Es war einer dieser seltenen Momente im deutschen Fernsehen, bei denen in einer Talkshow mehr als nur das übliche, gelangweilte und langweilige Ping-Pong-Spiel geboten wurde. Es ging in der Sendung heiß her über die zu erwartende Außenpolitik des nur zwei Tage zuvor gewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump und ein mögliches Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen äußerte am 10. November 2016 in der ZDF-Sendung: „Maybrit Illner“ zum Thema: „Trumps Triumph — Was steht auf dem Spiel?“:
„Ich will zu dem Thema Putin noch einmal sagen. Ich bin bei Ihnen, dass es richtig ist, wenn man miteinander spricht. Insbesondere als neuer Präsident muss er mit allen zunächst sprechen. (…) Das, was uns aber wichtig ist, ist: Es ist eben nicht so, dass Amerika sich sozusagen einfach zurückziehen kann und sagen kann, es ist mir egal, was auf dem Rest der Welt passiert. Denn Amerika ist ein Land, was auch global einen großen Einfluss hat, Amerika ist ein Land, was global enorm viele Wirtschaftsbeziehungen hat, politisch enorm viele Beziehungen hat. Das heißt, Amerika ist präsent in ganz vielen anderen Regionen der Welt und kann nicht deshalb sagen: Mit den Problemen lassen wir euch alleine, wir kümmern uns nur um unsere eigenen Themen. Mir ist vor allem wichtig, dass in diesen Gesprächen, die stattfinden, nie vergessen wird, dass die Differenz, die wir mit Russland haben, die Annexion der Krim ist, nämlich das Missachten der Grenzen eines souveränen Staates, die Bombardierung Aleppos. Wenn diese Themen zur Sprache kommen, dann ist es gut, wenn miteinander gesprochen wird. Aber diese Position, die muss Donald Trump einnehmen, dass er sehr klar sagt, auf welcher Seite er ist, ob er auf der Seite des Rechtes ist, der Friedensordnung, der Demokratien steht, oder ob ihm das egal ist und er so eine Männerfreundschaft macht (…)“ (1).
Anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag, handelte es sich hierbei weniger um den Moment eines Befreiungsschlags deutscher gegenüber amerikanischer Außenpolitik, als vielmehr um einen Schulterschluss dieser beiden. Dieser findet mittlerweile allerdings auf der Ebene des Tiefen Staates statt, der im strategischen Planen und Handeln zwischen den Allianzpartnern des 21. Jahrhunderts keine Grenzen mehr kennt. Auch lässt er keine Handlungsfreiräume für einen neuen Präsidenten zu, der sich in das Weiße Haus verirrt hat.
Bei der heutigen westlichen Politik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten handelt es sich um ein grenzüberschreitendes „Tiefensystem“ vieler harmonisch miteinander kooperierender Tiefer Staaten. Diese produzieren in der Summe eine einheitliche Sicht auf Themen wie die Schlacht um die syrische Stadt Aleppo und verlangen folglich eine gemeinsame Einmischungspraxis — neuer US-Präsident hin oder her.
Geschichtlicher Abriss
Auch wenn in dieser Region früher nicht alles besser war, so war es dennoch abwechslungsreicher und ausgeglichener: Man war mal Angreifer, mal Angegriffener, und wenn einer angegriffen wurde, dann geschah dies mal aus östlicher, mal aus westlicher Richtung. So wurde Bagdad im Jahr 1258 von den Mongolen unter der Führung von Hülegü — einem Enkel des berüchtigten Dschingis Khan — erobert, der, aus Zentralasien im fernen Osten kommend, die Zerstörung der Hauptstadt der Dynastie des abbasidischen Kalifats (750 — 1258) anordnete und damit der Blütezeit des arabischen Islam im Orient ein Ende setzte.
Fast zur gleichen Zeit hatten die Kreuzritter beziehungsweise die Franken in mehreren Angriffswellen zwischen dem Ende des 11. und dem Ende des 13. Jahrhunderts, aus Europa im damaligen fernen Westen kommend, für 200 Jahre Angst und Schrecken in der Levante beziehungsweise den Gebieten des östlichen Mittelmeers verbreitet.
