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Mischen wir uns ein!

Mischen wir uns ein!

Überwinden wir Frust und Hilflosigkeit und engagieren uns so, dass es Freude macht.

Das Folgende ist eine leicht veränderte Version eines Artikels, der bereits in neue-debatte.com erschienen ist, damals unter Mitgestaltung des Editors Herrn Gunter Sosna. Ursprünglich war dieser Beitrag ein Referat, das vor einem psychologischen Fachpublikum auf einer Tagung gehalten wurde.

1. Der Ansatz

Traditionell dienen Psychologie und Psychotherapie dazu, den einzelnen Menschen Möglichkeiten und Verantwortung für Misslichkeiten (zurück) zu geben, wo sie sie verloren haben oder dies glauben. Das ist ja nicht rundweg verkehrt.

Mir geht es aber darum, aus einem psychologischen Ansatz eine Richtung abzuleiten, wie wir aus der nur individuellen Verantwortung herauskommen, um Gesellschaftliches zu verändern, das uns als einzelne Menschen deformiert.

Ich greife unter den vielen Theorie- und Therapieansätzen die „Akzeptanz- und Commitment-Therapie“ (ACT) heraus. Es handelt sich um eine aus dem Neobehaviorismus entstandene und mit einer Fortentwicklung aus ihm begründete Therapiemethode, die wie kaum eine andere Werte ins Zentrum der Betrachtungen stellt. Persönliche Werte, die wichtiger und für die Therapie aussichtsreicher sind, als die Irrwege und Symptome, die uns oft beschäftigen.

Werte geben unserem Wirken eine Richtung, die vereinbar ist mit unserer langfristigen Perspektive als einzelne Menschen und mit einer gemeinschaftlichen Perspektive, da wir von Anfang an soziale Wesen sind. Werte können an Zielen festgemacht werden, gehen aber immer über Ziele hinaus, enden praktisch nie, geben unserem Handeln einen dauerhaften Sinn.

Menschen können sich in Problemen verheddern, sind manchmal so damit beschäftigt, sie loszuwerden, dass sie sie nur noch verschlimmern. ACT versucht ihnen zu helfen, sich von dieser negativen Orientierung zu lösen und sich wieder ihren Werten zuzuwenden oder sie erst mal für sich zu klären.

1.1 Pragmatismus

Ich vertrete und mische mich ins Leben mit einem pragmatistischen Ansatz.

Eine pragmatistische Herangehensweise an alles bedeutet, dass ich mir immer bewusst bin, dass ich nichts erkennen kann, ohne dass ich eingreife. Das fragende bis zweifelnde Betrachten einer Beziehung mit einem Menschen greift ein, das diagnostisch motivierte Gespräch mit einem Patienten greift ein und das Unterlassen politischer Einmischung greift ein. Letzteres, indem es das Mitwirken unterlässt, vergleichbar mit dem Nicht-Helfen, wenn man am Straßenrand einen Verletzten einfach seinem Schicksal überlässt. Auch das ist Eingreifen, obwohl man oder gerade weil man nichts tut.

Doch ohne Erkennen ist auch Eingreifen unsinnig. Erkennen und Eingreifen brauchen einander. Wir sind in jedem Augenblick handelnde Wesen, schon in unserer Verteilung und Gewichtung von Aufmerksamkeit. Wenn man eingreift beziehungsweise das Eingreifen unterlässt, wird man mit seinen Werten konfrontiert. Wozu und wofür greife ich ein? Ich kann und brauche nicht in alles eingreifen. Ich greife ein, wo mir etwas wichtig ist.

1.2 Einordnung, Einbettung des Handelns

Um die Bedeutung eines Eingreifens oder Unterlassens einschätzen zu können, sollte ich alles berücksichtigen, was mit dem Eingreifen oder Unterlassen zusammenhängen könnte. Soweit es für mich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sichtbar, einschätzbar oder auch nur zu erahnen ist. Ich bezeichne das als ganzheitliche Bezogenheit. Ich sehe sie als Ergänzung zur Wertebezogenheit einer pragmatistischen Herangehensweise.

