Wirtschaft und Wissenschaft mit edlen Vorwänden und fragwürdigen Leistungen.

In der Wirtschaft diktiert der ökonomische Gewinn die Methode — die Natur wird geschäftlichen Interessen untergeordnet und angepasst. Die Wissenschaft will uneingeschränkt arbeiten und gleichzeitig die Verantwortung für die Forschungsergebnisse und deren Folgen an die Anwender, die Industrie, delegieren.

Neoliberaler Hochmut

Die Erforschung der Gene und deren Manipulation erheben die Wissenschaftler und ihre Geldgeber in göttliche Höhen. In den Laboratorien spielen Mikrobiologen Evolution, für sie ist der achte Schöpfungstag angebrochen. Die bedrohliche Umweltsituation, das ungelöste Welternährungsproblem, die unheilbaren Zivilisationskrankheiten Krebs und Demenz, die angebliche Notwendigkeit von B-Waffen zur Sicherung des Gleichgewichts des Schreckens und ähnliches mehr stellen den Genetikern den Persilschein aus für ihr „wertfreies“ Tun.

Niemand ahnt, wie der Mensch und seine Umwelt auf gentechnisch veränderte Pflanzen und Tiere ansprechen werden. Trotzdem sollen Bio- und Gentechnik in naher Zukunft etwa 30 Prozent der industriellen Produktion liefern.

Die Natur baut seit etwa 3,5 Milliarden Jahren genetische Informationen um und hat Methoden zur Übertragung dieser Informationen entwickelt. Seit den frühen fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts versuchen die Wissenschaftler, hinter die Geheimnisse des Lebens zu kommen. Ein kurzer Rückblick auf einige spektakuläre Ereignisse der letzten Jahrzehnte vermittelt einen Eindruck von der Dreistigkeit des Menschen. 1953 entdecken Watson und Crick die Struktur der DNA und leiten damit die Ära der Gentechnologie ein.

Um 1970 gelingt die gezielte genetische Veränderung von Bakterien im Reagenzglas durch den Einbau fremder Erbsubstanz. 1973 werden genetisch identische Frösche künstlich erzeugt, das heißt geklont. 1979 erblickt das erste Retortenbaby, Louise Brown, in Großbritannien das Licht der Welt. Am 16. Juni 1980 fällt der oberste Gerichtshof der USA in der Auseinandersetzung um die Patentierung Erdöl verdauender Bakterien ein Grundsatzurteil: „Alles unter der Sonne der Vereinigten Staaten, das von Menschenhand geschaffen wurde“, soll patentierbar sein.

1985 züchten englische Gentechniker eine Mischung aus Schaf und Ziege, die sogenannte Schiege. 1988 wird in den USA die erste genmanipulierte Maus patentiert. 2001 klonen amerikanische Forscher menschliche embryonale Zellen. 2009 wird in Großbritannien das erste Baby ohne Brustkrebs-Gen geboren. 2010 präsentiert der Amerikaner J. Craig Venter das erste künstlich hergestellte und lebensfähige Bakterium. 2018 klonen chinesische Wissenschaftler erstmals zwei Affen. Seit 2019 ist es in Japan erlaubt, lebensfähige Mischwesen aus menschlichen Zellen und Tieren — so genannte Chimären — zu erschaffen.

Verheißungen und Risiken

Immer neue Lebensbereiche erliegen dem Einfluss der Gentechnologie. Im Vordergrund steht dabei das Wohl des Menschen, doch im Hintergrund lauert seine Bevormundung, die Einschränkung seiner Freiheiten. Die Biomedizin revolutioniert Fortpflanzung und Familienleben und stellt die Heilung von Erb- und Zivilisationskrankheiten in Aussicht, kann aber die zwischenmenschlichen Beziehungen gefährden. Die Pharmaindustrie produziert Medikamente und Naturstoffe, kann dadurch aber eine zu große gesellschaftliche Macht erhalten.

Die Schadstoffbeseitigung rettet uns womöglich vor dem ökologischen Zusammenbruch, kann aber davon abhalten, endlich umzudenken.