Auf der anderen Seite behielten die Araber und Muslime bis 1492 die Kontrolle über Granada, ihre letzte Hochburg in Andalusien im heutigen Spanien. Das heißt, mehr als 200 Jahre nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen und der Levante durch die Kreuzzügler fiel Granada erst in die Hände der Truppen der katholischen Könige Isabella I. und Ferdinand V. Die Herrschaft der Muslime auf der iberischen Halbinsel dauerte insgesamt knapp 800 Jahre — inklusive des Kalifats von Córdoba.
Der Blick zurück zeigt, dass sich früher Siege und Niederlagen der Araber und Muslime im Orient miteinander abwechselten, sodass zumindest zeitweise ein Gefühl der Überlegenheit entstehen konnte. So erwähnen nicht nur arabische Quellen, dass mit dem Sieg der Mauren eine Hochkultur begann, von der auch Europa in vielerlei Hinsicht profitierte. Diese hatten Anfang des 8. Jahrhunderts zur Zeit des Kalifats der Umayyaden-Dynastie (660 — 750) die Meerenge zwischen dem heutigen Marokko und Spanien überquert und binnen weniger Jahre den Großteil des Westgotenreichs erobert.
Obwohl die Mongolen und Franken zeitweise in Mesopotamien und der Levante siegreich waren, empfanden die Besiegten ihre „Eroberer“ als zivilisatorisch unterlegen. In der Arabischen Welt hält sich bis heute die Legende, dass die als kulturlos empfundenen Mongolen so viele Bücher der berühmten Bagdader Bibliotheken in den Tigris warfen, dass sich sein Wasser durch die gelöste Tinte schwarz färbte. Die historische Sicht auf die Franken bringt der libanesisch-stämmige französische Autor Amin Maalouf mit dem Titel seines Buches sehr präzise zum Ausdruck: Der Heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber (2).
Der Nahe und Mittlere Osten spielte damals auch auf der Weltbühne mit. Geändert hat sich diese Situation langsam mit dem Anbruch der Neuzeit beziehungsweise der Entdeckung Amerikas und dem Beginn des Kolonialismus Ende des 15. Jahrhunderts. Anders ausgedrückt: mit der schrittweisen Verschiebung der Machtverhältnisse gen Europa im Norden beziehungsweise im Nordwesten. Die Kolonialzeit war für die Bewohner des Nahen und Mittleren Ostens ab dem 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur eine Periode der Fremdherrschaft und der Besatzung, sondern auch eine Zeit der tief greifenden Neugestaltung beziehungsweise Neuaufteilung der Nahost-Region durch die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich.
Im Jahr 1916 handelten der englische Diplomat Mark Sykes und der Franzose François Georges Picot das nach ihnen genannte Sykes-Picot-Abkommen aus, das die Grenzziehung der neuen Staaten im post-osmanischen Nahen Osten bis heute bestimmt. Ein Jahr später verfasste Mark Sykes mit dem zionistischen Aktivisten Chaim Weizmann die Balfour-Deklaration, die der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour dem britischen Zionisten Lionel Walter sandte. In dieser Deklaration sagte die britische Regierung der zionistischen Bewegung ihre Unterstützung für eine „Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ zu.
Damit wurde der Grundstein für den seit Gründung des Staates Israel bis heute andauernden israelisch-arabischen Konflikt gelegt.
