Die NATO am Ende des Kalten Krieges
Mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes wurde auch die Existenzberechtigung der NATO fragwürdig: Denn wo der Gegner ausfällt, gegen den ein Bündnis geschlossen wurde, wird auch dieses selbst hinfällig — es erübrigt sich.
In der geschichtlichen Lagebeurteilung schien der ideologische Ost-West-Gegensatz überholt, die Zugehörigkeit des wiedervereinigten Deutschlands zur NATO eine bedeutungslose Formalie, abgesichert durch das umgekehrte Versprechen, diese würde sich keinen Zentimeter über das Gebiet der ehemaligen DDR ausdehnen. So wurde, wie im Grundsatzprogramm der SPD vom 20. Dezember 1989, die Auflösung der NATO in den Blick genommen. Denn ein militärisches Verteidigungsbündnis schöpft seinen ganzen Sinn, seine Legitimation immer nur aus einer definiten Feindesbedrohung; wo diese ausfällt, verliert es seine Legitimationsbasis — es wird sinnlos.
Die NATO im Dienste der US-Geopolitik
Aber es kam anders; und die geschichtliche Paradoxie besteht gerade darin, dass eine in ihrer ganzen Existenz delegitimierte NATO nicht zerfiel und sich auflöste, sondern im Gegenteil, durch die Aufnahme weiterer Staaten expandierte und zu weltweit einzigartiger militärischer Machtfülle anwuchs, der nur eines fehlte — der Feind.
Wie sich in den Neunzigerjahren abzeichnete, wollte die US geführte NATO den strategischen Machtvorteil, den ihr die Geschichte geschenkt hatte, doch nicht so einfach aus der Hand geben. Und so nahm mit der EU-Erweiterung auch die NATO Expansion gegen Osten ihren Lauf, ohne das Sinnvakuum auch nur ansatzweise durch eine veränderte Sicherheitsarchitektur auszufüllen. Dies hätte in erster Linie Sache der zu neuer Souveränität erwachten europäischen Staatenwelt (EU) sein müssen.
Aber in ihrer Formierungsphase zu schwach, sich gegen die transatlantischen Interessen durchzusetzen, unterwarf sie sich der geopolitischen Strategie der US-geführten NATO, wie sie maßgeblich von Zbigniew Brzeziński formuliert wurde: Die einzig verbliebene Supermacht USA müsse ihr Hegemonialstreben im Namen von Demokratie und Menschenrechte in erster Linie auf Eurasien und das „schwarze Loch“ - den „eurasischen Balkan“ (Ukraine, Georgien, Aserbaidschan) konzentrieren, um die Welt vor einem drohenden Zerfall in internationale Anarchie zu bewahren (1). Das neue Souveränitätsstreben der europäischen Staatenwelt (EU) wurde damit der geopolitischen Aufsicht der Macht unterstellt, gegen die es in erster Linie gerichtet war (USA).
So geriet die EU-Erweiterung wie von selbst zur NATO-Expansion und zementierte ihren geostrategischen Vasallenstatus gegenüber der US-amerikanischen Hegemonialmacht. Indem diese ihre Einflusssphäre vom Schwarzen Meer über die ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken bis hin nach China auszudehnen suchte, um sowohl das rohstoffreiche Russland wie das wirtschaftlich zur Weltgeltung aufstrebende China geostrategisch einzugrenzen, erhielt das „schwarze Loch des eurasischen Balkans“: die Ukraine mit der Krim als Flottenstützpunkt — eine geostrategische Schlüsselstellung.
Expansion und konzeptionelle Neuausrichtung der NATO
Aus diesen geostrategischen Zielsetzungen heraus wird die EU nun von den USA — wie schon zuvor in Sachen Türkei — angehalten, die Ukraine in ihre Erweiterungspolitik einzubeziehen. Denn die europäische Staatenwelt selbst kann von sich aus keinerlei Interesse haben, die Türkei oder gar die Ukraine, die allein schon aufgrund ihres Status in Sachen Korruption und defizitärer Rechtsstaatlichkeit kaum EU-kompatibel ist, zu integrieren; was außer einer erheblichen Finanzlast und kulturell massiven Konflikten keine positiven Rückwirkungen verspricht.
Schon der EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien hatte mehr mit NATO- als mit EU-Interessen zu tun: Über die Erweiterungspolitik der EU bestimmt nicht die europäische Staatenwelt, sondern via NATO die US-amerikanische Geopolitik, die ohne definite Feindesbedrohung lediglich ihren hegemonialen Status gegen mögliche Konkurrenten abzusichern versucht.
