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Martin Schulz, der AfD-Schock und die Mitbestimmung

Martin Schulz, der AfD-Schock und die Mitbestimmung

Sozialdemokratie reagiert mit Personality-Show und Wohlfühl-Offensive auf Arbeitnehmerflügel der Rechten. Zum Schutz von Betriebsräten und Gewerkschaftern hat die SPD nichts auf Lager.

von Edgar Wiese

Eins hat Martin Schulz schon geschafft: Er hat das Dauertief namens Sigmar verdrängt. Ob Hoch Martin tatsächlich mehr ist als eine kurze Gutwetter-Periode vor der nächsten Regenfront, dürfte vor allem davon abhängen, wie vergesslich das Wahlvolk insgesamt ist, wie stark die arbeitende Bevölkerung tatsächlich an der Leine von Bild, BamS und Glotze hängt, wie groß das Bedürfnis nach Vergebung - der SPD-Sünden - ist, die Hoffnung auf Läuterung der "großen alten Dame SPD" und auf Führung durch einen "Mann aus dem Volke".

Wer halbwegs bei Trost ist und so etwas wie ein politisches Gedächtnis besitzt, wird einem drögen Apparatschik wie Martin Schulz jedenfalls nicht über den Weg trauen, der als linientreuer Parteisoldat der SPD-Rechten über den Umweg Brüssel und Straßburg irgendwie nach oben gerutscht ist.

Aber wer ist schon halbwegs bei Trost in diesen trostlosen Zeiten? Und wer mag heutzutage noch den lästigen Ballast eines politischen Gedächtnisses mit sich herumschleppen? Vier schmerzhafte Stichwörter zur Erinnerung: Agenda 2010, EU-Spardiktat, Griechenland, CETA. Schulz stand in diesen wichtigen Fragen immer auf der dunklen Seite der Macht. Immerhin: Im weitgehend kompetenzfreien EU-Parlament hat er einst Silvio Berlusconi verbal Paroli geboten. Das ist schon mehr, als die meisten der anderen üppig alimentierten Bankdrücker dort je hinbekommen werden. Laut Google war das im Juli 2003. Danach kam nicht mehr viel.

Drohender Aufstand in der rechten Herzkammer der Sozialdemokratie

Mit ihren zaghaften Andeutungen, die Agenda 2010 leicht anzupassen und eventuell ein wenig gerechter gestalten zu wollen, ist die wiedergeborene Schulz-SPD dabei keineswegs auf ihre Abspaltung Die Linke zugegangen – diese hätte vermutlich am linken Rand des parlamentarisch Möglichen noch ewig weiter gegen die Agenda 2010 krakeelen können.

Was die Sozialdemokratie mehr geschockt haben dürfte, ist das drohende Erwachen und Erwachsen eines AfD-Arbeitnehmer- und Gewerkschafts-Flügels aus der rechten Herzkammer der Sozialdemokratie – dem Heartland of Social Democracy. Das ist der Ruhrpott. In diesem Fall konkret: Essen, Sitz von Ruhrkohle AG, ThyssenKrupp, RWE, Aldi-Nord und der Funke-Mediengruppe (WAZ). Home of Ente Lippens, Helmut Rahn und Georg Melches (falls sich hier jemand für Fußball interessiert).

Im Januar 2017 gründete sich die Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer in der AfD (AVA) - stilbewusst in der Zeche Nachtigall in Witten. Der AVA-Spitzenmann für NRW heißt Guido Reil und kommt aus Essen. Er ist ein Bergmann, IG BCE-Gewerkschafter und enttäuschter SPD-Ratsherr, der im Juni 2016 zur AfD übertrat. Reil wurde dem deutschen TV-Publikum mit freundlicher Unterstützung des WDR-Moderators Frank Plasberg präsentiert. Dessen Sendung "hart aber fair" bot Reil am 5. November 2016 die große Bühne, um den rechtschaffenen, ideologisch rechtsdrehenden Arbeiter zu geben, der die Sprache des Volkes spricht und angeblich dessen Nöte versteht. Dazu passt auch Uwe Witt, der Bundesvorsitzende der AVA. Er hat früher bei Thyssen gearbeitet und war Mitglied der IG Metall.