Naher und Mittlerer Osten im Kalten Krieg
In der postkolonialen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die wirtschaftlichen und militärischen Sonderstellungen der ehemaligen Kolonialmächte andere Formen an. Das zeigt sich beispielsweise bereits in den 1950er-Jahren — wenn auch nur in klein — im Projekt Großraum Mittlerer Osten. Es hieß seinerzeit Central Treaty Organization, CENTO, Zentrale Paktorganisation, zwischen 1955 und 1959 auch Middle East Treaty Organization, METO, besser bekannt als Bagdad-Pakt. Am 24. Februar 1955 unterzeichneten der Irak, damals noch ein Königreich, und die Republik Türkei, damals erst seit drei Jahren NATO-Mitglied, ein Abkommen über das „Verteidigungsbündnis“. Großbritannien trat dem CENTO am 5. April, Pakistan am 23. September und der Iran am 3. November 1955 bei. Die USA wurden 1958 de facto Mitglied, offiziell jedoch nur mit Beobachterstatus.
Auch wenn der Bagdad-Pakt nach der Islamischen Revolution im Iran Ende der 1970er-Jahre formal endgültig aufgelöst wurde, markierte er eine neue Stufe des westlichen Handelns im Nahen und Mittleren Osten. Ging es in den Jahrhunderten zuvor um innereuropäische Verteilungskämpfe, bei denen es den Franzosen Napoleon Bonaparte im Sommer 1798 nach Ägypten verschlagen hatte, wurde diese Region nun zu einem Schauplatz größerer geostrategischer und ideologischer Kämpfe. Im Zeitalter des Kalten Krieges war die Sowjetunion der Feind der „Freien Welt“ und genau gegen diese Sowjetunion und gegen die Verbreitung des Kommunismus richtete sich der prowestliche Bagdad-Pakt.
Dementsprechend galten die Länder des arabischen Sozialismus in den Augen des Westens als Feinde, als Verbündete des Ostblocks und pro-kommunistisch, auch wenn der arabische Sozialismus à la Präsident Gamal Abdel Nasser (1954 — 1970) in Ägypten oder der Baath-Partei in Syrien und Irak der 1960er- und 1970er-Jahre keine Verstaatlichung von Produktionsmitteln vorsah und sich nicht mit dem Klassenkampf, sondern vielmehr mit nationalem Befreiungskampf beschäftigte.
Der Westen blieb trotz allem skeptisch, zumal Nasser im Jahr 1956 die mehrheitlich britisch-französische Suezkanal-Gesellschaft verstaatlichte sowie die Baath-Partei des Irak 1972 die Ölindustrie, die sich in der Hand britischer und amerikanischer Konzerne befunden hatte. Die Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges versteckte sich im Nahen Osten stets hinter Regionalkonflikten und Stellvertreterkriegen. Während sich der Westen über Jahrzehnte als Schutzmacht des Staates Israels hervorgetan hat, unterstützte die Sowjetunion die Palästinenser, vertreten durch die PLO, Palestine Liberation Organization, und arabische Staaten wie den Irak, Ägypten, Syrien, Libyen, Algerien und den kommunistischen Südjemen. Die arabischen Monarchien von Marokko im Westen bis zu Saudi-Arabien und den Golfstaaten im Osten waren und sind bis heute Einflussgebiete des Westens.
Zu einem Beinahe-Zusammenstoß der Großmächte kam es jedoch im Mittleren Osten: Ende 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, worauf der Westen mit der Unterstützung einer Art „Islamistischer Internationale“ antwortete. Kämpfer, vor allem aus pro-westlichen arabischen Ländern, wurden in den 1980er-Jahren unter Federführung der CIA und des pakistanischen Geheimdienstes und mit Finanzierung aus den reichen Golfmonarchien für den Dschihad gegen die Sowjets in Afghanistan angeworben und mit modernen Waffen ausgestattet. Im Frühjahr 1989 zog Moskau nach zehn verlustreichen Jahren seine letzten Truppen aus Afghanistan ab. Nur zwölf Jahre später, nach den Anschlägen vom 11. September 2001, stehen dort US-Soldaten, — angeblich um genau diejenigen zu bekämpfen, die man einige Jahre zuvor unterstützte.