Nahrungsmittelproduktion und Nutztierhaltung versprechen die Lösung des Hungerproblems, können aber die Entwicklungsländer noch abhängiger von uns machen und das Klima weiter aufheizen. Killerviren in B-Waffen werden vielleicht den Dritten Weltkrieg verhindern, können aber grausame Einsätze in lokalen Auseinandersetzungen herausfordern. Der „genetische Fingerabdruck“ erleichtert den Kampf der Ordnungskräfte gegen das Verbrechen, kann aber die Datenerfassung des Individuums perfektionieren. Genanalysen am Arbeitsplatz mögen den Markt rationalisieren und die Schlagkraft der Unternehmen erhöhen, können aber Entlassungen von Arbeitnehmern und deren Verlust eines Versicherungsschutzes zur Folge haben.

Verheißungen konkurrieren mit Risiken. Ob uns die Menschenwürde erhalten bleibt, wenn wir den eingeschlagenen Weg weitergehen?

Biomedizin

Bei den frühen Kulturvölkern waren die Ärzte vielfach Priester, die sich auf religiöse und magische Beschwörung und die Anwendung von natürlichen Heilmitteln verließen. Heute sind die Ärzte Akademiker, die sich auf Wissenschaft und Technik berufen. Während die Medizinmänner der heutigen Naturvölker noch Kräuter, Knochen und Zauberformeln benutzen, um böse Geister und Krankheiten auszutreiben, schauen Molekularbiologen und Genetiker durch Elektronenmikroskope und manipulieren Gene in Petrischalen und Reagenzgläsern. Die Biomedizin bedient sich gentechnologischer Verfahren, um in Lebensprozesse einzugreifen. Sie will sich nicht mit der Behandlung von Symptomen zufriedengeben und möchte die Ursachen aufheben. Ob sie dazu das Recht hat, ist eine philosophische, sozialethische und moralische Frage.

Doch diese drei Kategorien ihrer Verantwortung scheint sie nur bedingt wahrzunehmen. Ihr dringlichstes Ziel ist die Linderung oder Aufhebung menschlichen Leids, obwohl uns gerade in schmerzlichen und leidvollen Phasen des Lebens die Chance geboten wird, philosophisch, sozialethisch und moralisch, das heißt, menschlich zu wachsen. Heil liegt nicht in der medikamentösen Bezwingung der Krankheit oder im gentechnisch errungenen Zustand der „Gesundheit“, sondern im seelisch-geistigen Heilungsprozess, der nicht ohne das Erlebnis und Eingeständnis der eigenen Unterordnung unter natürliche Abläufe wie Erkrankung und Genesung stattfinden kann. Die Biomedizin strebt den jungen, schönen, gesunden und intelligenten, aber künstlichen Menschen an. Ihre Ideale orientieren sich am eskapistischen Selbstverständnis des globalisierten Menschen.

Die Gewinnung von monoklonalen Antikörpern unterstützt den Kampf gegen zahlreiche Antigene, Bakterien und so weiter. Dieser labortechnisch hergestellte Abwehrstoff wird vorrangig zur Diagnose und Therapie von Krankheiten eingesetzt. Viele Krankheitserreger werden heute durch monoklonale Antikörper schnell identifiziert. Dank Genom- und Präimplantationsdiagnostik lassen sich nun bereits Ursachen, nicht erst Wirkungen von Krankheiten erfassen und beheben. „Programmierfehler“ in den Geschlechtszellen, die zu Erbkrankheiten führen, werden entdeckt und erforscht. Die Analyse der Gene und ihrer Produkte sollte an drei grundsätzliche Bedingungen geknüpft sein — an Freiwilligkeit, ärztliche Vertraulichkeit und Datenschutz. Dafür müssen die gesetzlichen Grundlagen weitgehend noch geschaffen werden.

