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Kooperation statt Konkurrenz!

Kooperation statt Konkurrenz!

Das Leben entwickelte sich nicht im Krieg aller gegen alle, sondern durch Kooperation. Exklusivabdruck aus „Der symbiotische Planet“.

There is no Silence in the Earth – so silent
As that endured
Which uttered, would discourage Nature
And Haunt the World

(Kein Schweigen ist auf Erden – so still
Wie das, welches von Dauer war
Gebrochen, wär’ es die Zerrüttung der Natur
Und die Heimsuchung der Welt)

Propriozeption – die Wahrnehmung von Bewegung und räumlicher Orientierung aufgrund von Reizen aus dem Körperinneren – ist ein Begriff aus der Medizin. Das Wort ist nicht sonderlich geläufig, aber das Phänomen kennen wir alle. Unsere Propriozeptoren teilen uns ununterbrochen mit, dass wir gerade aufstehen, den Kopf neigen, mit den Augen zwinkern oder die Faust ballen.

Das Sinnessystem der Propriozeptoren nimmt keine äußeren Informationen über andere Menschen oder die Umgebung auf, sondern solche aus dem Körperinneren. Mit den Muskeln verbundene Nerven feuern Impulse ab, wenn sie Bewegungen wie beispielsweise eine Veränderung der Körperhaltung bemerken. Diese Selbstüberwachungsnerven teilen uns mit, ob wir auf den Füßen oder auf dem Kopf stehen und ob der Bus, in dem wir uns befinden, gerade hält oder mit 50 Stundenkilometern die Straße entlangzuckelt.

Die Erde besitzt ein solches propriozeptives System schon seit vielen Jahrtausenden – es war vorhanden, lange bevor sich die Evolution der Menschen vollzog. Kleine Säugetiere teilen einander mit, ob ein Erdbeben oder ein Wolkenbruch bevorsteht. Bäume setzen »flüchtige« Substanzen frei und warnen damit ihre Nachbarn, dass Schwammspinnerraupen ihre Blätter angreifen.

Die Propriozeption, das Gespür für das eigene Ich, ist vermutlich so alt wie das Ich selbst. Ich neige zu dem Gedanken, dass wir Menschen Gaias vorhandene Propriozeptionsfähigkeiten verbessern und verstärken. Über einen Waldbrand auf Borneo und den Absturz eines amerikanischen Hubschraubers in den italienischen Alpen berichten die Fernsehnachrichten in New York. Aber schon die ausgestorbenen Wolfsrudel und die Dinosaurierherden früherer Zeiten hatten ihre eigene propriozeptive, soziale Kommunikation; das Nervensystem des Globus gibt es sicherlich nicht erst seit der Entstehung der Menschen.

Das Kommunikationssystem der Erde

Gaia, die physiologisch regulierte Erde, verfügte über eine weltweite propriozeptive Kommunikation, lange bevor sich die Menschen entwickelten. In der Luft verbreiteten sich die von tropischen Bäumen abgegebenen Gase und flüchtigen Substanzen ebenso wie paarungsbereite Insekten und lebensbedrohende Bakterien. Die Frühlingsbrise trägt seit der Urzeit den Duft der Liebe mit sich. Aber mit Beginn des elektronischen Zeitalters hat sich die Propriozeption gewaltig verstärkt.

Auf der zweiten Gaia-Konferenz – sie trug den Titel »Gaia in Oxford« und fand im April 1996 in England statt – trafen sich Wissenschaftler und Umweltschützer, um über Superorganismen zu diskutieren. Stellt das gesamte Leben auf der Erde einen einzigen Superorganismus dar? Ist das Leben ein einziges, sich selbst regulierendes Gebilde namens Gaia? Beschwört die hartnäckig vertretene Theorie vom Superorganismus eine tröstliche, aber wissenschaftlich unbegründete Vorstellung von weltweiter Harmonie herauf?