Menschliches Handeln bewegt sich also wenigstens in den folgenden Spannungsfeldern:

1.3 Erlebnis-Vermeidung

Als Therapeuten wissen wir, dass das Einbeziehen des Erfassbaren nicht nur durch unsere menschliche und historische Beschränktheit begrenzt ist, sondern auch durch Vermeidungen, genauer: Erlebnisvermeidungen. Denn das Einbeziehen bestimmter Dinge kann Angst, Scham, Gefühle der Überforderung und so weiter auslösen. Aus Sicht der Akzeptanz- und Commitment-Therapie ist aber Erlebnisvermeidung eine Tendenz, die zu Problemen führen kann. Nicht immer. Aber immer dann, wenn die Vermeidung mit einem Verlust von Handlungsmöglichkeiten erkauft wird, die für das Verfolgen von Werten nötig oder hilfreich sind oder wären.

Wenn ich ein schwieriges Gespräch meide, weil ich nicht zu kritisieren wage oder Kritik erwarte, die mir zu schaffen machen könnte, riskiere ich die Verflachung der Beziehung oder der künftigen Zusammenarbeit mit diesem Menschen.

Wenn ich mich nicht ins Gesellschaftliche mische, läuft es ohne meinen Beitrag vielleicht in eine gefährliche Richtung. Im Ort, in der Region, weltweit.

1.4 Weitblick und „Engblick“

Erlebnisvermeidung, also Vermeidung von Emotionen, engt oft den Verhaltensspielraum ein. Sie führt hinsichtlich der Zukunft auch zu einem anderen Blick für die Möglichkeiten und Optionen. Der Blick, die Perspektive wird enger. Ich will das mal Engblick nennen. Den Engblick kann man als Außenstehender bei einem Menschen mit eingeengtem Lebensfeld noch einfach erkennen. Doch wenn die meisten so leben, wenn man nicht mehr so einfach sehen kann, dass jemand das sinnlich Erfahrbare meidet, wird das Erkennen der Vermeidung schwieriger.

Seit allerdings die Kommunikationsmittel in ihren Möglichkeiten explodiert sind, wird die Leugnung oder Missachtung entfernter Zusammenhänge schwerer, auch wenn die fernen Vorgänge nicht direkt, sondern nur über Medien sinnlich erfahrbar sind. Wir können nicht mehr nichts davon wissen, wie Billigtextilien in Bangladesch hergestellt werden. Wir können kaum noch die Plastikablagerungen etwa an Meeresstränden übersehen, die unsere Lebensweise verursacht.

Wir können höchstens noch argumentieren, dass wir darauf keinen Einfluss haben. Diese Rechtfertigungen eines Sich-nicht-Kümmerns sind aber leicht als solche zu entlarven. Auf der individuellen Ebene können wir zum Beispiel anders verbrauchen. Und natürlich brauchen wir auch gemeinschaftliches Sich-Kümmern. Sonst bleibt es ineffektiv.

1.5 Fruchtbare Ratlosigkeit

Wenn ich mich im Rahmen des Themas auf das Verfolgen von Werten im sozialen Zusammenhang konzentriere, bedeutet das Vermeiden eines Weitblicks, der Engblick – die Konzentration auf individuelle Anliegen – ist wohl nicht nur auf Erlebnisvermeidung zurückzuführen, sondern auch auf die Umstände, in denen Menschen heute typischerweise leben. Sie haben wenig Zeit übers Private hinaus. Und das in einer Epoche, in der die moderne Technik ihnen eigentlich viel Arbeit abnimmt. Hinzu kommen die Ablenkungen, Überflutungen durch Spiele, Medien und Konsumanregungen. Und die Hilflosigkeit, auf die Dinge außerhalb der persönlichen Welt Einfluss zu nehmen.