4.000 Erbkrankheiten sind bekannt. Darunter fallen zum Beispiel körperliche und geistige Behinderung, verstärkte Anfälligkeit für Umweltgifte, erhöhtes Risiko für Herzinfarkt, Tumorkrankheiten und Schizophrenie. Von der Gentherapie, der genetischen Veränderung der Körperzellen, erhoffen sich die Ärzte die Heilung vererbter Beschwerden. Die Manipulation des Erbguts wird nicht weitervererbt, da sie mit dem Individuum zugrunde geht.

Mit pränataler Diagnostik, der vorgeburtlichen Krankheitsbestimmung, und den Fortpflanzungstechnologien stößt der Mensch an die Grenzen seiner Freiheit.

Tiefkühltechnik und Samenbanken haben die künstliche Befruchtung vervollkommnet und vermögen unfruchtbaren Paaren den Kinderwunsch zu erfüllen. Möglich geworden ist die künstliche Befruchtung der Frau mit dem Samen des Ehemannes oder eines Spenders; Samenbanken gewährleisten Empfängnis und Schwangerschaft auch dann, wenn der Ehemann oder Spender schon lange tot ist. Möglich sind auch die Zeugung im Reagenzglas, das Retortenbaby, und die Einführung des Embryos in die Gebärmutterhöhle der Frau, der Embryotransfer, wobei sowohl Samen wie Ei von einem Spender und einer Spenderin stammen können und das Austragen des Embryos von einer Leihmutter besorgt werden kann. Möglich ist sogar die Bevorratung von Embryonen.

Der Segen dieser neusten Errungenschaften entspricht ihrem Fluch. Dem Vorteil der Verhütung genetisch bedingten Leidens steht der Nachteil der Ausmerzung „unwerten“ Lebens gegenüber.

Die eugenische Chance ist eine soziale Gefahr. Mit Eingriffen in die Keimbahn gewinnen die Eltern die Möglichkeit, die Qualität ihrer Nachkommen zu kontrollieren, und verlieren vermutlich die Demut, die Kinder anzunehmen, wie sie sind. Kinder sind dann keine menschliche Verpflichtung mehr, sondern persönliches Eigentum, das nach Lust und Laune zusammengesetzt, verändert und aufgegeben werden kann.

Die Eltern bestimmen eigenmächtig die Kriterien für die Zulassung der Kinder zur menschlichen Gemeinschaft. Dass dies äußerst problematisch ist, versteht sich von selbst. Welcher genetische Defekt reicht aus, um eine Abtreibung zu rechtfertigen? Ist die Unerwünschtheit von Geschlecht oder voraussichtlichem Tierkreiszeichen, von Augen- und Haarfarbe, von Körperbau und Ähnlichem ein hinlänglicher Grund für einen Schwangerschaftsabbruch? Ist das Leben eines Menschen mit Down-Syndrom nicht lebenswert? Und haben schizophrene Menschen und solche mit früh auftretendem Muskelschwund keine Daseinsberechtigung? Solcherlei beschäftigt neben Eltern zunehmend auch Ärzte, Juristen, Kirchenleute, Politiker und Ethiker. Denn die Durchsetzung der Fortpflanzungstechnologien erreicht im sozialen Raum eine Vorherrschaft, die mittels individueller Entscheidung und Verantwortung nicht mehr zu bremsen, geschweige denn zu stoppen ist.

Der wissenschaftliche Erfolg zieht den moralischen Ruin nach sich. Je mehr die Genetiker vereinbaren, welche Erbanlagen der „Norm“ entsprechen, desto mehr genetisch „Abnormale“ wird es geben. Die positive Einstellung gegenüber Behinderung und Unfruchtbarkeit wird abnehmen oder ganz verschwinden. Der öffentliche Druck wird den Eltern den Mut nehmen, die Gesellschaft mit einem missgebildeten oder geistig behinderten Kind zu belasten; werden sie es trotzdem tun, wird sie der Vorwurf der Schuld treffen. Die Vereinnahmung des Menschen durch die Behörden könnte sogar zum Zwang zur pränatalen Diagnose und zur Eigenfinanzierung der Kosten eines behinderten Kindes führen. Andere Missbräuche sind denkbar. Die Verhinderung von Behinderten könnte beispielsweise in die Bevölkerungspolitik einer skrupellosen Regierung münden, die danach strebt, den Untertan nach Maß zu züchten.