Im Namen der Demokratie
Der Kalte Krieg lag lange zurück, als US-Präsident George W. Bush während des G8-Gipfels von Sea Island im Juni 2004 in den Vereinigten Staaten sein Drei-Säulen-Modell für das Projekt „Greater Middle East“ (Großraum Mittlerer Osten) präsentierte. Es hörte sich auf den ersten Blick alles gut an: Förderung der Demokratie und Good Governance (Gutes Regieren), Aufbau einer Wissensgesellschaft und Ausbau der ökonomischen Potenziale. Zuvor, 2002, wurde das Projekt in „U.S — Middle East Partnership Initiative“, MEPI, umbenannt (3).
Für den anwesenden russischen Präsidenten Wladimir Putin wird sich das alles sehr viel anders angehört haben. Sein Land war erst seit 1998 Gast der alljährlichen G8-Treffen der führenden Industrienationen der Welt. Erst nach der Sezession/Annexion der Krim 2014 wird Russland von den Treffen ausgeschlossen. Das konnte Putin damals, 2004, noch nicht ahnen, aber er wird nicht übersehen haben, dass die USA mit der angeblichen „Demokratisierung“ des Nahen und Mittleren Ostens hegemoniale politische Ziele verfolgten. Dazu gehören unter anderem die Installierung im Westen ausgebildeter neoliberaler Führungseliten, die Einrichtung von Militärstützpunkten wie auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan unter dem Etikett „Partnership for Peace“ (Partnerschaft für Frieden). Business- und Geldkooperationen sowie der Waffenhandel gehören ebenfalls in dieses Umfeld.
Die russische Skepsis war nicht nur hypothetischer oder momentaner Natur, denn die USA präsentierten bei jenem G8-Gipfel zwei lebende Exemplare als Symbol für den Startschuss des MEPI-Projekts: Unter den zwölf zum Gipfel eingeladenen Staats- und Regierungschefs aus Nichtmitgliedsstaaten befanden sich Hamid Karzai und Gazi al-Yawar. Karzai war Ende 2001 bei der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg nahe Bonn in Abwesenheit zum Präsidenten der „Übergangsregierung“ in Afghanistan ernannt worden und wurde drei Monate nach jenem G8-Gipfel zum „ersten demokratisch gewählten Präsidenten Afghanistans nach Ende der Taliban-Herrschaft“ bestimmt. Gazi al-Yawar wurde nur einen Monat vor dem Gipfel in Sea Island durch den von der US-Besatzung eingesetzten „Regierungsrat“ zum „ersten Präsidenten des Irak nach Saddam Hussein“ gewählt.
Die Wiederauferstehung des Projektes Greater Middle East war zudem bei genauerer Betrachtung, anders als die allgemein herrschende Meinung suggeriert, keineswegs nur auf George W. Bush und seine Amtszeit zurückzuführen (4). Doch augenscheinlich legte der damalige amerikanische Präsident den Grundstein für das Projekt mit seiner „Vorwärtsstrategie der Freiheit“. Dazu äußerte er sich im November 2003 vor der Stiftung „National Endowment for Democracy“ (5) in einer Rede zur Einführung der Demokratie in den islamischen Ländern, knapp acht Monate nach dem „Demokratisierungskrieg“ im Irak und zwei Jahre und einen Monat nach dem „Anti-Terror-Krieg“ in Afghanistan.
Über dieses Projekt wurde auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2004 zum ersten Mal offiziell debattiert und die Europäer waren keineswegs abgeneigt. Nach den Differenzen aufgrund des Irak-Krieges suchten die Europäer den erneuten Schulterschluss mit Washington, zumal sie ähnliche Überlegungen hatten, beispielsweise im 1995 gestarteten Barcelona-Prozess beziehungsweise in der Euro-mediterranen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainerstaaten. Ende Februar 2004 gaben US-Präsident George W. Bush und Bundeskanzler Gerhard Schröder auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus sogar eine gemeinsame Erklärung ab:
„In diesem Geiste verpflichten wir unsere Völker auf ein ehrgeiziges Ziel, das in unseren gemeinsamen Werten und unserer gemeinsamen Erfahrung verwurzelt ist: die Förderung von Frieden, Demokratie, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlichen Chancen und Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten. Furcht und Ressentiments müssen durch Freiheit und Hoffnung ersetzt werden. Wir müssen eine echte Partnerschaft aufbauen, die Europa und Amerika mit dem Nahen und Mittleren Osten im weiteren Sinn verbindet“ (6).