Die Verlängerung des Bezugs von ALG I zum Zwecke der Qualifizierung, wie sie SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles jetzt ins Spiel brachte („Arbeitslosengeld Q“), ist eine Forderung, die die AVA kurz zuvor ins AfD-Programm für den NRW-Wahlkampf hieven konnte. Ebenso taucht die Begrenzung von Werkverträgen auf.

Von Trump lernen heißt siegen lernen?

Der AfD-Arbeitnehmerflügel ist derzeit noch schwach ausgeprägt und besitzt wenig Profil – was auch ein Vorteil sein kann. Wer nichts Konkretes verspricht, muss sich auf nichts festnageln lassen. Merkwürdigerweise existieren innerhalb der AfD momentan sogar zwei Vereinigungen, die sich beide als Arbeitnehmerflügel der rechten Sammlungsbewegung verstehen - analog zur Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD (AfA) oder zur Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft in der CDU (CDA). Die mit der AVA konkurrierende Vereinigung innerhalb der AfD heißt "Arbeitnehmer in der AfD" (AidA). Während der Name der AVA sich sprachlich eng an die AfA der SPD anlehnt, ist der Name AidA eine durchaus intelligente Parodie auf ver.di. (Aida ist eine der bekanntesten Opern des Komponisten Guiseppe Verdi.)

Beide Arbeitnehmer-Vereine in der AfD stehen bislang in keinem erkennbaren inhaltlichen Widerspruch. Aus Interviews mit Reil und Witt lässt sich vermuten, dass die AVA getragen wird von rechten, standorttreuen und wirtschaftsfriedlichen DGB-Gewerkschaftern sowie gelben bzw. management-treuen Betriebsratsmitgliedern, ferner von älteren Arbeitern und Angestellten, die ihr Leben lang geschuftet haben, nun unter dem Stigma von (drohendem) Hartz IV leiden und sich nach unten abgrenzen möchten von vermeintlichen "Hartz-IV-Schmarotzern", Flüchtlingen, Bulgaren, Rumänen und angeblich "Arbeitsscheuen".

Dazu passt auch die Forderung von AidA, die Bezugsdauer von ALG I für Beschäftigte zu verlängern, die mindestens 20 Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, und drei Jahre für solche, die über 55 Jahre alt sind und 25 Jahre ‚geklebt‘ haben. Viel ist das nicht. Die Zielgruppe wäre demnach mit "Arbeitsspartanern" und lebenslangen Fleißdrohnen ziemlich überschaubar; die zu erwartenden Mehrkosten gering. Das Reförmchen ginge am bösartigen Kern der Hartz-Gesetze - etwa den Zumutbarkeits- und Sanktionsregelen für ALG II - vollkommen vorbei und dürfte auch für ein aggressives Unternehmertum tragbar erscheinen.

Vergiss Szene-Städte und Hipster-Hochburgen! Du musst den Ruhrpott, Bremerhaven und das Saarland gewinnen!

Es gibt mehrere Lehren, die offenbar von Strategen verschiedenster Lager aus der erfolgreichen US-Präsidentschaftskampagne von Donald Trump gezogen wurden. Eine wäre: Scheiß auf New York, San Francisco und Chicago - also die liberalen und gewerkschaftlich aktiven Zentren, die ohnehin traditionell links wählen. Du musst Ohio und Michigan gewinnen! Eben das Kernland, den Rostgürtel, die vernachlässigten Zonen früheren Arbeiterstolzes, wo trotz allem noch Werte wie Ehrlichkeit, Solidarität, harte Arbeit, Zuverlässigkeit, Fleiß, Bescheidenheit und eine direkte Sprache zählen.

Trump konzentrierte sich voll auf eben diese abgewickelten Industriestandorte, die von der urbanen Elite der USA jahrelang als Fly-over-Countries belächelt und deren Bewohner arrogant als Rednecks und Hillbillies abgetan wurden.