Grundsätzlich kann ich aber auf den umfassenden sozialen Zusammenhang sehen, in dem ich lebe. Das kann mir zwar viel Erlebnisschmerz, Frustration, schlechtes Gewissen, Überforderungsgefühle und Angst bereiten. Die kleine, und vor allem dann die große Politik, kann mich fertigmachen oder wenigstens immer wieder ratlos.

Doch Ratlosigkeit kann ein fruchtbarer Beginn sein. In der ACT-Ursprungs-Sprache wird sie „helplessness“ genannt. Ich übersetze das als Ratlosigkeit, weil unser Verstand wenigstens zunächst keinen Rat, keine rasche Lösung mehr weiß. Ratlosigkeit kann der Anfang eines neuen Überdenkens sein, eines Rat-Holens. Wenn wir noch nicht fertig sind. Wenn wir uns bewusst werden, dass wir noch nicht fertig sind. Und: Wenn wir uns bewusst sind, dass wir es allein nicht schaffen können.

1.6 Individualismus

Unser System fördert die Vereinzelung – den Individualismus. Das beginnt mit der Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes, die oft zu Entwurzelung führt. Und es endet in der Ideologie, dem Ideal der Unabhängigkeit, die als Freiheit verkauft wird, obwohl sie uns den gemeinschaftlichen Halt und viele Fähigkeiten nimmt, die wir als Menschen erst gemeinschaftlich entwickeln und pflegen können.

In der zurückgezogenen, individualisierten Haltung und Lebensführung wird außerdem nicht bedacht, dass der gesamtgesellschaftliche Ablauf auch die individuelle und familiäre Zukunft, die Zukunft der Kinder oder der Kinder der nahestehenden Menschen bestimmt. Rückzug und Vereinzelung sind Vermeidungshaltungen. Sie verändern die Kontingenzen, in denen wir uns tagtäglich bewegen, also die Reize, die etwas bei uns auslösen und die Folgen unseres Handelns, die es bekräftigen oder bestrafen. Wir schaffen uns selbst eine Welt, die uns weiter prägt.

Die Vereinzelung macht uns tatsächlich wirkungslos. Sie macht uns hilflos, nicht nur ratlos. Unsere Eingreifmöglichkeiten sind gering geworden.

1.7 Strukturelle Gewalt

In der Lage der vorwiegenden Vereinzelung und überzogenen Eigenverantwortlichkeit berücksichtigen wir nicht mehr, was zu berücksichtigen notwendig wäre. Wir bedenken nicht, dass unser Unterlassen auch Folgen hat. Folgen, die einer Aggression gleichkommen. Rückzug, Vermeidung und Engblick wirken sich aus.

Die alltäglichen und feinen Formen dieser Aggression werden meistens gar nicht mehr wahrgenommen. In unserem globalen Wirtschaftssystem bestehen sie darin, viele Menschen im Konkurrenzzusammenhang hinter sich zu lassen. Siege im Konkurrenzzusammenhang sind immer Niederlagen anderer. Die sichtbare tätliche Aggression eines Einzelnen wird leicht wahrgenommen. Die unsichtbaren Aggressionen einer strukturellen Gewalt rücken dagegen selten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Was ich Engblick nenne, wird auch oft als „Wegsehen“ bezeichnet. Wir sehen nicht oder nicht mehr, was wir mit unserer Lebensweise weltweit anrichten. Nach einem Werk von Brand und Wissen (2) leben wir eine „imperiale Lebensweise“ auf Kosten der Länder der 3. Welt.

2. Öffentlichkeit – Die Ablenkung von der Macht des Systems

Die Menschen sind nicht einfach zu dumm oder zu egoistisch für den Weitblick. Systemverfestigung und Individualismus sind historische Entwicklungen, die zum Phänomen der Öffentlichkeit führen und von ihr wieder genährt werden. Schon der französische Sozialkritiker Alexis de Tocqueville, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, warnte davor, dass durch Vereinzelung und öffentliche Meinung die Demokratie zerstört werden könnte. Ich zitiere aus einem Artikel von Grinario über Tocqueville:

„Durch die in den modernen Gesellschaften vorherrschende Bindungslosigkeit und Atomisierung der Menschen, die nicht mehr in ihren traditionellen lokalen Gemeinschaften eingebunden sind, nimmt die Macht der Öffentlichkeit zu. Die Vereinzelung des Menschen spielt auch in den weiteren Überlegungen Tocquevilles über Fehlentwicklungen der Demokratie eine entscheidende Rolle.“

Die Öffentlichkeit, der öffentliche Diskurs ist flüchtig, manipulierbar, anonym und die Auseinandersetzungen beherrschend. Er ist scheinbare Erkenntnis, da ohne Verbundenheit mit echtem Eingreifen. Öffentlichkeit greift nur in Köpfe ein, unverbunden mit nichtverbalem Handeln, losgelöst vom Handeln, das über Worte hinausgeht. Er besteht aus Vorurteilen, Metaphern, aus abgehobenem Verbalverhalten.

Fortschrittliche Menschen mühen sich ab, sie – die Öffentlichkeit – zu überzeugen, dort Nachhaltiges zu bewirken. Praktisch alle politischen Initiativen zielen heutzutage in Richtung Öffentlichkeit. Und verpuffen dadurch zwangsläufig. Selbst wenn sie ein paar Tage in den Medien erscheinen, sind sie bald wieder vergessen.

Öffentlichkeit ist ein Scheingebilde, das uns von der Macht des Systems ablenkt.

Öffentlichkeit ereignet sich auf der symbolischen Ebene, die dann natürlich auch Emotionen auslöst. Auch die Individuen sind es inzwischen gewohnt, symbolische Ereignisse einfach durchziehen zu lassen. Hauptsache, man ist informiert. So meinen es wenigstens die, die nicht die konsequente Vermeidung leben. Wenn man informiert ist, kann man durch beobachtete Folgen immer wieder Recht haben in den Vermutungen. Wenn man mehr täte, als sich zu informieren und die Information dann weiterziehen zu lassen, wäre man rasch überfordert. Diese Haltung aber fördert wiederum die Flüchtigkeit und Einflusslosigkeit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

2.1 Streiten, Angreifen, Grenzen spüren

Wir kommen zu einer weiteren Herausforderung, die oft gemieden wird – der Streit. Gemeinschaft provoziert und verlangt Auseinandersetzungen. Wenn Menschen in Gruppen leben und wirken, müssen die gemeinsamen Werte-Richtungen immer wieder ausgehandelt werden, um das Verhalten zu koordinieren. Das Aushandeln erfordert Gespräche und Auseinandersetzungen. Sonst werden wir bloße Reagierende der gewählten Kontingenzen.

Unsere Mitgestaltungsmöglichkeiten würden sich dann ständig vermindern. Die Flexibilität unserer alternativen sozialen Systeme sollte immer wieder geprüft und infrage gestellt werden. Wir brauchen das Streiten.

Streiten bringt oder besteht aus Angreifen. Das Berühren des anderen, auch wo es ihm wehtun könnte.

Menschen sind nie in der gleichen Lage, haben nie die gleichen Voraussetzungen und nie wirklich identische Wirkrichtungen. Sie müssen sich einigen, wenn sie zusammenwirken wollen. Wenn die Einigung nicht durch Macht und Gewalt zustande kommen soll, müssen sie streiten: um Richtung, um Mittel, um die Art der Beteiligung.

Streiten greift den oder die anderen an. Im deutschen Angreifen ist der doppelte Charakter dieses Handelns gut sichtbar: Da ist etwas Aggressives, etwas Verunsicherndes. Aber da ist auch ein Berühren, ein Nahekommen. Gerade auch, wenn es wehtut. Das muss nicht sein, aber das muss riskiert werden.

Beziehungen haben ja auch einen Verlauf: Wer verletzt hat, kann es kapieren, kann es wiedergutmachen. Aber der Verletzte kann auch davon profitieren, dass ihn der Schmerz auf Wichtiges aufmerksam gemacht hat. Beide können einander dabei helfen, ohne sich belehrend übereinanderzustellen. Danach sind sie sich oft näher als vorher. Wenigstens darin, dass sie Grenzen besser spüren.