Die russische und — wie sich später zeigen sollte — chinesische Skepsis in Bezug auf das „Greater Middle East“-Projekt dürfte jedoch viel älter gewesen sein als dessen offizielle Verkündung im Juni 2004 auf dem G8-Gipfel in Sea Island. Denn Wladimir Putins berüchtigte „Wutrede“ auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 war nicht die Antwort auf Entwicklungen, die nur drei oder vier Jahre zurücklagen:
„Ich glaube, dass das monopolare Modell für die heutige Welt nicht nur unannehmbar, sondern überhaupt unmöglich ist. […] Die einseitigen und des Öfteren nicht legitimen Handlungen haben kein einziges Problem gelöst. Mehr noch: Sie haben zu neuen menschlichen Tragödien und zu neuen Spannungsherden geführt. Urteilen Sie selbst: Die Kriege sowie die lokalen und regionalen Konflikte sind nicht weniger geworden. […] Dabei sterben in diesen Konflikten nicht weniger, sondern sogar mehr Menschen als früher. Wesentlich mehr“ (7).
Putin meinte damit die Kriege in Afghanistan 2001 und in Irak 2003, vor allem aber die Konzeption einer monopolaren Welt, die zugleich diese Kriege ermöglichte und durch sie verfestigt werden sollte. Es ging aber auch um andere strategische Entscheidungen des Westens, wie den Raketenschild um Russland.
Neue (un)schöne Welt
Die monopolare Weltsicht des Westens brachte weitere Kriege und Begriffsschöpfungen hervor. Im Juli 2006 bereicherte die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice während eines Besuchs in Tel Aviv die Welt um einen weiteren Begriff: New Middle East (Neuer Naher Osten). Während Israel damals einen Krieg gegen den benachbarten Libanon führte, sprach Rice von einem „kreativen Chaos“ in der Region, aus dem ein „Neuer Naher Osten“ hervorgehen sollte:
“Was wir hier sehen, ist in gewisser Weise das Entstehen der Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens, und was immer wir tun, wir müssen sicher sein, dass wir auf einen neuen Nahen Osten hinarbeiten und nicht zum alten zurückkehren“ (8).
Die Idee hinter Projekten wie „Greater Middle East“ oder „New Middle East“ ist genauso alt wie die Ideologie der monopolaren Welt. Anders ausgedrückt: Es ist nur das arabisch-islamische Kapitel des sogenannten „Amerikanischen Jahrhunderts“, das nach dem Fall der Berliner Mauer Ende 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 angebrochen zu sein schien. Eine neokonservative amerikanische Denkfabrik mit großem politischem Einfluss, auch auf die späteren Ereignisse im Nahen Osten, nannte sich zwischen 1997 und 2006 PNAC (Project for the New American Century). Ihre einfachen Prinzipien lauten:
US-amerikanische Führerschaft ist gut für Amerika und die ganze Welt, die multipolare Welt hat nur zu Kriegen geführt und die US-Regierung soll nun Kapital aus ihrer militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit in der neuen unipolaren Welt schlagen (9).
Ein Gang entlang der verschiedenen Fronten im Nahen und Mittleren Osten beziehungsweise eine Auflistung der „Ereignisse“ verschafft dem Beobachter ein klares Bild der seit 1991 im Namen des Amerikanischen Jahrhunderts konsequent geführten Kriege. Die sechs Etappen dieser Kriege mit den Hauptgegnern Russland und China werden im Folgenden beschrieben. Russland sucht in dieser Region den Zugang zu den „warmen Gewässern“, aber auch China ist auf die Energiequellen und Handelswege in dieser Region angewiesen (10).