Pharmaindustrie

Es grenzt an Obszönität, wenn wir die Unzahl der Spitäler, das Heer der Ärzte und die Masse der Schwestern und Pfleger als Beweis für unseren guten Gesundheitszustand anführen. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die ausgebaute und hochspezialisierte Medizin belegt, dass wir eine Gesellschaft von Kranken sind. Wir können uns ein Leben ohne Schlaf-, Schmerz- und Aufputschmittel kaum mehr vorstellen. Dass unser Vorrat an Medikamenten nicht ausgehe, dafür sorgt die Pharmaindustrie. Sie ist neben der Rüstungsindustrie zu „einem der profitträchtigsten Wirtschaftszweige“ geworden, so Hans See. Multinationale Unternehmen erschließen neue, riesige Märkte und ihre Manager verdienen sich durch Gen- und Biotechnik goldene Nasen.

Menschliche Proteine wie Insulin für Zuckerkranke, Wachstumshormon, Interferone gegen Tumore, Interleukine und so weiter sollen in genmanipulierten Bakterien produziert werden, statt wie bisher aus Blut und Urin, aus Biopsie- und Autopsiematerial sowie Zellkulturen isoliert zu werden. Die gentechnisch gewonnenen Produkte Interferon, Insulin und das Rinderwachstumshormon sind schon auf dem Markt, ebenfalls Naturstoffe wie Vitamine und Aminosäuren. Die mikrobiologische Forschung stellt Instanzen in Aussicht, die das menschliche Immunsystem aktivieren; das weckt natürlich die Hoffnung, selbst Ebola-Viren eindämmen oder gar einen Impfstoff gegen diese hochansteckende Krankheit entwickeln zu können.

Schadstoffbeseitigung

Die westliche Industriegesellschaft ist nicht nur eine kranke, sondern auch eine krank machende Gesellschaft. Die Vergiftung und Aufheizung der Biosphäre durch Abgase und Abfälle ist der Preis für den konsumorientierten Wohlstand und bedroht Pflanze, Tier und Mensch gleichermaßen. Dennoch haben wir nicht vor, bescheidener zu werden und die materiellen Ansprüche herabzusetzen. Das bedingt, dass wir die Umweltverschmutzung auf anderem Weg überwinden müssen.

In den Labors der Chemiekonzerne und zugewandter Gentechnologiefirmen arbeiten Wissenschaftler fieberhaft an der Neuprogrammierung von Mikroorganismen. Genmanipulierte Bakterien sollen Erze auslaugen und so Metalle abbauen, Ölrückstände und Plastikmüll aus Flüssen und Meeren entfernen und Gewässer und Klärschlämme reinigen, kurz: Die Schadstoffbelastung der Umwelt durch Verwertung von Abfallstoffen reduzieren. Erforscht wird zudem die Optimierung von Mikroben für das Recycling. Um den Verbrauch von Erdöl und Kohle einzuschränken, werden Verfahren entwickelt, mit denen Biomasse in Brennstoffe und Chemikalien umgewandelt werden kann.

Nahrungsmittelproduktion

Ein weiteres Problem, an dem das Experiment Menschheit zu scheitern droht, ist die Ernährungsfrage, namentlich der Hunger in der Dritten Welt. Die Bevölkerungsexplosion spielt dabei nur eine zweitrangige Rolle. Ausschlaggebend sind einerseits das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und die hohe Verschuldung der letzteren, anderseits die klimatischen Bedingungen und die politische Gepflogenheit der reichen Nationen, ihre bewaffneten Auseinandersetzungen auf dem Territorium der armen auszutragen. Es geht nicht um eine mangelhafte Verteilung der Nahrungsmittel, sondern um jene der Produktionsmittel. Verantwortlich für die herrschende Ungerechtigkeit sind die Besitz- und Machtverhältnisse. Die gentechnologische Antwort auf die Ernährungsfrage trägt diesen Überlegungen keine Rechnung, sie belässt alles beim Alten und betreibt nur Kosmetik.