Daher dürfte der Versuch der SPD rühren, mit Martin Schulz eine Figur aufzubauen, die der AVA im ehemaligen Kernland der SPD erfolgreich entgegentreten kann. Auch wenn die steife Sprache Schulzens, die stark von SPD, Bürokratie und EU-Parlament geprägt ist, sehr weit entfernt ist von den prolligen Tiraden eines Donald Trump. Für deutsche Verhältnisse reicht es vermutlich, wenn man sich nicht ganz nach unten bückt, sondern den "kleinen Leuten" nur ein Stück weit entgegenkommt.

Schulz hat zwar nie in der Kohle- oder Stahlindustrie gearbeitet, er kommt auch nicht aus dem Pott, aber zumindest aus der ehemaligen Bergarbeiterstadt Würselen im Aachener Revier. Seine Sprachfärbung ist rheinisch, was bundesweit gut ankommt. Er stammt tatsächlich - wie vor ihm Gerhard Schröder und Joschka Fischer - aus der Arbeiterklasse. Der Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart mokierte sich sogar öffentlich darüber, dass der Kanzlerkandidat Schulz kein Abitur habe und leistete damit unfreiwillig Schützenhilfe bei der Erschaffung des neuen Hoffnungsträgers. Martin Schulz gelang es außerdem geschickt in Interviews zu platzieren, dass er früher mal Alkoholiker und Arbeitsloser gewesen sei und daher wisse, wie es sich anfühle, ganz unten gewesen zu sein. Jeder verdiene eine zweite Chance. Nach solchem Balsam auf ihrer Seele haben wohl viele gedürstet.

Die AfD dürfte von Trump gelernt haben, dass eine große Menge widersprüchlicher Aussagen, selbst die Existenz paralleler Organisationen wie AVA und AidA, in Zeiten des medialen Dauerbombardements nicht mehr als absurd, unausgegoren und unseriös gelten muss, sondern zum entscheidenden Vorteil gereichen könnte.

So kann sich jedeR aus einem Sammelsurium an Botschaften und Versprechungen das herauspicken, was er oder sie gern hören und im überstrapazierten Gedächtnis behalten möchte.

AfD will gelben Anti-Betriebsrats-Mob gesetzlich verankern

An einer Stelle lassen die Arbeitnehmer in der AfD dann doch mal die Hosen runter und zeigen ihren nackten Arsch. Während der DGB im Jahr 2016 reichlich spät eine Kampagne "Stop Union Busting!" eröffnete, die sich - leider sehr halbherzig - gegen die systematische Zermürbung von Betriebsräten richtet, fordert AidA das genaue Gegenteil: Die Stärkung von gelben Mobs aus der Belegschaft, die vom Management und von Union Busting-Beratern dazu angeleitet und angestachelt werden, während der Arbeitszeit Unterschriften gegen demokratisch gewählte Betriebsräte zu sammeln und Stimmung gegen eine allzu selbstbewusste und konfliktbereite Politik ihrer InteressenvertreterInnen zu machen.

Solche vom Management gesteuerten Kunstrasen-Initiativen gehören seit Jahren zu den Standardrezepten des Union Busting, wie sie etwa Dirk Schreiner + Partner, Helmut Naujoks, Hogan Lovells und andere Fertigmacher vermitteln. AidA will Unterschriften-Sammlungen zur Absetzung eines amtierenden Betriebsrats nun gesetzlichen Status verleihen:

"Mit einer Reform des Betriebsverfassungsgesetzes möchten wir erreichen, dass der Belegschaft eines Unternehmens die Möglichkeit eingeräumt wird, die Amtszeit des Betriebsrates vorzeitig zu beenden. Das kann bspw. durch die Einführung eines Misstrauensantrags erfolgen, für den sich 2/3 der Belegschaft aussprechen."