1) Arabische Halbinsel, Januar 1991: Auf der Arabischen Halbinsel betrug die Zahl der im Nordosten nahe dem ölreichen Kuwait mobilisierten Soldaten einer sogenannten „internationalen Koalition“ im Januar 1991 700.000. Diese kamen zu 75 Prozent aus den USA und Großbritannien. Die Koalition wollte angeblich die irakische Armee vom kuwaitischen Gebiet vertreiben, um Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten vor einem bevorstehenden irakischen Angriff zu schützen. Bei der Operation „Wüstensturm“ griff die Koalition aber auch irakisches Territorium an und zerstörte die Infrastruktur des Irak. Aufgrund der Sanktionen in den Folgejahren starben laut einem Report des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (United Nations International Children’s Emergency Fund, UNICEF) von 1998 hunderttausende Kinder, insbesondere Kleinkinder und Babys (11).
Auf die Frage einer TV-Journalistin im Jahr 1996, ob „es den Preis Wert ist“, den Tod von so vielen Kindern in Kauf zu nehmen, antwortete die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright:
„Ich glaube, das ist eine sehr schwere Entscheidung, aber wir denken, es ist den Preis wert“ (12).
Militärstrategisch gesehen war der Zweite Golfkrieg der Startschuss des Amerikanischen Jahrhunderts, denn bei diesem „Wüstensturm“ ging es um sehr viel mehr als nur um eine Wüste.
2) Afghanistan, Oktober 2001: Im Oktober 2001 begann der Afghanistankrieg, der sogenannte „Anti-Terror-Krieg“ am Hindukusch als Vergeltungs- und „Selbstverteidigungskrieg“ und erstreckte sich unter anderem bis zum Horn von Afrika. Zuvor hatte US-Präsident George W. Bush nur neun Tage nach den Angriffen vom 11. September eine Rede vor dem Kongress gehalten, die als offizieller Auftakt des sogenannten Krieges gegen den Terror in die Geschichte einging. Dieser Krieg wurde zu einem Krieg ohne jede zeitliche oder örtliche Begrenzung:
„Dieser Krieg wird nicht so sein wie der Krieg gegen den Irak vor 10 Jahren mit seiner gezielten Befreiung eines Gebietes und seinem schnellen Ende. […] Wir werden die Finanzquellen der Terroristen austrocknen, sie gegeneinander ausspielen, sie von Ort zu Ort jagen, bis es keinen Ort der Zuflucht oder der Ruhe mehr für sie gibt“ (13).
Laut einer 2015 veröffentlichten Studie der Vereinigung „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (International Physicians for the Prevention of Nuclear War, IPPNW) starben im Krieg gegen den Terror in Afghanistan über 200.000 Menschen und knapp 100.000 in Pakistan (14).
Es ging den Kriegstreibern jedoch auch hier um mehr als nur um reine Terrorbekämpfung.
3) Irak, März 2003: Im März 2003 marschierten circa 250.000 Soldaten, wieder überwiegend aus Großbritannien und den USA, völkerrechtswidrig in den Irak ein, nahmen die Hauptstadt Bagdad im April ein und stürzten Präsident Saddam Hussein unter dem Vorwand einer argumentativen Mischung, in der mal von Massenvernichtungswaffen, mal von Terrorunterstützung oder „Demokratisierung“ die Rede war, wie der Name der Operation „Operation Iraqi Freedom“ (Operation Irakische Freiheit) suggeriert. Eine Untersuchungskommission des britischen Parlaments kam nach sieben Jahren im Sommer 2016 zu folgendem Ergebnis: Die Invasion war übereilt gestartet und schlecht geplant. Noch wichtiger:
„Ein Militäreinsatz war damals nicht das letztmögliche Mittel“ (15).
Ferner hätten die Akteure ignoriert, dass mit Instabilität und Terrorismus zu rechnen war. Der Bericht der Untersuchungskommission ging aber nicht auf die Gründe der vermeintlichen Ignoranz und des „übereilten“ Handelns ein. Geostrategisch gesehen war der Irak-Krieg jedenfalls ein Volltreffer: Zum ersten Mal seit der Kolonialzeit war der Irak als „Energiequelle“ und wichtige Regionalmacht wieder in fester Hand des „freien Westens“.