Fortpflanzungstechnologien und Genmanipulation steigern den Nahrungsmittelertrag. In der Nutztierhaltung hat die künstliche Besamung den Natursprung längst verdrängt und der Embryotransfer von Hochleistungs- in Normalkühe ist heute Stallroutine. In der Landwirtschaft kommen Nutzpflanzen zum Einsatz, die ihren Stickstoffbedarf aus der Luft decken, und Saatgutkapseln mit eingebautem Herbizidpaket suggerieren einen biologischen Anbau. Der Traum ehrgeiziger Forscher sind Erdbeeren, die den Frost ertragen; Kühe, die statt Trinkmilch insulinhaltige Milch erzeugen; Brathähnchen ohne lästige Federn; rindsgroße Schweine; Fische, die mehr Fleisch ansetzen. Tabak, Tomaten, Mais und Kartoffeln, die gegen Unkraut- und Insektenvernichtungsmittel resistent sind, sollen bald zum Verkauf angeboten werden. Und wenn es nach dem Willen der Hersteller ginge, gäbe es schon jetzt schalenfreie Zitronen, und der Salat sprösse auf dem Fließband — ohne Erde und fünfmal schneller als im Garten.

Solche „Erfindungen“ sowie die Züchtung von Pflanzen, die auf salzigen Böden gedeihen, sollen der Linderung des weltweiten Hungers dienen. Ein weiteres Anliegen der gentechnologischen Forschung ist die Wiederbegrünung und -bewaldung des afrikanischen Kontinents, was allerdings in krassem Widerspruch steht zur gegenwärtigen Abholzung und Brandrodung der Regenwälder.

Abgesehen davon, dass wir mit Eingriffen ins Erbgut von Fauna und Flora die Naturgesetze rücksichtslos übertreten, ohne die Konsequenzen für die Umwelt und uns selbst zu kennen, maßen wir uns an, neue Gesetze zu erlassen.

Dabei degradieren wir Pflanzen und Tiere zu Produktionsstätten — und das Patent segnet ihre vollständige Verfügbarkeit zum Zweck der Ausbeutung ab.

Das globale Gengeschäft wird von Chemie-, Erdöl- und Nahrungsmittelkonzernen dominiert. Führend dabei sind Chemiekonzerne wie Novartis und transnationale Firmen wie Nestlé. Sie „besitzen“ diese neusten Technologien und daher die Macht. Genmanipulierte, patentierte Nutzpflanzen und Hochleistungstiere werden die Landwirtschaft — vorab jene der Dritten Welt — vollends von der westlichen Agrochemie und -industrie abhängig machen. Ein paar Multis könnten dann über das Nahrungsmittelmonopol und somit über Leben und Tod von Millionen, vielleicht Milliarden von Menschen verfügen.

Kriegsindustrie

Die Geschichtsbücher verherrlichen den Krieg. Das ist verständlich, denn die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Seit jeher war der Mensch dem Menschen ein Feind. Dass dies auch heute gilt, liegt nicht am besonders aggressiven Charakter des Menschen, sondern in erster Linie am großen Geld, das die Rüstungsindustrie beschert. Das wiederum ist der Grund dafür, dass Staatsmänner, Finanziers und Waffenfabrikanten immer nur von Verteidigung sprechen, im Grunde aber Krieg meinen. Diese Leute bereichern sich in Friedens- und Kriegszeiten auf Kosten der Bürger und Soldaten.

Jahrtausendelang bekämpften sich die Menschen mit konventionellen Waffen, mit Keule und Steinschleuder, Pfeil und Bogen, Muskete und Kanone, Panzer und Bomber. Erst im letzten Jahrhundert wurden chemische, atomare und biologische Waffen entwickelt. Im 1. Weltkrieg wurden Giftgase, vor allem Senfgas, eingesetzt. Im Zweiten Weltkrieg vergasten die Nationalsozialisten sechs Millionen Juden und die Amerikaner zündeten über Hiroshima und Nagasaki die ersten Atombomben. Im Vietnamkrieg wurden chemische Kampfstoffe wie Entlaubungsmittel und Napalm benutzt.

