Der Fall Assange nahm am 23. Mai, sechs Wochen nach seiner Verhaftung in London, eine neue und dramatische Wendung. An diesem Tag gab das US-Justizministerium bekannt, die Anklage entscheidend zu erweitern und sich nun auf den „Espionage Act“, das amerikanische Spionagegesetz, zu berufen.
Dieses Gesetz wurde 1917, kurz nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg beschlossen und stellt den Verrat von militärischen Geheimnissen unter Strafe. Die Regierung wandte es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig gegen Sozialisten, Kriegsgegner und politische Dissidenten an. In den letzten Jahren, während der Amtszeiten von Obama und Trump, zielten die Ermittlungen meist auf Whistleblower, die illegale Aktivitäten der Regierung aufgedeckt hatten.
Das Spionagegesetz appelliert an die Geschlossenheit der Nation angesichts eines äußeren Feindes. Der damalige US-Präsident Woodrow Wilson warb für das Gesetz seinerzeit mit den Worten, es richte sich gegen Bürger, die „das Gift der Untreue“ verbreiteten und „die Autorität und das Ansehen der Regierung in Verruf“ brächten. Solche „Kreaturen der Untreue und Anarchie“ müssten „zerschmettert“ werden. Es gäbe zwar nicht viele von ihnen, diese aber wären „unendlich bösartig“, weshalb „die Hand unserer Macht sich über ihnen schließen“ sollte.
Die martialische Wortwahl passt gut zum aktuellen Fall, denn auch das Vergehen von Julian Assange besteht vor allem darin, das Ansehen der amerikanischen Regierung beschädigt zu haben. Genau an dieser Stelle wird es heikel, da ein Staat, der so argumentiert, nicht gleichzeitig die Pressefreiheit garantieren kann – die ja vor allem darin besteht, Dinge zu veröffentlichen, die den Mächtigen nicht gefallen.
Um diesem Widerspruch auszuweichen, erklärt das US-Justizministerium, Assange sei gar kein Journalist. Glenn Greenwald entgegnete dazu Ende Mai in der Washington Post:
„Die Pressefreiheit betrifft alle, nicht bloß eine ausgewählte, privilegierte Gruppe von Bürgern, die ,Journalisten‘ genannt werden. Wenn Ankläger selbst entscheiden können, wer unter den Schutz der Presse fällt und wer nicht, dann schrumpft die Pressefreiheit zur Freiheit einer kleinen, abgeschlossenen Priesterklasse privilegierter Bürger, die von der Regierung zu Journalisten ernannt werden. (…) Falls die Anklage gegen Assange Erfolg hat, liefert sie die perfekte Vorlage, den denkbar schlagkräftigsten Präzendenzfall, um Journalismus in den USA zu kriminalisieren. Sobald einmal etabliert ist, dass es nicht länger als Journalismus gilt, sondern als Spionage, mit Quellen zusammenzuarbeiten, um geheime Informationen zu veröffentlichen, wird es unmöglich sein, dieses bedrohliche Prinzip zu begrenzen.“
Greenwald erinnert in diesem Zusammenhang an eine höchstrichterliche Einschätzung zum sogenannten „Ersten Verfassungszusatz“, mit dem in den USA die Pressefreiheit garantiert wird. So betonte 1978 der damalige Oberste Richter der USA, Warren Burger, in einem Essay:
„Kurz gesagt, der Erste Verfassungszusatz ,gehört‘ zu keiner definierbaren Kategorie von Personen oder Einrichtungen: Er betrifft alle, die seine Freiheiten nutzen.“
Tatsächlich steht das Wort „Pressefreiheit“ historisch gesehen dafür, dass Regierungen nicht die Verbreitung von Informationen behindern dürfen, wie zum Beispiel mittels einer Druckerpresse. Es geht dabei nicht um eine Personengruppe („die Presse“), sondern um die Möglichkeit der uneingeschränkten Verbreitung von politisch relevanten Informationen. Genau das tut WikiLeaks – und steht damit in direkter Tradition zu denjenigen Bürgern, die in früheren Jahrhunderten eine Druckerpresse nutzten, um Missstände öffentlich bekannt zu machen.