Solche Gedanken tauschten die etwa 40 Teilnehmer untereinander aus und gelangten schließlich zu einem Entschluss: Sie gründeten an der East London University die Geophysiology Society. Zu meiner Freude wurde diese Entscheidung Ende 1997 rückgängig gemacht: Gaia lebt; die Geophysiologie ist tot. Die neue Organisation nennt sich jetzt Gaia: The Society for Research and Education in Earth System Science.

Die wissenschaftliche Gesellschaft Gaia wurde am 9. Februar 1998 in der Zentrale der Royal Society in London aus der Taufe gehoben. Der Biologe E. O. Wilson, ein weltweit führender Experte für biologische Vielfalt und Spezialist für Ameisen, ihr Sozialverhalten und ihre technischen Fähigkeiten, schickte ein Videoband mit einer Begrüßungsansprache. Dass die formelle Gründung am Standort einer der ältesten und angesehensten wissenschaftlichen Gesellschaften der Welt vollzogen wurde, war für die Gaia-Theorie ein riesiger Erfolg. Und auch die per Fernsehen übertragene Begrüßung durch einen angesehenen Harvard-Professor, der die Gaia-Fans auf unserer Seite des Atlantiks repräsentierte, war ein kluger Schachzug. Die verstärkte Kommunikation unter möglichen Vertretern der Gaia-Wissenschaft kann nur dazu beitragen, dass wir uns bewusst werden, wie wenig wir eigentlich über die Erdoberfläche, auf die wir so entscheidend angewiesen sind, wissen.

Im Gegensatz zu einer vielfach erhobenen Behauptung besagt die Gaia-Hypothese nicht, die Erde sei »ein einziger Organismus«. Aber die Erde hat im biologischen Sinn einen Körper, der durch komplizierte physiologische Vorgänge am Leben erhalten wird. Leben ist ein Phänomen von globalen Ausmaßen, und die Erdoberfläche ist seit mindestens drei Milliarden Jahren lebendig.

Die Anmaßung der Menschen, Verantwortung für die lebende Erde zu übernehmen, erscheint mir lächerlich – es ist die Rhetorik der Machtlosen. Unser Planet sorgt für uns, nicht wir für ihn. Unser aufgeblasenes moralisches Gebot, eine widerspenstige Erde zu zähmen oder unseren kranken Planeten zu heilen, zeigt nur unsere maßlose Fähigkeit zur Selbsttäuschung. In Wirklichkeit müssen wir uns vor uns selbst schützen.

Die zentrale Gestalt auf der Konferenz von 1996 war James Lovelock, der Urheber der Gaia-Hypothese. Lovelock behauptete Anfang der siebziger Jahre als Erster, das Leben als Ganzes optimiere seine Umwelt zu seinem eigenen Nutzen. Die Biologen nörgelten über das Wort optimieren. Wie, so schimpften sie, sollte das Leben irgendetwas planen können?

Der Vater der Gaia-Hypothese

Die Vorstellung von einer lebendigen Erde hatte Lovelock schon Mitte der sechziger Jahre, lange bevor ich ihn kennenlernte – er war damals Berater der NASA und arbeitete an der Entwicklung von Methoden, Leben auf dem Mars nachzuweisen. Dabei wurde ihm klar, dass das Leben auf jedem Planeten die vorhandenen Substanzströme – auf der Erde also Atmosphäre, Meere, Seen und Flüsse – nutzen muss, um die lebensnotwendigen Elemente in einen Kreislauf zu bringen. Nährstoffe mussten geliefert und Abfälle entsorgt werden.