Mit der ursprünglichen Konzeption der NATO hat dies nichts mehr zu tun. Gegründet als Institution des Kalten Krieges verwandelt sie sich aus einem realgeschichtlich ernötigten Verteidigungsbündnis zu einer hegemonialpolitischen Interventionsmacht, wie es dem Selbstverständnis der US-amerikanischen Militärdoktrin, nicht aber der europäischen Sicherheitspolitik entspricht.
Denn von zwei Weltmeeren vor allen ausländischen Invasionen geschützt und ohne jede nachbarliche Bedrohungsmacht von Norden oder Süden versteht sich die US-amerikanische Militärpolitik nicht (wie die europäische) aus den Nöten territorialer Landesverteidigung, sondern — im Anschluss an die Monroe-Doktrin von 1823 — als internationale Interventionsmacht, die Krieg immer nur im Ausland führt, nie aber auf eigenem Territorium durchzustehen hat.
So zahlreich die von den USA geführten Kriege auch sind, so hat sie doch nie einen modernen Krieg im eigenen Land erfahren müssen. Nicht territoriale Selbstverteidigung und ihr unermessliches Leiden, sondern extraterritoriale Machtpolitik, an der sich die amerikanische Zivilbevölkerung selbst schadlos hält, bestimmt Konzept und Verfassung der US-amerikanischen Streitkräfte.
Genau dies geht nun über auf das neue Selbstverständnis der NATO und kalkuliert im Grenzfall auch noch das europäische Territorium, nicht aber die USA als Kriegsschauplatz mit ein (2). Aussetzung der Wehrpflicht und Professionalisierung der Streitkräfte zu einer internationalen Eingreiftruppe sind die auch für die Bundeswehr spürbaren konzeptionellen Veränderungen der NATO, die ihre neue Legitimität aus der vermeintlichen Universalmoral von Demokratie und Menschenrechten begründet. Damit tritt sie in die Fußstapfen des missionarischen Sendungsbewusstseins US-amerikanischer Geopolitik. Die NATO-Doktrin verfügt nun über ein weit gestreutes Feld von Feindbildern, die, wo immer die Interessen des Hegemonen bedroht scheinen, aufgerufen werden können. So steht die NATO mittlerweile für nichts anderes als die Instrumentalisierung der EU für die geopolitischen Interessen der USA.
Die Legitimationskrise der NATO und ihre Überwindung
Aber nach wie vor fehlt jede realpolitisch konkrete Feindesbedrohung, die ein so ausgreifendes Militärbündnis legitimieren könnte. Ganz zu Recht konnte deshalb der ehemalige US-amerikanische Präsident Donald Trump noch 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion feststellen, die NATO sei „obsolet“; und der französische Präsident Emmanuel Macron attestierte ihr den „Hirntod“ (mort cérébrale). Es ist dieses existenzielle Sinnvakuum qua Legitimationsdefizit der NATO, das nun mit einem Schlage durch den absehbaren und von langer (westlicher) Hand provozierten Einmarsch Russlands in die Ukraine beendet wurde: Die russische Invasion wird zum lebenserhaltenden Sinnstiftungsunternehmen der NATO, zum „choc éléctrique“, der sie von ihrem „mort cérébrale“ aufweckt — so Macron metaphorisch konsequent auf dem EU/NATO-Gipfel vom 25. März 2022.
Wie immer die schon mit dem Maidan-Putsch militärisch eskalierte geopolitische Auseinandersetzung ausgehen wird (3): Am lange geförderten und endlich wiedergefundenen Feindbild „Russland“ gewinnt die NATO ihre verlorene Legitimität wieder. Das muss geopolitischen Strategen durchaus auch — neben der NATO-Integration der Ukraine — im Blick gestanden haben, zumal das Afghanistan-Debakel die Legitimationskrise der NATO nur noch verschärfte. War es doch schon zweifelhaft, ob angesichts der Terroranschläge vom 11. September 2001 überhaupt ein „Bündnisfall“ vorliege, dessen katastrophales und auch beschämendes Ende alte Zweifler zur Delegitimation des ganzen Bündnisses antreiben könnte.