Wer dem Argument „Assange ist kein Journalist“ folgt, der stellt das Prinzip der Pressefreiheit auf den Kopf. Wenn erst eine staatliche Autorität darüber entscheidet, wer durch die Pressefreiheit geschützt ist, dann ist keine unabhängige Kontrolle der Regierung denkbar, und damit auch keine funktionierende Demokratie.
Das Schweigen der deutschen Medien
Genau darum geht es bei der aktuellen Kontroverse – einer Debatte, die in englischsprachigen Leitmedien lebhaft geführt wird, im deutschen Mainstream aber so gut wie nicht existiert. Hierzulande wurde zwar über die Anklage gegen Assange berichtet, doch war kaum ein Journalist willens oder in der Lage, die Tragweite des Falls zu erfassen und zu benennen. Die Einschätzung des Rechtsprofessors Jonathan Turley, eines der renommiertesten und bekanntesten Juristen der USA, derzufolge die US-Regierung gerade „den vielleicht wichtigsten Pressefreiheitsfall der letzten 300 Jahre“ ausgelöst habe, wurde in deutschen Redaktionsstuben lediglich mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen, war jedenfalls kein Thema für eigene Analysen und Kommentare.
Dieser mediale Totalausfall gerade beim Thema „Pressefreiheit“ gibt zu denken. Hierzulande sehen etablierte Alpha-Journalisten offenbar wenig Nutzen in einer Verteidigung der Pressefreiheit. Anscheinend haben viele von ihnen den Eindruck, nicht auf der gleichen Seite zu stehen wie Julian Assange. Damit dürften sie recht haben. In dem vor wenigen Tagen erschienenen Buch „Freiheit für Julian Assange!“ legt Mathias Bröckers den Finger in die Wunde:
„Julian Assange hat mit seiner Whistleblower-Plattform den investigativen Journalismus in eine neue Dimension katapultiert und auf den Ruinen einer von Macht- und Wirtschaftsinteressen völlig korrumpierten ,vierten Gewalt‘ eine Institution begründet, die dem Wächteramt der Presse wieder nachkommt: WikiLeaks. (…) Wenn eine solche Einrichtung nun als kriminell erklärt und ihr Gründer und Kopf als Schwerverbrecher inhaftiert ist, hat das mit den Grundsätzen der Aufklärung und demokratischer Rechtsstaaten nichts mehr zu tun – es ist der Rückfall in die Barbarei absolutistischer Herrschaft.“
Bröckers weist darauf hin, dass die Whistleblowerin Chelsea Manning sich, bevor sie mit WikiLeaks Kontakt aufnahm, mit ihren Enthüllungen zuerst an die New York Times und die Washington Post gewandt hatte, die aber beide ablehnten. Die Leitmedien agieren als Filter, als „Gatekeeper“ (Torwächter), die Regierungskritik nur wohldosiert durchlassen. WikiLeaks bedroht diese Filterfunktion. Es ermöglicht Whistleblowern, der Öffentlichkeit ungefilterte Informationen zukommen zu lassen. Der britische Journalist und Ex-Botschafter Craig Murray schreibt dazu:
„Es gibt eine interessante Parallele in der Reaktion auf die Gelehrten der Reformation, die die Bibel in die Landessprachen übersetzten und der Bevölkerung direkten Zugang zu ihren Inhalten gaben, ohne die vermittelnden Filter der Priesterklasse.“
Da viele Mainstream-Journalisten sich in dieser „Priesterklasse“ wohlig eingerichtet haben und ihre Nähe zur Macht mit Wohlverhalten erkaufen, ist ihnen ein „Outlaw“ wie Julian Assange hochgradig suspekt. Ihn zu verteidigen, fällt ihnen schwer, stellt er doch auch sie selbst und das Ausmaß ihrer eigenen Korruption bloß. Wo Leitmedien selbst die Funktion einer Staatspartei übernehmen, da wird Pressefreiheit zur hohlen Phrase.
Bezeichnend erscheint auch das Schweigen der Bundesregierung zum Fall. Unmittelbar nach der Festnahme von Assange danach befragt, wie man die Sache bewerte, antwortete Regierungssprecher Steffen Seibert, dazu könne er „keine Auskunft“ geben. Asyl für Assange in Deutschland? Seibert: „Diese Frage stellt sich für uns nicht.“
Kanzlerin Angela Merkel und auch der selten um große Worte verlegene Außenminister Heiko Maas schweigen zu diesem massiven Angriff auf die Pressefreiheit durch den „großen Bruder“. Wäre der Dissident in Russland angeklagt, sähe das wohl anders aus.