Auf einem belebten Planeten mussten nach seinen Überlegungen ganz andere chemische Vorgänge ablaufen als auf einem unbelebten. Er erkannte, dass man selbst vom Weltraum aus chemische Widersprüche in der Erdatmosphäre beobachten kann. Unsere Atmosphäre enthält dafür, dass Methan vorhanden ist, viel zu viel Sauerstoff. Eine Mischung aus diesen beiden Gasen ist sehr reaktionsfähig, und sie könnten in einer derart hohen Konzentration nicht nebeneinander existieren, wenn ihre Mengen nicht aktiv aufrechterhalten würden. Auch zahlreiche andere Gase sind in sehr unwahrscheinlichen, höchst instabilen Mischungsverhältnissen vorhanden. Wasserstoff und sogar Stickstoff reagieren in Gegenwart von Sauerstoff explosionsartig, und doch existieren sie in der Erdatmosphäre nebeneinander.

Schon als Lovelock sich zum ersten Mal mit der Frage nach Leben auf dem Mars herumschlug, hatten Analysen mit erdgebundenen Teleskopen gezeigt, dass der rote Planet im Gegensatz zur Erde eine stabile Atmosphäre aus reaktionsträgen Gasen besitzt. Daraus zog Lovelock den richtigen Schluss, dass es heute dort kein Leben geben kann. Natürlich flog die Viking-Sonde dennoch zum Mars mit dem Auftrag, Leben zu finden. Als ihr Landemodul 1976 seine Daten zur Erde übermittelte, bestätigte sich nach meiner Überzeugung nur die Voraussage, die Lovelock aufgrund der Gaia-Theorie gemacht hatte.

Nun wandten sich Lovelocks Überlegungen der Erde zu. Als unabhängiger Wissenschaftler, der von den akademischen Hauptströmungen isoliert und gleichzeitig befreit war, verfolgte er seine Interessen auf seine eigene Weise. Er ist ein höchst fruchtbarer Erfinder; sein wichtigster Beitrag ist die Elektronenfalle, ein Nachweisgerät, das mit einem Gaschromatographen verbunden wird; es dient dazu, in der Luft die Konzentration bestimmter reaktionsfähiger Gase wie beispielsweise der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zu messen.

Lovelocks Gerät wurde von Hewlett Packard optimiert und in großem Umfang verkauft. Es verhalf Sherwood Rowland und Mario Molina vom Massachusetts Institute of Technology 1995 zum Nobelpreis für Chemie, denn sie konnten damit nachweisen, wie Gase aus Spraydosen und ähnlichen Quellen in der Stratosphäre reagieren und die Ozonschicht zerstören.

Aber das war nicht Jims einzige Leistung; unter anderem bestätigte er auch die These, die Rachel Carson mit ihrem Buch »Der stumme Frühling« weltweit bekannt gemacht hatte: Pestizide haben tiefgreifende Auswirkungen. Eine Zeitlang beschäftigte er sich in Großbritannien beim Medical Research Council (MRC) mit Kryobiologie (Biologie der tiefen Temperaturen) und entwickelte dabei eine Methode, Tiere und ihre Samenzellen einzufrieren und wieder aufzutauen.

Zum Auftauen gefrorenen Materials verwendete er eine selbstkonstruierte Kammer, eine Art Mikrowellenofen (allerdings ließ er seine Erfindung nicht patentieren; die Erteilung eines Patents, ein langwieriger, kostspieliger Vorgang, ist unübersichtlich und stark gesellschaftlich geprägt – und genau solche Tätigkeiten meidet Lovelock).

Als Jim sich der Frage zuwandte, wie sich das Leben auf die Erdatmosphäre auswirkt, verfolgte er seine wissenschaftlichen Interessen ohne Unterstützung irgendeiner Institution und ohne Forschungsgelder. Er stürzte sich einfach hinein und führte Messungen an Gasen auf eigene Kosten durch. Die Kommunikation mit Kollegen und Studenten ließ er aber nie einschlafen. Das Ergebnis seiner unermüdlichen Tätigkeit war die Gaia-Theorie.

Wir korrespondieren seit Anfang der siebziger Jahre. In einer seiner ersten Antworten auf meine Briefe schrieb Jim, das Methan mache ihm Sorgen. Warum ist dieses Gas, das mit Sauerstoff so heftig reagiert, immer in messbaren Mengen in der Erdatmosphäre vorhanden? Eigentlich müsste es verschwinden.