Insofern war die geopolitische Strategie der NATO, Russland zum Einmarsch geradezu zu nötigen, wollte dieses nach seinem jahrzehntelang eindringlich wiederholten „Njet“ zur NATO-Expansion nicht sein ganzes Ansehen verlieren und als zahnloser Tiger dastehen, den keiner mehr ernst nimmt, ein ausgeklügelter Schachzug, der mehrfachen Gewinn versprach: mit der geostrategischen Einbindung der Ukraine zugleich die neue Selbstlegitimation der NATO, verbunden mit all den wirtschaftlichen Profitaussichten für die US-amerikanische Rüstungsindustrie, ihre Energiewirtschaft (Nord Stream 2) und den gesamten Finanzsektor (4).
Das geostrategische Kalkül, dass Russland zwangsläufig in die Ukraine einmarschieren müsse, wenn sich die ukrainische Militärdoktrin nach der Aufkündigung des Budapester Abkommens (Atomwaffenverzicht) noch den Beistand der NATO zur Wiederherstellung ihrer vollen territorialen Integrität (Krim) sichern könnte (in gröbster Verletzung des Istanbuler Abkommens von 1999), wurde mit der am 10. November 2021 von US-Außenminister Blinken vertraglich in Aussicht gestellten NATO-Vollmitgliedschaft zum Casus Belli zugespitzt (5).
Das Kalkül ging auf, das mit dem westlichen Boykott von Minsk II schon besiegelt war. Denn wie sich zeigte und auch öffentlich bekundet wurde, diente das Minsker Abkommen nur dazu, Zeit zu gewinnen für die Aufrüstung der Ukraine und den absehbaren Krieg mit Russland. Nicht, dass Wladimir Putin „in eine Falle getappt wäre“; ihm wurde lediglich das Gesetz des Handelns aufgezwungen, das er und Russland sich selbst in der Ukrainefrage gegeben hatten.
Es ist die einfache spieltheoretische Wahrheit, dass man den Gegner durch die Herausforderung seiner Glaubwürdigkeit zu einem Handeln zwingen kann, das ihn — zumindest im allgemeinen Ansehen - ins Unrecht versetzen muss (6). Als Alternative bliebe ihm nur, politisch überhaupt nicht mehr ernst genommen zu werden. Was wäre ein Russland, das noch nicht einmal seine eigenen Landsleute in der Ukraine (Donbass, Krim) vor der militärischen Vernichtung durch eine nationalideologische (neonazistische) ukrainische Armee schützen kann?
Die EU in der NATO-Falle
So stehen wir heute vor der kaum zu überbietenden Absurdität, dass die NATO, einst gegründet als territorial verankertes Verteidigungsbündnis gegen den Krieg, nun selbst zum Kriegsgrund wurde; und zwar paradoxerweise einzig und allein dadurch, dass sie sich unter dem Verlust ihrer realpolitischen Legitimationsbasis indefinit gegen ein medial erzeugtes phantasmagorisches Feindbild hin aufbläht. Nicht Russland gefährdet den Frieden in Europa, sondern die NATO durch ihre sinnwidrige Expansion zur Absicherung der geopolitischen Hegemonie der USA.
In der Falle sitzt nicht Putin, sondern die europäische Staatenwelt unter Führung der EU, die es jahrzehntelang versäumte, eine eigene, von USA und NATO unabhängige Sicherheitsarchitektur aufzubauen, die ihren ganz anderen geopolitischen Interessen auch entspricht. Sie wird zum Gefangenen ihrer politischen Unmündigkeit, während die subversiv durch den Maidan-Putsch in den Bürgerkrieg getriebene ukrainische Bevölkerung als Spielball auf dem geopolitischen Schachbrett verheizt und eine ganze Region der Verheerung durch einen weiteren Stellvertreterkrieg preisgegeben wird.
Ob der brillante Schachzug im geostrategischen Kalkül der NATO wirklich so „brillant“ war, wie er sich anbot, wird erst die Geschichte lehren. Seine massenpsychologische Wirkung aber war, wie zu erwarten, die westliche Entrüstung über das russische Unrecht, die das phantasmagorische Feindbild „Russland“ (personifiziert in „Putin“) wieder zu ungeahnter Blüte hervortrieb und den Westen nun zu einer regressiven Identitätsbildung vereinigt, die längst überholt schien: Das politische Souveränitätsstreben der EU wird wieder auf den Vasallenstatus einer Nullgröße zurückversetzt, mehr noch, definitiv den wirtschaftlichen Interessen US-amerikanischer Geopolitik unterworfen.