In den 1980er Jahren gab es Giftgaseinsätze am Persischen Golf, irakische Massaker an Kurden. Auch im gegenwärtigen syrischen Bürgerkrieg wird Giftgas eingesetzt. Die moderne Kriegführung beschränkt sich nicht mehr auf Chemie-, Atom- und Neutronenbomben. Die Militärs hüben und drüben schielen nach den Forschungsergebnissen der Genetiker.

Wer den genetischen Code gefährlicher Viren entschlüsselt, um einen Impfstoff zu finden, liefert gleichzeitig der biologischen Kriegsindustrie neue Waffen. Die Wissenschaftler schaffen die Voraussetzungen für den Krieg der Gene. Darüber hinaus beschäftigen die Verteidigungsministerien Tausende von Chemikern und Biologen.

Die Mehrzahl der Staaten haben ein riesiges Jahresbudget zur Erforschung, Entwicklung und Erprobung von B- und C-Waffen zur Verfügung. Das Ziel der Armeen sind Killerviren, die nur den Gegner ausrotten, Bakterien, die tödliches Gift produzieren, und Pilze, die im Feindesland die Ernten vernichten. So sollen infizierte Flöhe, Zecken, Mücken und Fliegen die Diphtherie, das Gelbfieber, die Malaria und die Pest übertragen. In der US-Armee laufen Versuche, harmlose Darmbakterien mit den toxischen Genen von Cholera und Wundstarrkrampf zu verbinden; in den Eingeweiden der Gegner würden diese genmanipulierten Mikroben zu Zeitbomben.

Die mit Hilfe von Raketen, Aerosol-Generatoren und Sprühflugzeugen verbreiteten biologischen Waffen sind unberechenbar. Die tödlichen Organismen verbleiben in der Umwelt, nachdem sie zu kriegerischen Zwecken ausgesetzt worden sind, und befallen neben den feindlichen auch die vorrückenden eigenen Truppen. Aufgrund ihrer leichten Entwendbarkeit und Handhabung durch Terroristen und Erpresser — ein Reagenzglas mit Viren kann die Bevölkerung einer Stadt töten — stellen B-Waffen sogar in Friedenszeiten ein unverantwortbares Gefahrenpotential dar.

Kriminalistik

Die Gentechnologie hat auch Eingang in den Bereich des Staats- und Bürgerschutzes gehalten. Geheimdienste, militärische Nachrichtendienste und Ordnungskräfte, die sich mit der Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung von Spionage und Verbrechen befassen, operieren schon lange mit wissenschaftlichen Methoden. Besonders in der Kriminalistik vollbringt die neue Technologie Wunder. Verdächtige eines Gewaltverbrechens können anhand von Blut-, Sperma- oder Gewebespuren mit beinahe absoluter Sicherheit überführt oder entlastet werden. Der „genetische Fingerabdruck“ kann aber auch einem Überwachungsstaat, wie ihn George Orwell im Roman „1984“ entworfen hat, Vorschub leisten. Mit einer geheimen oder obligatorischen Blutprobe bei der Geburt könnte jeder Bürger erfasst und noch wirkungsvoller verwaltet werden.

Arbeitsmarkt

Im Mittelpunkt des Interesses der meisten Arbeitgeber steht statt des qualitativen das quantitative Wachstum ihres Unternehmens. Der vermehrte Einsatz von Maschinen, Computern und Algorithmen garantiert die Rationalisierung der Arbeitsabläufe. Um den Faktor Mensch in den Griff zu bekommen, werden Stellenbewerber psychologischen Tests unterzogen und in einem ausführlichen Vorstellungsgespräch nach möglichen Schwachstellen abgeklopft, nicht selten werden Erkundigungen bei gerichtlichen Stellen und politischer Polizei eingeholt. Damit die eingestellten Arbeitnehmer kein Selbstbewusstsein aufbauen können, werden sie nach Möglichkeit in Großraumbüros, Schalter- und Werkhallen untergebracht und in ein ausgeklügeltes Lohnsystem eingebunden, das jene bevorteilt, die sich anpassen.