Das Rülpsen der Rinder

Als Ursache hatte er von Anfang an das Leben in Verdacht und fragte mich nun, ob ich wüsste, woher dieses Gas möglicherweise stammen könnte. Meine Antwort hätte jeder geben können, der in der Mikrobiologie bewandert ist: Methan wird von Bakterien produziert, vor allem von den Methanogenen, die in wasserdurchtränktem Boden und im Pansen von Rindern leben. Ihr Stoffwechselprodukt wird in üppigen Mengen freigesetzt, und zwar nicht nur (wie ich immer geglaubt hatte) in Form der Darmgase von Kühen, sondern auch durch ihr Rülpsen. Methan gelangt durch den Mund von Kälbern, Stieren und Kühen in die Luft. In der Atmosphäre reagiert es dann sehr schnell mit Sauerstoff zu Kohlendioxid. Das Methan in der Luft wird ganz offensichtlich dauernd nachgeliefert, denn es ist immer in einer Konzentration von zwei bis sieben ppm (parts per million) vorhanden. Nun war Lovelock klar, dass die Methankonzentration in der Atmosphäre durch Lebewesen aufrechterhalten wird, und die Vermutung, dass eine ähnliche Regulierung auch bei anderen Gasen stattfindet, lag nahe.

Geologische Befunde lassen darauf schließen, dass unser Planet sich im Laufe der letzten drei Milliarden Jahre abgekühlt hat. Andererseits behaupten die Astronomen nachdrücklich, die Sonne, ein ganz durchschnittlicher Stern, habe an Helligkeit zugenommen. Demnach hätte sie die Erdoberfläche während ihrer langen Vergangenheit eigentlich immer weiter aufheizen müssen. Temperaturen und Atmosphäre, so Jims Überlegung, müssen in weltweitem Maßstab reguliert werden. Nachdem er erkannt hatte, dass diese lebenswichtigen Umweltbedingungen aktiv gesteuert werdenmüssen, gelangte er zu der Ansicht, das Leben selbst erhalte sich seine Umwelt aufrecht.

Mit einem aus der Physiologie entlehnten Begriff wies Lovelock darauf hin, die Umwelt auf unserem Planeten befinde sich im Zustand der Homöostase. Genau wie unser Organismus, der nach Art aller Säugetiere in seinem Inneren trotz wechselnder Umgebungsbedingungen eine relativ konstante Temperatur aufrechterhält, sorgt auch das System Erde für gleichbleibende Temperatur und Zusammensetzung der Atmosphäre.

Technisch gesprochen, so schrieb Lovelock, wird die Temperatur der Atmosphäre durch negative Rückkopplung im Bereich eingestellter Werte gehalten. Seine Behauptung, das Leben »stelle die Umgebungstemperatur optimal ein«, wurde missverstanden: Man kritisierte sie oder nahm sie – der häufigere Fall – einfach nicht zur Kenntnis. Lovelock selbst hielt sein planetares Regulationssystem zunehmend für unverzichtbar, wenn man das Leben auf der Erde verstehen wollte.

Auf den Begriff Gaia kam Lovelock durch den Schriftsteller Wiliam Golding, Autor des Buches »Der Herr der Fliegen«. Beide wohnten Anfang der siebziger Jahre in Bowerchalke in der englischen Grafschaft Wiltshire. Lovelock fragte seinen Nachbarn, ob man die umständliche Formulierung »ein kybernetisches System mit einer Neigung zur Homöostase, nachgewiesen durch chemische Anomalien in der Erdatmosphäre« nicht durch einen Begriff ersetzen könne, der »Erde« bedeutet. »Ich brauche ein gutes Wort mit vier Buchstaben«, sagte er. Auf Spaziergängen durch diesen wunderschönen, ländlichen Teil Südenglands mit seinen Kalkhügeln schlug Golding den Namen »Gaia« vor. Es ist die altgriechische Bezeichnung für die »Mutter Erde« und die etymologische Wurzel vieler wissenschaftlicher Begriffe wie Geologie, Geometrie und Panagl.

