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Jenseits der Komfortzone

Jenseits der Komfortzone

Gefahren sollten nicht als etwas genuin Schlechtes betrachtet werden, sondern als Herausforderungen, an denen wir wachsen können.

Und Odysseus schaute lange sorgenschwer auf sein Schiff, die Gefährten und das weite wogende Meer und wählte seine Worte wohlbedacht: „Ich denke, das ist zu gefährlich. Wir bleiben hier!“

Ein Lobgesang auf die Gefahr — der Titel verstört Sie? Hervorragend! Darauf können wir aufbauen! Ja, die Formulierung klingt provokant und genau das soll sie angesichts des aktuellen Primats des Sicherheitsgedankens auch sein. Der Konsens lautet seit Längerem: alles für die Sicherheit — Helme, Handschuhe, Handbücher, Gurte, Masken, Konzepte, Vorschriften, Verordnungen, Gesetze, weil wir davon ausgehen, dass Sicherheit durchweg gut ist, dass es gar nicht sicher genug sein kann und jeder Preis dafür nur recht und billig ist.

Die Sicherheit ist das Wichtigste und jedes Opfer muss fraglos erbracht werden in einer Solidargemeinschaft. Ihre Verteidigung rechtfertigt jedes Mittel — auch die Gewalt. Schutz ist omnipräsent und erstes Gebot.

Auch der Natur und ihren Phänomenen wohnen unkalkulierbare Gefahren inne, gegen die der Mensch mit seiner überlegenen Intelligenz stetig neue Sicherheitsmaßnahmen ergreifen muss.

Ja, ich provoziere ein bisschen, Sie dürfen mich später steinigen, zuerst möchte ich noch meine Ode vollenden ... Dass ich Odysseus zur Verdeutlichung meines Anliegens heranziehe, möge mir verziehen sein, es ist nicht nur der Umstand, dass wir seiner Risikobereitschaft ein Kulturgut zu verdanken haben und im Bücherregal einen schicken Folianten, sondern vielmehr ein veritables Beispiel für den bewussten Entschluss, ein Risiko einzugehen, eine Herausforderung anzunehmen, bei der so ziemlich nichts sicher ist — außer treuen Gefährten im Boot und listiger Gattin daheim.

Es ist eine Heldenreise, in deren Verlauf Schwierigkeiten zu überwinden, Schätze — womöglich gar ein Gral — zu finden, ein jungfräuliches Wesen (m/w/d) zu retten, mächtige Gegnerinnen zu besiegen sind und nach bestandenen mannigfaltigen Prüfungen gewachsen, gereift und zu guter Letzt geehrt und vielbesungen mit in gebotener Bescheidenheit gewölbter Heldenbrust auf einem Sockel Platz zu nehmen ist.

Zentral ist dabei die innere Reifung des Helden, Wachstum seiner Tugenden, Tapferkeit Loyalität, Selbstdisziplin. Tamino musste schweigen, offenbar eine der schwersten Übungen, Orpheus durfte sich nicht umsehen, selbst solch eine Kleinigkeit kann halt auch ganz übel schiefgehen. Initiationsriten enthalten übrigens ähnliche Momente, ein gefährliches Tier ist zu erlegen, Schmerzen sind auszuhalten, eine spirituelle Erfahrung muss bewältigt werden … Eine positive Entwicklung bedarf der Konfrontation mit Gefahren.

Nun sind Helden heutzutage eine eher spärlich gesäte Gattung und einen Gral findet man auch nicht an jeder Ecke, nicht einmal bei amazon kann man ihn in den Warenkorb legen.

Daher für uns Mittelmäßige hier eine Nummer kleiner:

Würden Sie Ihr Kind auf einen knorrigen Baum klettern lassen, dessen Äste garantiert nicht TÜV-zertifiziert sind, wie die schönen bunten Geräte auf dem Spielplatz nebenan? Oder ist nicht sogar ein mit Fernseher und Computer ausgestattetes Kinderzimmer ein noch viel sichererer Ort? Dieser Logik scheinen viele Eltern zu folgen, wenn man die schwindende motorische Kompetenz von Kindern sieht, die bei einfachsten Bewegungsabläufen wie Hüpfen und Rückwärtsgang überfordert sind — wie Kinderärzte unisono konstatieren.

Und einen Baum zu erklimmen wird mit dem zunehmenden Übergewicht ohnehin viel zu beschwerlich...Was hier übrigens neben der körperlichen Gesundheit psychologisch in dieser Schein-Sicherheit Schaden nimmt, ist die sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung, aus der das entsteht, was man landläufig als „stabiles Selbstbewusstsein“ kennt im Gegensatz zum Beispiel zum hohen, aber instabilen narzisstischen Selbstbild. Stellen Sie sich spaßeshalber eine Mutter vor, die nicht „Sei vorsichtig!“ sondern „Trau Dich, riskier was!“ hinter ihrem Kind herruft.

Wir brauchen Herausforderungen, Risiken, Anstrengungen, Frustrationen, Blessuren!

Und Charles hielt sein fertiges Manuskript in Händen, dessen enormes Gewicht er nicht nur physisch spürte. Die Gedanken darin enthielten Sprengstoff, den er nicht zuletzt dank seines Theologiestudiums sehr genau einzuschätzen vermochte. „Das wird richtig Probleme geben. Einen schweinemäßigen Affenzirkus.“ Er blickte auf das knisternde Kaminfeuer und mit einem entschlossenen Wurf landete die Seiten in den Flammen, „The Origin of Species“ gab dem kleinen Raum wohlige Wärme.