Tiefenstaat gegen WikiLeaks
Wer aber steckt nun hinter der Anklage gegen Assange und insbesondere dem im Mai getroffenen Entschluss, sich dabei auf das Spionagegesetz zu berufen und damit die Pressefreiheit frontal anzugreifen? Der erste Blick fällt auf Trumps neuen Justizminister William Barr. Dieser ist ein lupenreiner Vertreter des Tiefenstaates mit lange zurück reichenden Wurzeln hinein in den Apparat.
Barr, Jahrgang 1950, ist der Sohn eines Lehrers, welcher zeitweise für den CIA-Vorläufer OSS arbeitete. Barr Junior wurde Jurist und in den 1970er Jahren selbst CIA-Mitarbeiter. Lange bevor Trump ihn 2019 in die Regierung holte, amtierte er von 1991 bis 1993 schon einmal als Justizminister, damals unter George Bush dem Älteren. In dieser Zeit war Barr mit diversen Aktionen des Tiefenstaates befasst. So verantwortete er 1991 die Aufarbeitung des Skandals um die BCCI, damals eine der größten Privatbanken der Welt, über die Geldwäscher, Waffenhändler und Geheimdienste ihre Finanztransaktionen regelten.
Die CIA entpuppte sich damals als tief in diese „Weltbank des Verbrechens“ (O-Ton DIE ZEIT verstrickt, während der Ex-CIA-Mitarbeiter Barr als Justizminister die „Aufklärung“ leitete. Als einer seiner engsten Mitarbeiter bei der Untersuchung agierte damals Robert Mueller, der heutige Gegenspieler Donald Trumps. Mueller und Barr, zwei Schwergewichter des Tiefenstaates, sind bis heute befreundet. Trump versucht derzeit, zwischen diesen Power-Playern zu navigieren, ist aber selbst mehr Getriebener als Akteur.
Barr war es auch, der schon vorher, 1989, als juristischer Chefberater des Präsidenten, mit einem Gutachten die US-Invasion in Panama und die Festnahme des Präsidenten Noriega rechtfertigte, sowie überhaupt die Festnahme von Personen im Ausland („rendition“) ohne Zustimmung der dortigen Regierung. 1992 genehmigte er außerdem eine breit angelegte Telefonüberwachung der Auslandsgespräche amerikanischer Bürger, ein Vorläufer der Abhörprogramme nach 9/11.
Mit all diesen Entscheidungen steht Barr exemplarisch für eine Sichtweise, derzufolge die Macht einer Regierung und insbesondere eines Präsidenten kaum beschränkt sein sollten. Demokratie und Transparenz erscheinen aus der Perspektive dieses (ungewählten) Tiefenstaates, eines korrupten Geflechts aus Regierung, Konzerninteressen und Geheimdiensten, immer suspekt.
In dieser Tradition agiert Justizminister Barr auch beim aktuellen Kampf gegen WikiLeaks. Es geht dabei nicht allein gegen die Person Julian Assange, sondern viel allgemeiner um die grundlegenden Prinzipien, nach denen Politik und Gesellschaft gelenkt werden. Die Alternativen sind klar: entweder mehr Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit der Regierung – oder aber noch mehr Geheimhaltung und autoritäre Macht.
Zu diesem Konflikt, dessen Ausgang die Politik maßgeblich beeinflussen wird, zu schweigen, weil man das Verhalten von Julian Assange „zweifelhaft“ findet oder seine Person „merkwürdig“, ist angesichts dessen keine besonders überzeugende Position. Oder, um es mit den Worten von Mathias Bröckers zu sagen:
„Hallo Journalistinnen und Journalisten und alle, die ,irgendwas mit Medien‘ machen. Bitte vergewissert euch, um was es im Fall Assange und WikiLeaks wirklich geht. Es geht nicht um irgendeinen Freak, der irgendwelche Geheimpapiere publiziert hat, sondern um die rechtliche Grundlegung eurer Arbeit.“
Mathias Bröckers, „Freiheit für Julian Assange! Don't kill the messenger“, 128 Seiten, Westend Verlag.
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