Esoteriker entdecken »Gaia«

Der Name kam nur allzu gut an. Umweltschützer und Leute mit religiösen Neigungen, denen die Vorstellung von einer ursprünglichen, machtvollen Göttin attraktiv erschien, sprangen auf den Zug auf und gaben Gaia eine eindeutig unwissenschaftliche Nebenbedeutung. Im Jahr 1996, kurz vor der Tagung in Oxford, schlug Jim den Begriff »Geophysiologie« vor: Gemeint war damit die Wissenschaft von der Erdoberfläche als Organismus, in der Geologie und Biologie »eng gekoppelt« sein sollten.

Viele Naturwissenschaftler stehen Gaia – sowohl dem Wort als auch der Idee – nach wie vor ablehnend gegenüber, vielleicht weil darin so viel Wissenschaftsfeindlichkeit und unvernünftiges Gerede anklingt. Soweit der Begriff in der volkstümlichen Kultur überhaupt geläufig ist, versteht man darunter die Mutter Erde als ein einziges Lebewesen.

Angeblich wird uns Gaia, eine lebendige Göttin jenseits alles menschlichen Wissens, für alle Verletzungen und Wohltaten, die wir der Umwelt und damit ihrem Körper zufügen, bestrafen oder belohnen. Diese Personifizierung finde ich sehr bedauerlich.

Wie Jim in seiner Theorie über das Planetensystem im Einzelnen dargelegt hat, ist Gaia kein Lebewesen. Jedes Lebewesen muss entweder fressen oder durch Photosynthese beziehungsweise Chemosynthese seine eigenen Nährstoffe herstellen. Alle Lebewesen produzieren Abfälle. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik spricht in dieser Hinsicht eine klare Sprache: Damit die Organisation eines Körpers aufrechterhalten wird, muss Energie aufgewandt werden, die als Wärme verlorengeht. Kein Organismus kann sich von seinen eigenen Abfällen ernähren.

Gaia, die lebende Erde, geht weit über jeden einzelnen Organismus und auch über jede einzelne Population hinaus. Die Abfälle des einen Lebewesens sind die Nahrung des anderen. Das Gaia-System unterscheidet nicht zwischen der Nahrung des einen und den Abfällen des anderen, sondern führt Materie auf globaler Ebene der Wiederverwertung zu. Das System Gaia erwächst aus mindestens zehn, vielleicht auch mehr als 30 Millionen untereinander verbundener, lebender Arten, die seinen unaufhörlich aktiven Körper bilden. Und das irdische Leben ist keineswegs empfindlich oder bewusst wehleidig, sondern höchst widerstandsfähig.

Sämtliche Lebewesen gehorchen, ohne es zu wissen, dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik: Alle suchen nach Quellen für Energie und Nahrung, alle produzieren nutzlose Wärme und chemische Abfälle. Das ist ihr biologisches Gebot. Jeder Organismus wächst und setzt dabei viele andere in seiner Umgebung unter Druck. Gaia, die Summe des Lebens auf der Erde, lässt eine Physiologie erkennen, die wir als Umweltregulation bezeichnen. Gaia selbst ist kein Lebewesen, das durch unmittelbare Selektion gegenüber vielen anderen bevorzugt wurde, sondern eine sich entwickelnde Eigenschaft, die aus den Wechselbeziehungen zwischen den Lebewesen, dem kugelförmigen Planeten, auf dem sie zu Hause sind, und der Sonne als Energiequelle erwächst.