4) Libyen, März 2011: Im März 2011 begann eine „internationale“ Militäroperation, zwei Tage nach Verabschiedung der Resolution 1973 des UNO-Sicherheitsrates, in der festgestellt wurde, dass es die libyschen Behörden versäumt hätten, sich an die knapp einen Monat ältere Resolution 1970 zu halten. In dieser war die libysche Regierung aufgefordert worden, ihre Zivilbevölkerung zu schützen. Gemeint war die halluzinierte Gefahr eines Massakers, das der Bevölkerung in der von den Rebellen kontrollierten Stadt Bengasi bevorstünde. Aus der Errichtung einer Flugverbotszone unter Verweis auf die „notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung“ in Resolution 1973 wurde etwas ganz anderes — zum Erstaunen von Russland und China, die sich bei der Abstimmung im Sicherheitsrat enthielten. Spät wurde Moskau und Peking klar, dass es den westlichen Kampfjets, die die Operation „Unified Protector“ (einheitlicher Schutz) in Libyen durchführten, nicht um die Durchsetzung einer Flugverbotszone ging. Vielmehr wurde daraus ein Angriffskrieg aus der Luft gegen die libyschen Truppen zugunsten der Rebellen, die Tripolis wenige Monate später eroberten.
5) Syrien, September 2014: Die westlichen Militäroperationen in Syrien im September 2014 fanden, anders als in Libyen, nicht auf Basis des Prinzips der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect) statt. Russland und China blockierten nach den Lehren aus dem Fall Libyen immer wieder entsprechende Resolutionen im Sicherheitsrat. Nun griff Washington auf das Thema der „Terrorbekämpfung“ zurück. Nach der Ausrufung und Expansion des sogenannten „Islamischen Staates“, (IS), im Irak im Sommer 2014 riefen die USA beim NATO-Gipfel Anfang September ein „internationales Militärbündnis“ gegen den IS ins Leben. Ende September 2014 fanden dann in Syrien die ersten Luftangriffe dieser „Internationalen Allianz gegen den IS“ unter Führung der Vereinigten Staaten statt. Die dortige westliche militärische Präsenz, die inzwischen amerikanische, britische und französische Militärbasen im Osten des Landes umfasst, blieb nicht unbeantwortet. Nur ein Jahr später, Ende September 2015 intervenierte auf Bitten Damaskus’ auch Russland militärisch in den Syrien-Konflikt. Seitdem stehen sich Washington und Moskau zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg politisch und militärisch unmittelbar gegenüber.
6) Jemen, März 2015: Nicht nur Russland und China haben aus den Erfahrungen der letzten Jahre gelernt. Auch der Westen, allen voran die USA, hat seine Lehren gezogen, eine davon: Man muss nicht immer alles selbst machen und dadurch internationale Konfrontationen riskieren. So fand die Militärintervention im Jemen Ende März 2015 unter dem Deckmantel einer von Saudi-Arabien geführten „arabischen Allianz“, neben den Saudis bestehend aus Ägypten, Bahrain, Katar, Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Jordanien, Marokko und Sudan. Diese Allianz wird allerdings nicht nur logistisch von den USA, Frankreich und Großbritannien unterstützt. Bereits der Name der Operation verrät den westlichen Ursprung „Operation Decisive Storm“ (Sturm der Entschlossenheit). Offizielles Ziel der Militäroperation ist, die „legitime“ Regierung vor dem vollständigen Zusammenbruch zu schützen und die Übernahme des Staates durch die Huthi-Bewegung, der eine Nähe zum Iran unterstellt wird, zu verhindern. Ohne in innerjemenitische Details einzusteigen, lässt sich feststellen, dass dieser Krieg die westliche militärische Präsenz südlich der Arabischen Halbinsel stärkte. Indirekt wendet sich der Krieg auch gegen den Kandidaten kommender US-Interventionskriege, die Regionalmacht Iran. Die Folgen des Jemen-Krieges sind verheerend:
In einem Ende Oktober 2018 bekannt gewordenen internen Bericht der UNO heißt es, dass bis zu 14 Millionen Menschen im Jemen von Hunger bedroht sind, das entspricht drei Vierteln der Bevölkerung (16).