Das in seltener medialer Einseitigkeit inszenierte Gespenst „Putin“ versetzt das allgemeine Bewusstsein in eine panische Schockstarre, an der alle politische Rationalität in kopflose Übersprungshandlungen zu zerschellen droht. Ein erschreckender Verfolgungswahn ergeht sich gegen alles Russische und lässt, berauscht von seiner moralischen Absolutheit, eine überwältigende Begeisterungswelle militärpolitischer Selbstermächtigung aufschäumen. Wie will man aus all diesen Zerwürfnissen je wieder herauskommen? — Wird die europäische Staatenwelt nicht zwischen USA und Russland zermalmt? — Versetzt die transatlantische Dominanz dem europäischen Souveränitätsstreben nicht den Todesstoß? — Infrage steht, ob und wie sich Europa aus der NATO-Falle befreien kann.
Es sind die Leitmotive der auf Willy Brandt zurückgehenden sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik, die seit den Neunzigerjahren konsequent weiterverfolgt wurden und nun — mit dem Ukrainekrise — zu Unrecht in die Kritik geraten sind.
Der Widerspruch von EU und NATO
Egon Bahr hatte die sicherheitspolitische Achillesferse des europäischen Einigungsprozesses schon frühzeitig erkannt und eingehend analysiert (5). Erfolgt die politische Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft (EU) nicht zuletzt als Gegengewicht zur Vorherrschaft der USA, so untersteht sie doch andererseits: außen- und sicherheitspolitisch — ganz der US-geführten NATO und bleibt als US-Protektorat ohne jede Autonomie und Souveränität. Die Finalität der EU, den Kontinent zu einer politisch eigenständigen Macht herauszubilden, enthält in sich den Widerspruch, sich unter den Bedingungen der Weltmacht zu realisieren, gegen die sie sich notgedrungen formieren muss (USA).
Ein Europa, das sich über die machtpolitische Interessendifferenz von USA und EU täuscht und dem Irrglauben an eine „transatlantische Wertegemeinschaft“ anhängt, kann auch keine von den USA abgekoppelte Sicherheitspolitik betreiben, die den europäischen Raum „von Wladiwostok bis Lissabon“, wie Bahr nicht müde wird, zu betonen, zu einem eigenen außenpolitisch abgesicherten Bereich entwickelt, im Gegenteil: Die Osterweiterung der EU folgt dem geopolitischen Machtstreben der NATO, um beide — EU und NATO — deckungsgleich in die Geopolitik der USA zu verspannen.
Damit wird die NATO „in letzter Konsequenz zum Gegner der gemeinsamen EU Außen- und Sicherheitspolitik“ (8). Die Letztentscheidung der Außen- und Sicherheitspolitik liegt nicht bei der EU, sondern der US-geführten NATO, die mit der Ausdehnung gegen Russland hin ein zwischenstaatliches Vakuum als Gefahrenzone schafft, das inzwischen — mit dem Ukrainekonflikt — auch explodiert ist. Ist der Krieg, wie es heißt, „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, dann wird die EU für eine Außenpolitik in Haftung genommen, an der sie keinerlei Mitspracherecht hat.
Souveränitätsverzicht der Europäer auch in Bezug auf die US-stationierten Atomwaffen in Deutschland: Auch hier liegt die Letztentscheidung über den Einsatz einzig und allein bei den USA. Wer aber Atomwaffen auf seinem Territorium stationiert, ist auch ein potenzielles Angriffsziel anderer Atommächte: Der souveräne Staat sollte deshalb entweder autonom über ihren Einsatz verfügen oder ihren Abzug von seinem Territorium anordnen, da ihre Anwesenheit seine gesamte Bevölkerung dem Risiko der Totalvernichtung aussetzt.
Unter solchen Bedingungen ist eine eigenständige, den europäischen Interessen verpflichtete Außen- und Sicherheitspolitik, unmöglich; die NATO: „Konzeptionslosigkeit ohne Konzept“ eine intellektuelle Zumutung, die jede Ausbildung eines kulturgeschichtlichen Gemeinschaftsbewusstseins noch durch die Aufnahme eines außereuropäischen Staates (Türkei) aushöhlt. So sahen es auch schon Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing. Dies aber heißt:
Die europäische Staatenwelt muss endlich aus dem Schattendasein ihrer Nachkriegsgeschichte heraustreten: ihrer jahrzehntelangen Machtvergessenheit und Anpassungsmentalität, der vasallenhaften Haltung als US-Protektorat und dem bequemen Luxus sicherheitspolitischer Verantwortungslosigkeit (9).