Eine solche Veränderung des BetrVG würde die Institutionalisierung gewerkschaftsfeindlicher Mobs zur Spaltung der Belegschaft bedeuten. Widerstand ist dringend geboten. Es gilt heraus zu finden, ob hier tatsächlich ein direkter oder indirekter Know-how-Transfer durch oben genannte Union Busting-Berater stattgefunden hat.

SPD strickt weiter am Märchen der Sozialpartnerschaft

Im Gegensatz dazu entdeckt das SPD-Zentral-Organ Vorwärts die "Stärkung der Mitbestimmung" als Ziel. Endlich, möchte man ausrufen, doch dahinter stecken bei genauerer Betrachtung bloß Floskeln und das weitere Ausmalen der Schein-Idylle vom Wirtschaftswunderland Deutschland und seiner weltweit ach so gepriesenen Sozialpartnerschaft: "Wir in Nordrhein-Westfalen sind stolz auf unsere funktionierende Sozialpartnerschaft", posaunt das Parteiblatt und: "NRW ist das Mitbestimmungsland Nummer eins in Deutschland". Den LeiharbeiterInnen bei ThyssenKrupp und RWE, den KassiererInnen von Aldi, den ZeitungsausträgerInnen und Putzfrauen der Funke-Mediengruppe wird das wie Hohn in den Ohren klingen.

Mitbestimmung stärken? Manche wollen nur Aufsichtsratsposten

Der NRW-Arbeitsminster Rainer Schmeltzer stellt im Vorwärts die Bundesratsinitiative seiner Landesregierung „Mitbestimmung zukunftsfest gestalten“ vor, die zum Ziel habe, "die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten zu stärken und weiterzuentwickeln."

Doch unter Mitbestimmung versteht die SPD in erster Linie nicht die Interessenvertretung durch Betriebsräte, sondern die Entsendung von verdienten Gewerkschaftsfunktionären in Aufsichtsräte. Auch diese Art der Mitbestimmung wird in Deutschland tatsächlich zunehmend durch offenen Rechtsbruch verhindert oder durch Standortverlagerungen nach Luxemburg und andere Schlupflöcher umgangen, die z.B. das Europarecht bietet.

Doch für drangsalierte Betriebsräte, die an der Front des alltäglichen Klassen-Klein-Kriegs tapfer die Stellung halten und sich verschiedenster perfider wie illegaler Zermürbungsversuche erwehren müssen, sind Aufsichtsräte und deren Sitzungen sehr weit entfernt. Für genau diejenigen, die tatsächlich den Kopf hinhalten, hat die SPD nach wie vor nichts Zählbares parat.

Doch im Wahlkampf zählen konkrete Gesetzesänderungen und Reformvorhaben. Alles andere sind sozial-psychologische Trostpflästerchen. Entsprechende Initiativen zum Schutz von Betriebsräten, die bereits durch die Grünen und die Linke im Bundestag eingebracht wurden, stimmte die SPD nieder, ohne mit der Wimper zu zucken. Zur Verbesserung der Situation von Betriebsratsmitgliedern und gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten ist auch unter Martin Schulz und Hannelore Kraft nichts geplant.

Hierzu würde nach Auffassung der aktion./.arbeitsunrecht e.V. zuallererst ein verpflichtendes Betriebsratsregister gehören, um überhaupt einen Überblick über Stand und Entwicklung der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland zu bekommen. Ganz dringend: Die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Aufklärung von Unternehmerkriminalität in Arbeitsbeziehungen, etwa Verstöße gegen das Betriebsverfassungsgesetz und andere Vergehen.

Das ist derzeit nicht in Sicht, obwohl die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften in die Landeshoheit fällt und in SPD-geführten Bundesländern wie NRW jederzeit möglich wäre – übrigens auch in Bodo Ramelows Musterländle Thüringen, in dem Die Linke die Regierung anführt. Das alles und noch viel mehr wäre möglich, wenn der politische Wille vorhanden wäre, tatsächlich etwas zu verändern, anstatt bloß Wahlkampf-Rhetorik zu betreiben.

Weiterlesen:

Interview: "Faschismus in der AfD?"


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