Die Erde braucht den Menschen nicht

Außerdem ist Gaia ein sehr altes Phänomen. Ihr weltweites System besteht aus Billionen wimmelnder, fressender, sich paarender, Abfälle ausscheidender Wesen. Die zähe alte Gaia ist durch die Menschen keineswegs bedroht. Das Leben auf der Erde hatte schon mindestens drei Milliarden Jahre überstanden, bevor ein lebhafter Menschenaffe, der sich nach einem relativ haarlosen Partner sehnte, überhaupt vom Menschsein zu träumen begann.

Wir müssen ehrlich sein. Wir müssen uns von unserer artspezifischen Arroganz befreien. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass wir jene einzigartige, »auserwählte« Spezies sind, für die alle anderen gemacht wurden. Und wir sind auch nicht die wichtigste Spezies, nur weil wir so zahlreich, mächtig und gefährlich sind. Unsere hartnäckige Illusion von einer besonderen göttlichen Fügung steht im völligen Widerspruch zu unserer wahren Stellung als aufrecht gehende, kümmerliche Säugetiere.

In der volkstümlichen Kultur bringen die verworrenen Vorstellungen von Gaia mythologische Saiten zum Klingen. Gaia rührt an unsere Sehnsucht nach Sinn in einem kurzen irdischen Leben. Eine falsch dargestellte Gaia unterstützt einen modernen Puritanismus, die feministischen Predigten über die Gefahren einer »Vergewaltigung« und Zerstörung der sonnenbeschienenen Erde. Seit vielen Jahrhunderten personifizieren wir die Natur.

Es ist schon auffällig, wie Wissenschaftsfeinde und Medienmacher sich der Gaia-Theorie bemächtigt haben. Die einen machen die Naturwissenschaft, die nur ein Weg zur Erkenntnis ist, für die Auswüchse der Technik verantwortlich, die anderen bedienen sich der Wissenschaft, um damit ihre rücksichtslose Geschäftemacherei in Sachen Fernsehen und Presse zu rechtfertigen. Aber auch wenn die Gaia-Theorie vergröbert, übertrieben oder missbraucht wurde: Sie bedeutet nicht nur Naturschutz oder Rückkehr zur Göttin.

Gaia ist die regulierte Erdoberfläche, die unaufhörlich neue Umgebungen und neue Lebewesen hervorbringt. Aber die Erde ist nicht menschlich, und sie gehört den Menschen auch nicht. Trotz allen Erfindungsreichtums kann keine menschliche Kultur das Leben auf unserem Planeten auslöschen, auch wenn wir es versuchen würden.

Als physiologisch regulierte Gaia ist die Erde weniger ein einziges lebendes Gebilde als vielmehr eine gewaltige Menge interagierender Ökosysteme, und damit geht sie weit über alle einzelnen Lebewesen hinaus. Der Mensch ist nicht der Mittelpunkt des Lebens, ebenso wenig wie irgendeine andere Spezies. Der Mensch ist für das Leben nicht einmal wichtig. Wir sind ein ganz neuer, schnell wachsender Teil eines riesengroßen, uralten Ganzen.

Gaia ist weder die große Feindin noch die große Ernährerin der Menschheit; sie ist nur ein passender Name für ein weltweites Phänomen: die Regulierung von Temperatur, Säure-Base-Gleichgewicht und Gaszusammensetzung. Gaia ist die Summe interagierender Ökosysteme, die auf der Erdoberfläche ein einziges gewaltiges Ökosystem bilden. Mehr nicht.

Den Fossilfunden zufolge hat das Leben auf der Erde in seiner dreimilliardenjährigen Geschichte zahlreiche Katastrophen überstanden, die ebenso groß oder noch größer waren als die Detonation aller heute gelagerten 5.000 Atombomben. Leben, insbesondere bakterielles Leben, ist zäh. Seit jeher speist es sich aus Krisen und Zerstörung. Gaia schluckt die ökologischen Krisen ihrer Bestandteile, reagiert hervorragend darauf und wird angesichts der neuen Notwendigkeiten zur Mutter neuer Erfindungen.


Der symbiotische Planet


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