Europäische Sicherheitsarchitektur
So gibt es nach Bahr nur die harte Alternative: Entweder man ist Transatlantiker oder Proeuropäer — beides zusammen geht nicht. Wie lässt sich dann eine rein europäische Sicherheitsarchitektur konzipieren?
Erstens ohne die USA, also entweder durch die gänzliche Auflösung oder strategische Teilung der NATO in einen transatlantischen und europäischen Teil, von denen jeder die volle Souveränität und Autonomie seiner außenpolitischen Interessen wahrnimmt und strategisch absichert.
Zweitens durch die nationalstaatliche Verankerung des Militärwesens in einer allgemeinen Wehrpflicht (mit Alternative: Sozialdienst), die als Sozialisationsmedium gerade in den durch Migration zerfallenden Gesellschaften ein affirmatives Gemeinschaftsbewusstsein erzeugt, das wehrfähig jeder äußeren Übermächtigung entgegenzutreten bereit ist. Also keine supranationale, paneuropäische Armee, sondern ein Verbund von je nationalstaatlich geführten Wehrkräften, die gegen jede territoriale Verletzung eines ihrer Mitglieder zusammenstehen — so wie es die europäische Geschichte schon im Krieg gegen die Mauren, Osmanen und zuletzt die Nationalsozialisten gekannt und erfolgreich praktiziert hat.
Ein solcher rein territorialer Verteidigungsverbund ohne jeden internationalen Interventionsauftrag bedarf auch keiner Feindbilder, um seinen Sinn und seine Legitimität zu begründen: Woher auch immer eine Bedrohung kommen mag, ob Norden oder Süden, Westen oder Osten, oben oder unten — er begründet seine Wehrhaftigkeit rein aus dem Selbstbestimmungsrecht eines nationalstaatlich fundierten Gemeinschaftsbewusstseins, das sich selbst aller imperialen Übermächtigung anderer Staaten enthält.
Der Weg zu einer solchen Sicherheitsarchitektur mag gerade für die in sich zerrissene europäische Staatenwelt ein schwieriger und langwieriger sein, aber immer noch besser, als von den Großmächten selbst zerrissen und als Spielball US-amerikanischer Geopolitik verheizt zu werden. So liegt das Fundament einer europäischen Sicherheitsarchitektur: ihre Absicherung gegen Großmächte — zuallererst im Verzicht darauf, sich selbst als Großmacht konstituieren zu wollen. Dazu bedarf es aber einer politischen Neuorientierung, die sich vom zentralistischen Projekt eines europäischen Bundesstaates als kolonialer Außendienststelle der USA verabschiedet. In diesem Sinne war Gerhard Schröders Weigerung, sich durch die Bush-Administration in den Irakkrieg einbinden zu lassen, ein bedeutendes „Bahr-Zeichen“ neugewonnener deutscher Souveränität (10).
Ob Olaf Scholz angesichts einer medialen Kriegstreiberstimmung das Rückgrat dazu hat, den sozialdemokratischen Weg fortzuführen, wird sich zeigen. Von Macron dürfte er entscheidenden Rückhalt finden, die sicherheitspolitische Souveränität der EU auszugestalten, wenn auch um den Preis ihrer zeitweiligen Dominanz durch die französische Atomindustrie, nicht zuletzt in energiepolitischen Fragen. Die Lösung der aktuellen Ukrainekrise kann nicht in der Stärkung, sondern nur in der Auflösung der (transatlantischen) NATO liegen, die sich nach dem Brexit zunehmend der Dominanz rein angelsächsischer Geopolitik verschreibt.
In diesem Sinne verkündet Elizabeth (Liz) Truss als britische Außenministerin in ihrer Osterrede vom 27. April 2022 „Die Rückkehr der Geopolitik“ (11), die konzeptionelle Umwandlung der NATO zum „Global Player“: Nach der osteuropäischen Expansion der NATO und ihres Einsatzes am Hindukusch stehe nun die indopazifische Region bis ins südchinesische Meer im Blick, um die „Freie Welt“ zu verteidigen (ein überholter Kampfbegriff aus dem Kalten Krieg). Den G-7-Staaten wird dabei die ehrenwerte Aufgabe zugeteilt, als der starke ökonomische Arm der NATO zu fungieren.