Beim Thema Streit wird meine Abgrenzung vom Ansatz von Anthony Biglan (1) verständlich. Biglan hat ja den weitreichendsten Versuch gemacht, ACT für Politisches/Gesellschaftliches nutzbar zu machen. Er will kooperatives Verhalten auch mittels verbesserter Institutionen fördern. Er verletzt dabei aus meiner Sicht aber Grundlagen von ACT, indem er prosoziales Verhalten topografisch, also beschreibend definiert. Für ihn scheint prosoziales Verhalten Freundlichkeit zueinander zu sein. Wenn wir prosoziales Verhalten funktional fassen, müssen wir es in den Verlauf der Beziehungsgestaltung stellen.

Wenn wir Beziehungen nachhaltig gestalten wollen, müssen wir herausfordern, berühren, Verletzung riskieren, uns öffnen und einbringen, auch wenn wir dann verletzlicher werden.

Ob wir wirklich kooperieren, wird nicht etwa durch eine freundliche Erscheinungsform unseres Verhaltens deutlich, sondern durch das nachhaltige Interesse aneinander. Es geht dann oft darum, dass wir unsere prosoziale Richtung nicht nur sprechend leben, sondern etwa auch im gegenseitigen Helfen.

Menschen mit sprechenden Berufen sind besonders in Gefahr, das bloße Sprechen auch schon als Handlung zu sehen. Doch um politisch tätig zu sein, braucht man mehr: sich zusammentun; den persönlichen Lebensstil so zu pflegen, dass er vereinbar ist mit der politischen Ausrichtung; das Engagement je nach dem Stand der Möglichkeiten weiterentwickeln. Und das alles miteinander aushandeln und vereinbar machen.

2.2 Systeminflexibilität führt zur Passivität des Individuums

In der ACT-Tradition wird seit einigen Jahren psychische Flexibilität (psychological flexibility) hochgehalten und gefördert. Als dieser Begriff in Beiträgen zu ACT auftauchte, wurde ich misstrauisch. Ging das nicht in die Richtung, dass jeder Veränderungsdruck auf das Individuum umgeleitet wurde? Haben nicht die individuelle und die gesellschaftliche Flexibilität miteinander zu tun? Ist unser gesellschaftliches System flexibel für die Herausforderungen, in und vor denen es steht?

Ein inflexibles gesellschaftliches System lässt verändernde Einflussnahmen nicht oder kaum noch zu. Es zwingt oder verführt die Menschen durch seine Kontingenzen zur passiven Anpassung, zum Unterlassen der Einflussnahme bis zum Unterlassen des Mitdenkens.

Das derzeitige hier herrschende System ist aus meiner Perspektive erstarrt und verkrustet. Ich nenne ein paar Beispiele:

• schwerfällige Verwaltungshierarchien
• schwerfälliges Parteiensystem in der Politik
• die sogenannten Wahlen im Rahmen der repräsentativen Demokratie, die geradezu verführen, das Geschehen zwischen den Wahlen nur nebenbei zu verfolgen
• undurchsichtige Lobby-Einflüsse und PPPs (Public-Private-Partnership) mit Geheimverträgen
• landwirtschaftliche Subventionspolitik, die den armen Ländern schadet und unsere Umwelt zerstört
• ein Bildungssystem, das in erster Linie Konkurrenz fördert und das kaum Kompetenzen vermittelt, die für Zusammenarbeit geeignet sind (dazu hier () eine Alternative)
• eine Einbindung in ein außenpolitisches, militärisches Bündnis mit der aggressivsten Macht der letzten Jahrzehnte, den USA

Wirtschaftlich herrscht ein verkrustetes System von Konzernen, das von echter Marktwirtschaft kaum noch etwas übrig gelassen hat. Seit Jahrhunderten häufen großenteils dieselben Dynastien, also Familien, Reichtum an und gehen trotz Verstrickungen etwa in Deutschland ziemlich unbehelligt aus Kaiserreich und Nationalsozialismus hervor. Politisch herrschen schwerfällige Riesenstaaten, vor denen die Kleinen kuschen müssen.