Kritiker werden nicht mehr nur durch „gekaufte“ Mitarbeiter bespitzelt, sondern auch mit technischen Hilfsmitteln überwacht. Eine Videokamera wird in ihrem Büro installiert, ihr interner Telefonanschluss wird abgehört und tritt ein allzu großes Sicherheitsrisiko zu Tage, wird ihr Privatleben unter die Lupe genommen. So vermag die Personalleitung missliebige Arbeitnehmer zu beherrschen und im Bedarfsfall unter Druck zu setzen, zu belasten und zu entlassen.

Genanalysen, entweder als Bestandteil einer Einstellungsuntersuchung oder am Arbeitsplatz, könnten diese weit verbreitete Personalpraxis um eine wissenschaftliche Dimension erweitern. Die betriebsärztliche Untersuchung — Kartierung des gesamten Erbguts und Ortung genetischer Defekte auf Chromosomen-Ebene — würde das individuelle Recht auf freie Berufswahl gefährden. Denn die Angleichung der Menschen an bestimmte Arbeitsbedingungen durch Auswahl genetisch geeigneten Personals wäre eine Folge der neuen Technologie. Und beim geringsten Verdacht auf Defekte und bei der Befürchtung einer Erkrankung würden massenhaft Leute aus dem Arbeitsverhältnis „gesäubert“, weil man sie nicht für einsatzfähig hielte. Wie könnte da das Individuum mit fehlerhaften, krankmachenden Erbanlagen vor der Diskriminierung am Arbeitsplatz und beim Eintritt in Versicherungen noch geschützt werden?

Faustischer Drang

Der Mensch hat sich zum reinen Verstandeswesen entwickelt. Sein faustischer Drang nach Erkenntnis und Wissen, sein Geist schlechthin lässt das ethische Empfinden, die „Ehrfurcht vor dem Leben“, so (Albert Schweitzer, und die soziale Verantwortung weit hinter sich. Wie könnten sonst menschliche Embryonen als Ersatzteillager für Organtransplantationen verwendet — und vielleicht schon bald gezüchtet — werden? Wie könnten sonst die Lizenzierbarkeit von Leben beschlossen und die gentechnische Manipulation der Umwelt durchgeführt werden?

Die Illusion des neoliberalen Menschen, sich von seiner existenziellen Ohnmacht durch technologische Neuerungen zu befreien, führt ihn ins Netz neuer Sachzwänge. Der Wahn, die Schöpfung sei sein Eigentum, mit dem er umspringen könne, wie es ihm beliebe, ist seinem Wohlergehen abträglich. Der neoliberale Mensch gleicht dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswird. Das schwache Wesen hat sich wissenschaftliche Instrumente geschaffen, von denen es sich Kraftoptimierung und Unabhängigkeit erhoffte, und muss nun einsehen, dass die Instrumente es noch hilfloser und abhängiger machen.

Denn Gen- und Fortpflanzungstechnologien gewinnen eine gesellschaftliche Eigendynamik, die sich der demokratischen Kontrolle weitgehend entzieht. Im Rennen zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und gesetzlicher Regelung hat jener die Nase vorn — erst wenn Forschungsergebnisse vorliegen, wird über die Legitimation der Forschung beraten. So schlägt die Wirtschaft, in deren Dienst die Wissenschaft steht, dem Staat beziehungsweise dem Volk das Zepter aus der Hand.

Die technische Entwicklung bringt den sozialen Wandel. Auf den Einstieg in die umstrittenen Technologien, der mit dem Hinweis auf Verminderung menschlichen Leids gerechtfertigt wird, folgt eine Übergangs- und Gewöhnungsphase. Diese leitet die Ausdehnung des technologischen Anwendungsbereiches ein. Zuletzt sind nicht mehr nur Einzelfälle betroffen, sondern die Allgemeinheit.