Fazit
In der Nationalen Verteidigungsstrategie der USA vom Frühjahr 2018 (National Defense Strategy) (17) steht es zum ersten Mal nach Ende des Kalten Krieges explizit schwarz auf weiß: Russland und China sind die Feinde der USA (18). Angesichts der westlichen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten in den letzten fast 30 Jahren klingt das wie ein spätes Geständnis. Nein, nicht die Araber, die Muslime oder gar der Islam, wie viele Bewohner dieser Region lange geglaubt haben, waren das Ziel westlicher Aggression.
Vielmehr ging und geht es immer um westliche geostrategische Interessen gegenüber Russland und China. Nur auf dieser geostrategischen Ebene lässt sich das augenscheinlich widersprüchliche und kontraproduktive Verhalten des Westens in der arabischen und islamischen Welt erklären. Trotz fünf britischer Premierminister und französischer sowie amerikanischer Präsidenten seit 1990 blieb die strategische Ausrichtung des transnationalen „Tiefen Staates“ zur Beherrschung des Nahen und Mittleren Ostens immer konstant und im Geist des Kalten Krieges (19).
Quellen und Anmerkugnen:
(1) https://www.youtube.com/watch?v=n0QMaqpVMAo
(2) Maalouf, Amin: "Der Heilige Krieg der Barbaren". Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber. Eugen Diederichs Verlag, München 1996
(3) https://en.wikipedia.org/wiki/Middle_East_Partnership_Initiative#History
(4) Z. B. in: https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fraum_Mittlerer_Osten
(5) Hinweis des Herausgebers: Ein Ableger der CIA.
(6) https://www.focus.de/politik/ausland/ein-statt-zwietracht_aid_80071.html
(7) https://de.sputniknews.com/meinungen/2007021360672011/
(8) https://www.globalresearch.ca/dem-projekt-eines-neuen-nahen-ostens-kreative-zerst-rung-als-revolution-re-kraft/23196
(9) http://www.newamericancentury.org/
(10) Siehe zu allgemeinen Rolle der Geografie bei geostrategischer Planung Marshall, Tim: Die Macht der Geografie — Wie sich die Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären läßt, Dtv Verlagsgesellschaft, München 2017
(11) https://www.welt.de/debatte/kommentare/article9783521/Der-vergessene-Krieg-gegen-Iraks-Zivilbevoelkerung.html
(12) https://www.youtube.com/watch?v=uJtSpev8zWk
(13) https://usa.usembassy.de/etexts/docs/ga1-092001d.htm
(14) http://www.ippnw.de/frieden/konflikte-kriege/irak/artikel/de/opferzahlen-des-krieges-gegen-den.html
(15) https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-07/irakkrieg-tony-blair-kritik-grossbritannien-chilcot-report
(16) https://www.n-tv.de/politik/UN-warnen-vor-dramatischer-Hungersnot-article20685382.html
(17) https://dod.defense.gov/Portals/1/Documents/pubs/2018-National-Defense-Strategy-Summary.pdf
(18) https://www.cicero.de/usa-verteidigungspolitik-china-russland-europa-deutschland-konflikte
https://dod.defense.gov/Portals/1/Documents/pubs/2018-National-Defense-Strategy-Summary.pdf
(19) „Mehr zur Wirkung und Wahrnehmung dieser strategischen Ausrichtung im Nahen und Mittleren Osten siehe: Suliman, Aktham: Krieg und Chaos in Nahost — eine arabische Sicht. Nomen Verlag, 2. Auflage, München, 2017
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Der Tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet.“ Ullrich Mies (Hg.), Promedia-Verlag, Wien, 2019, Seiten 229 — 242
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