Mit europäischer Sicherheitspolitik hat das so wenig zu tun wie mit all den zu Lippenbekenntnissen herabgewürdigten sicherheitspolitischen Versicherungen im OSZE Prozess: Es ist die konsequente Instrumentalisierung der NATO für die US-amerikanische Hegemonialpolitik, die damit zugleich allem Souveränitätsstreben der europäischen Staatenwelt (EU) den definitiven Todesstoß versetzt.
Was von der EU bleibt — nach dem Brexit und eines sich neu herausbildenden angelsächsischen Machtblocks (Großbritannien, USA-Kanada, Australien-Neuseeland), ist eine Ansammlung kontinentaler Bankrotteur-Staaten, deren wirtschaftsmächtigste Zentren (wie Deutschland) transatlantisch um jede Konkurrenzfähigkeit geschliffen dem Wohlwollen Washingtons unterworfen werden: ein weltpolitisches Schattendasein, das noch nicht einmal über seine eigenen Subsistenzbedingungen verfügt und unter der Blendfackel der „Freien Welt“ ihre souveränen Freiheits- qua Selbstbestimmungsrechte einer kopflosen Politik moralischer Befindlichkeiten opfert. Politische Rationalität, die die weiträumigen geschichtlichen Folgen des Stellvertreterkrieges in der Ukraine für die realgeschichtlichen Lebensbedingungen ihrer Bürger im Blick behält, sieht anders aus.
März/April 2022
Nachschlag Oktober 2022
Die kollektive Selbstaufgabe der EU zugunsten der geopolitischen Machtinteressen der USA hätte nicht drastischer ausfallen können. Mit dem terroristischen Angriff auf die Nordstream Pipelines hätte nun auch die EU ihr 9/11 und könnte den Bündnisfall ausrufen, stünde nicht die Führungsmacht der NATO selbst unter dringendem Tatverdacht, der politisch wie medial so gut es nur geht abgedrängt und vernebelt wird.
Die politische Selbstenthauptung der EU bekräftigt ihren bedingungslosen Vasallenstatus noch im suizidalen Projekt einer Sanktionspolitik, die ihre wirtschaftliche Autonomie weitgehend aushöhlt und der hegemonialen Führungsmacht übereignet, um sich von ihr in einen Vernichtungskrieg hineintreiben zu lassen, der auf europäischem Territorium ausgetragen nur den Untergang seiner gesamten geschichtlichen Lebenskultur bedeuten könnte.
Infrage steht damit die mentale Verfassung der politischen und medialen Führung Europas, die unter Absage an jede politische Rationalität und intellektuelle Redlichkeit auch in der Beurteilung internationaler Völkerrechtsfragen die Grundlagen der europäischen Existenz selbst aufs Spiel setzen (12).
Bei einem labilen Konstrukt wie der EU, das noch ohne geschichtliche Ausbildung eines solid geeinten Selbstbewusstseins auch keine politische Souveränität, kein Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch zu nehmen und noch weniger zu praktizieren wagt, ist es einer externen Großmacht ein Leichtes, die innereuropäischen Gegensätze gegeneinander auszuspielen und sich vor einem phantasmagorisch erzeugten Schreckgespenst „Russland“ selbst als Schutzmacht zu inszenieren, die Sicherheit garantiert und von aller Eigenverantwortung entlastet (divide et impera). Einer Eigenverantwortung, die durch die seitens der EU zentralistisch betriebene Erosion nationalstaatlicher Identität ohnehin zum politischen Niemandsland geworden ist und den Hang zur kollektiven Unterordnung zum transatlantischen Credo erhebt. Welche Perspektiven zeichnen sich ab?
Die nun offiziell erklärten Kriegsziele des „kollektiven Westens“, das heißt der USA: „Regime Change“ in Moskau und „Dekolonisierung“ Russlands, das heißt Abspaltung (Sezession) der rohstoffreichen transuralischen Regionen zu selbstständigen, unter westlicher Führung stehenden Kleinstaaten, sind ohne atomares Weltkriegsszenario zweifellos illusorisch, mit einem solchen aber erst recht.