Paradies als Hölle

Die Zukunft muss jeden ängstigen, der die Fähigkeit zu fühlen und sein Gewissen noch nicht verloren hat. Die Genanalyse wird die Möglichkeit eröffnen, genetische Defekte beim Embryo frühzeitig zu entdecken und entweder durch Genübertragung oder Schwangerschaftsabbruch zu beheben. Es wird sogar möglich sein, die Gene befruchteter Eizellen zu manipulieren und damit direkt in die Evolution einzugreifen. Wahrscheinlich werden Eltern selbstkonstruierte, patentierte und geklonte Kinder, aber kaum mehr ihre eigenen Nachkommen haben. Vielleicht werden die Frauen auch transgene Kinder, Kreuzungen zwischen Mensch und Tier, zur Welt bringen wollen — Kentauren, Monotauren und Meerjungfrauen.

Genetiker arbeiten schon heute an Hormonen und Endorphinen, die für unsere Glücksgefühle verantwortlich sind. Die künftige Gemeinschaft der Menschen wird eine „glückliche“ und leidfreie, aber lustlose Gesellschaft sein, denn Lust und Leid bedingen einander. Jeder Bürger wird neben dem normalen Pass einen Genpass oder ein implantiertes Genchip mit den wichtigsten Erbanlagen auf sich tragen müssen. Der Mensch wird unfrei, aber lange leben — bis zu 300 Jahre wie die Riesenschildkröte.

Die Gentechnologie vermarktet den Heilsgedanken auf Kosten der menschlichen Seele.

Indem wir uns selbst, die „vorgegebene Struktur unserer Gene“, so C. G. Jung, manipulieren und „heilen“, greifen wir ein ins Zusammenspiel körperlicher und geistiger Vorgänge. Der vererbte Schatz an Instinkten, Archetypen, kollektiver Identität und anderen seelisch-geistigen Qualitäten kann bei der Genmanipulation verletzt oder zerstört werden. Im kerngesunden Körper wird dann womöglich eine verkrüppelte Seele leben.

Die Genmanipulation verspricht das Paradies auf Erden und bereitet die Hölle vor. Die Unternehmer spielen sich als Anwälte des Fortschritts auf. Die Wissenschaftler sehen sich als Retter der Menschheit. Die Politiker fordern scheinheilig die Sicherung des Persönlichkeitsschutzes und der Selbstbestimmung des Menschen, den Schutz der Gesundheit und des Wohlergehens von Mensch und Tier, den Schutz der natürlichen Umwelt und die Erhaltung ihrer genetischen Vielfalt. Diese unverbindlichen und mit Absicht allgemein gehaltenen Aufrufe taugen nichts, sie zwingen die wild wuchernde Forschung nicht in ihre ethischen Grenzen. Dafür sind klar formulierte und ins Detail gehende Gesetze notwendig.

Weltweiter Widerstand

Konrad Lorenz hat gesagt: „Ich glaube, die Einsicht in die eigene Begrenztheit ist Voraussetzung für das Überleben des Menschen.“ Was Lorenz forderte, ist Bescheidenheit. Dass sich der Einzelne bescheide, ist im Zeitalter der heraufziehenden Klimakatastrophe dringend notwendig.

Doch es gilt auch, politischen Widerstand zu leisten. Viele Menschen, die sich eine lebenswerte Zukunft noch vorstellen können, setzen sich gegen die Willkür von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zur Wehr. Ihr Kampf gilt der janusköpfigen Gentechnologie, ihrer Forschung, Produktion und Anwendung. Sie verlangen ein striktes Verbot der Freisetzung und Patentierung von genmanipulierten Lebewesen, der Zulassung von gentechnisch hergestellten Rinderwachstumshormonen, der künstlichen Veränderung des menschlichen Erbguts, aller Experimente zur Manipulation von menschlichen Eizellen und Embryonen, der gewerbsmäßigen Leihmutterschaft und des Handels mit Samen- und Eizellen oder mit abgetriebenen Embryonen und Produkten aus solchen.

Der Widerstand gegen den Ausverkauf der Menschenwürde nimmt zu. Täglich wächst die Zahl derer, die aufstehen und protestieren. Es ist an der Zeit, die Regierenden und Mächtigen in ihre Schranken zu weisen.


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