Sie durchschauen meine Absicht: Ich möchte den evolutionären und entwicklungspsychologischen Vorteilen von Gefahr eine Lanze brechen. Wussten Sie übrigens, dass durch Kaiserschnitt geholte Kinder, die so schön glatt und unzerknittert direkt aus dem mütterlichen Bauch in die Welt gelangen, dafür einen Preis zahlen in Form von höheren Risiken für Asthma und Übergewicht? Selbst diese erste Gefahr auf dem Weg ins Leben scheint uns physiologisch von Nutzen zu sein. Und dass Viren uns attackieren, ist eine für unsere Immunkompetenz lebenserhaltende Trainingssituation. Das überzeugt Sie alles nicht?

O.k. Dann wechseln wir den Fokus. Wie wäre es mit dem Thema Lust.
Sich in Gefahr zu begeben, kann Lust bereiten. Schauen Sie auf die Intensivstationen, wo Motorradfahrer und Reiter zusammengeflickt beieinander liegen. Fragen Sie Drachenflieger, Kletterer, Taucher, Skifahrer oder ihr Kind, ob es den Tiger oben auf der Bühne einmal streicheln möchte oder in die Achterbahn. Es soll auch Menschen geben, die an riskanten Sexualpraktiken große Freude finden — oder sich selbige zumindest im Kino gern ansehen.

Experimentelles Aufgeben von Sicherheit, um sie schließlich wiedergewinnen zu können — so bezeichnen Psychologen dieses Phänomen, die Angstlust.

Der Nervenkitzel, eine Mischung aus Furcht und der Hoffnung auf einen guten Ausgang, die eigenen Fähigkeiten in einem Grenzbereich auszuloten, neu zu erfahren vielleicht zu erweitern, Selbstvertrauen dabei zu gewinnen und starke Emotionen, die uns das Leben spüren lassen — ohne ein Quäntchen Gefahr nicht realisierbar! Es scheint in uns angelegt ... oder denken Sie, es hätte doch jemand die Erfinder des Rades rechtzeitig auf die vielen zu erwartenden Unfallopfer hinweisen sollen? Warum müssen diese Erfinder und Forscher sich und uns nur immer wieder in Gefahr bringen?!

Und Wilbur und sein Bruder Orville schauten sich nachdenklich an, dann lange in den wolkengeschmückten Himmel. Beide besahen ihre wundersame fragile Konstruktion aus Holz, Leim und Stoff, wie es nie zuvor eine gegeben hatte. „Wir lassen den Apparat am Boden. Wie dieser verrückte Lilienthal wollen wir nicht ins Gras beißen!“ Aus den Latten zimmerten sie einen unvergleichlichen Gartenzaun, um den jeder im Ort die Wrights beneidete.

Anschnallen bitte, hier kommt mein letztes Argument! Verhaltensforscher haben herausgefunden, dass die besten Lernerfolge zu verzeichnen sind, wenn trotz der überwiegenden Hoffnung auf Erfolg auch eine gewisse Gefahr des Scheiterns droht, die Furcht vor Misserfolg induziert. Allein mit rosigen Aussichten und Heilsversprechen ist der träge Mensch nur mittelmäßig zu motivieren, die Prise eines bedrohlichen Szenarios erst bringt den motivationalen Kick: Ob Sitzenbleiben oder Fegefeuer, die Bereitschaft, sich anzustrengen, ist höher, wenn Gefahr ins Spiel gebracht wird.

Aber keine Sorge, auch mit ausschließlich positiven Anreizen kann man leidlich gute Ergebnisse erzielen und sicherlich haben Sie kein Problem damit, in einem Flugzeug ihre Reise anzutreten, das in einem einigermaßen guten und tiefenentspannten Betriebsklima der Fehlertoleranz produziert wurde. Besonders da Sie nun die innere Akzeptanz dafür entwickelt haben, dass Gefahr einfach zum Leben dazugehört.

Entschuldigung, ein kurzer zynischer Schub, ich reagiere leider derzeit etwas aversiv auf Sicherheitsfetischisten, auch oder gerade wenn sie es nur gut meinen. Ja — mich faszinieren Menschen mit Mut und Risikobereitschaft, die sich aus Neugierde in Gefahr bringen, Wissbegierige, die gegen den Strom schwimmen, besessene Künstler, verwegene Abenteurer, Star Rover, couragierte Unternehmer. Ja, wir brauchen auch die Sicherheitsbeauftragten — übrigens ein Archetyp, den C. G. Jung meines Erachtens nach vergessen hat. Aber wenn sie die Alleinherrschaft oder die Majorität bilden, kann ihre Vorstellung von Sicherheit uns langfristig einiges kosten.

Darf ich Sie nun ihrem ungewissen Schicksal überantworten mit einigen völlig antiquierten Zeilen eines verstaubten Gedichtes, das Ihnen zumindest die Angst vor Gefahren aus der Natur vielleicht etwas zu nehmen vermag:

„Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn.“

(Schiller)

Bleiben Sie frohen Mutes!


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