Die feste Einbindung und bedingungslose Vasallentreue der europäischen Staaten aber ist die Grundbedingung für die US-amerikanische Geopolitik, Russland überhaupt entscheidend schwächen und zur politischen Implosion treiben zu können. In diesem Sinne diente die Zerstörung der Nordstream Pipelines der Absicherung gegen unsichere oder wankelmütige Kandidaten, die aus ihren eigenen geopolitischen Interessen heraus — oder schlicht dem Überlebensdruck der Bevölkerung nachgebend — der Versuchung erliegen könnten, aus der selbstzerstörerischen Sanktionspolitik auszusteigen.
Daran aber zeigt sich zugleich die ungeheure Macht der EU, der es ein Leichtes wäre, der US-amerikanischen Geopolitik mit einem entschiedenen „No“ entgegenzutreten: Denn ohne ihre aktive Mitwirkung im Rahmen der NATO wäre die Eskalation des regional begrenzten Ukrainekonflikts zu einem geopolitischen Stellvertreterkrieg zwischen USA und Russland nicht möglich. Dass sie auf diese Macht verzichtet, und zwar unter Preisgabe ihrer eigenen territorialen Sicherheit und deren ökonomischen Lebensbedingungen, setzt die europäische Staatenwelt der Gefahr einer grundumstürzenden Revolution all ihrer Institutionen aus, die nicht nur die politischen und medialen Eliten hinwegfegen, sondern nur in der Auflösung der transatlantischen NATO und dem Kollaps der politischen EU-Konstruktion samt Euro enden kann.
Vom Ende her gedacht stehen wir am Anfang einer Revolution, die über die geschichtliche Existenz Europas entscheiden wird; und es liegt auf der Hand, dass eine europäische Friedensordnung mit Russland überhaupt nur möglich werden wird, wenn das durch den Westen zerbrochene Vertrauen durch eine gänzlich erneuerte politische und mediale Führungsschicht auf einer neuen Grundlage wieder hergestellt wird.
Und was bleibt von der Ukraine? — Wenn der Staatshaushalt der Ukraine schon jetzt durch den Westen vor dem Zusammenbruch und erklärten Staatsbankrott bewahrt wird, und die Kriegsfinanzierung durch Schuldverschreibungen an Land („Land Grabbing“), Rohstoffen und Schlüsselindustrien den Ausverkauf der Ukraine, die feindliche Übernahme durch westliche Unternehmen — hier zu „Solidarität“ umdeklariert — besiegelt, dann bleibt der Ukraine im Fall ihres Bestehens gegen Russland nur die Schuldknechtschaft gegenüber dem Westen. Was Wunder, wenn er alles daran setzen wird, das bestehende Regime in Kiew an der Macht zu halten, um seine massiven Investitionen in die Ukraine nicht zu verlieren.
Denn bei einem „Regime Change“ in Kiew wären all diese Investitionen verloren, da die Überschuldung zur Sache einer verfassungsmäßig illegitimen Regierung und einer ebenso illegitimen Einmischung westlicher Staaten in ihre inneren Angelegenheiten erklärt würde. Die gesamten kriegsbedingten Schulden würden also von einer Anti-Selenskyj-Regierung für nichtig erklärt — die Schuldknechtschaft wäre abgewendet und die Ukraine wirtschaftlich frei und unabhängig.
Auch wenn es Ultra-Nationalisten der Ukraine noch nicht dämmert — der Sturz des Selenskyj-Regimes ist der einzige Ausweg aus der absehbaren westlichen Schuldknechtschaft in eine freie und selbstbestimmte Ukraine, die als neutrale Pufferzone zwischen EU und Russland produktive Verhältnisse nach beiden Seiten pflegen kann. Wie immer der Krieg ausgehen wird: Der Tag wird kommen, an dem die Ukrainer das Selenskyj-Regime verfluchen und zum Teufel wünschen werden; und mit ihm den ganzen „Westen“.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vergleiche Zbigniew Brzeziński, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Weinheim/Berlin 1997. Der englische Originaltitel „The grand chessboard“ bekennt sich ausdrücklich zum geopolitischen Machtspiel; in diesem Geiste fortgesetzt von George Friedman: Die größte Gefahr für die angelsächsische Hegemonie sei die Vereinigung von deutscher Technologie und russischem Rohstoffreichtum, weshalb jede gegenseitige Annäherung durch Sanktionspolitik (gegen Technologietransfer/Rohstofflieferung, siehe Nordstream 2) zu verhindern sei. Nicht die Russlandpolitik Deutschlands und seine Energieabhängigkeit ist das Problem, sondern die Geopolitik der US-geführten NATO, die zur eigenen Machtsicherung auf deutsch-russische Verwerfungen setzt.
(2) So schon im Wettrüsten Anfang der Achtzigerjahre (SS 20/Pershing), als die US-amerikanische Strategie die Territorien von DDR und BRD für den Fall eines atomaren Schlagabtausches einplante, also die Totalvernichtung Deutschlands. Nicht anders dürfte es auch aussehen, wenn nun die NATO in den Ukrainekrieg eingriffe.
(3) Vergleiche zum Maidan-Putsch Ivan Katchanovski, The Maidan massacre in Ucraine. A survey of analysis, evidence and findings. 2016; zum Einsatz von NGOs als subversive „Regime Change“-Agenten und dem subversiven Netzwerk „Otpor“ (Belgrad) Thomas Fasbender, Wladimir W. Putin. Eine politische Biografie. Landt Verlag 2022, Seite 361 und folgende, basierend auf Gene Sharp, Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung. München 2008.
(4) Zur politischen Genese des Ukrainekonflikts Willy Wimmer, Deutschland im Umbruch, Vom Diskurs zum Konkurs - ein Land wird abgewickelt. zeitgeist 2018;, Gabriele Krone-Schmalz, Eiszeit, Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist. München 2017; Daniele Ganser: https://www.youtube.com/watch?v=_sMfNmx0wKo; John Mearsheimer: https://www.youtube.com/watch?v=JrMiSQAGOS4 sowie
https://www.youtube.com/watch?v=1H0rCqaGtJw.
Wie Mearsheimer ausführt, ist die Ukraine durch Ausbildung, Aufrüstung und Teilnahme an gemeinsamen NATO-Manövern schon de facto, wenn auch nicht de iure, NATO-Mitglied. Hinzukommt, dass mit der seitens der USA vollzogenen Aufkündigung der Abrüstungsverträge (ABM und INF) ein strategisches Ungleichgewicht erzeugt wurde, das von Russland nur als zusätzliche Bedrohung seiner Sicherheitslage gewertet werden kann.
(5) Ob dies mit den anderen NATO-Mitgliedern und der EU abgesprochen oder ein US-amerikanischer Alleingang war, vielleicht auch, um den aufkeimenden Skandal um Hunter Bidens Geschäfte in der Ukraine zu verdecken, ist bislang unbekannt. Russlands darauffolgender letzter Versuch, ein Sicherheitsabkommen mit der NATO zu schließen, wurde von dieser kaltschnäuzig abgelehnt.
(6) Zur völkerrechtlichen Beurteilung des Ukrainekonflikts vergleiche vom Verfasser: Der Ukrainekonflikt im Lichte des Völkerrechts. Multipolar, 5. November 2022,.
(7) Das Folgende nach: Egon Bahr, Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik. München 1998.
(8) Ebenda, Seite 36.
(9) Fortgeführt in Egon Bahr: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal. München 2003. Ostwärts und nichts vergessen. Freiburg 2015; vergleiche vom Verfasser: Real- statt Moralpolitik. Zu Ehren von Egon Bahr. TUMULT, 16. Dezember 2018,.
(10) In der Linie von Egon Bahr haben sich nun auch Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für die deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. München 2022; dazu siehe Neue Zürcher Zeitung vom 11. März 2022, sowie Gerhard Schröder in der Rede in Kocaeli/Türkei am 24. März 2022 zu Wort gemeldet. Gute sachliche Analyse der Problemsituation auch in ökonomischer Hinsicht von Michael Lüders.
(11) Elizabeth (Liz) Truss, Rede der Außenministerin beim Osterbankett des Lord Mayor, Mansion House am 27. April 2022 „The return of geopolitics“; deutsch: „Die Rückkehr der Geopolitik“.
(12) Das Sezessionsrecht der russischsprachigen Gebiete von der Ukraine wird nun — nach acht Jahren Bürgerkrieg und dem Scheitern von Minsk II — auch völkerrechtlich geltend gemacht, vergleiche etwa David C. Hendrickson, „Souvereignty’s other half: How International Law bears on Ukraine“ . Dazu vom Verfasser: Der Ukrainekonflikt im Lichte des Völkerrechts, Multipolar, 5. November 2022,.
Weiterführende Lektüre:
Komplementär zu diesem Essay, erschien ein Artikel des Autors zum Thema „Völkerrecht/Ukraine“ auf Multipolar: https://multipolar-magazin.de/artikel/ukraine-konflikt-volkerrecht
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