2.3 Entscheidungen wie im Supermarkt

Zu den sogenannten Wahlen in repräsentativen Demokratien möchte ich noch eine Randbemerkung machen. In der ACT-Literatur wird unterschieden zwischen „choice“ und
„decision“. Decision ist eine Entscheidung, choice ist eine Wahl. Entscheidungen finden an Punkten statt, Wahlen ziehen sich durch, bis der Weg gegangen ist.

Wahlen sind nachhaltig, sind Umsetzungen von Werten. An ihrem Beginn stehen oft Entscheidungen, doch das Umsetzen ist der bedeutsamere Teil. Die Nachhaltigkeit formt und gestaltet erst das, worum es geht, und sie formt auch den tätigen Menschen.

Wahlen in der repräsentativen Demokratie sind keine Wahlen, sondern Entscheidungen, so wie man Entscheidungen im Kaufhaus oder Supermarkt trifft. Außerdem wird den sogenannten Wählern das Ergebnis gleich wieder aus der Hand genommen. Erst die Verbindung zwischen Handlungspunkten über die Zeit hinweg könnte nachhaltigen Einfluss nehmen.

2.4 Gestaltung einer flexiblen Lebenswelt

Psychologen und Menschen, die sich um das Wohl von Menschen kümmern, sollten nicht nur die psychische, die individuelle Flexibilität fördern, sondern auch zur Systemflexibilität beitragen.

Die großen Systeme werden sich nicht von oben aus flexibilisieren. Das widerspräche ihren Gesetzen. Die Flexibilisierung muss von unten aus in Gang kommen. Nicht in Form von Forderungen nach oben, sondern in Form selbst gesetzter, gelebter Dezentralisierung.

Die leichtere Beeinflussbarkeit kleiner sozialer Einheiten durch den Einzelnen ist evident. Hinzu kommt Überschaubarkeit, sinnliche Konfrontation mit Folgen eigener Handlungen und Gestaltung der Beziehungen über Zeiträume hinweg. Ich nenne die hier relevante Variable „psychische Entfernung“. Zu ihrer Beachtung wurde ich von Robert J. Kohlenberg und Mavis Tsai (4) angeregt. Sie nennen das Problem ähnlich: einen Mangel an Kontakt mit den Dingen und Menschen, mit denen unser Leben an sich zu tun hat.

Wenn beziehungsweise wo wir die Wirkungen unseres Handelns nur noch symbolisch mitbekommen, verringert sich der Anstoß, dafür Verantwortung zu übernehmen. Dann drückt ein Obama in Washington einen Knopf, und eine Drohne wirft im Jemen eine Bombe ab.

Er mag hinterher bedauern, dass es eine Hochzeitsgesellschaft getroffen hat, er wiegelt das aber vermutlich damit ab, dass Ausführende Fehler gemacht haben, und er gibt vielleicht Anordnung, die Untersuchung des Ziels künftig zu verbessern. Je weiter weg die Wirkungen unseres Tuns sind, je weniger wir direkt die Konsequenz unseres Handelns wahrnehmen, desto ungehemmter werden Aggressionen ausgeübt.

2.5 Überschaubarkeit

Vor dem Hintergrund der Globalisierung einer Megamaschine (5) hat uns unsere Emanzipation aus traditionellen Zwängen individualisiert, vereinzelt. Sie eröffnet uns – unterstützt durch die neuen Medien – aber auch neue Chancen freien, gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Wir sollten dabei aber einige Charakteristika solchen Zusammenwirkens berücksichtigen, die uns erst befähigen, wirksam zu werden:

Der wichtigste Gesichtspunkt, den ich von meinem Fach mitbringe, ist die Überschaubarkeit von Zusammenschlüssen. Er beschäftigt mich, seit ich ihn vor Jahren dem bereits erwähnten Werk von Kohlenberg und Tsai entnommen habe (4). Unüberschaubarkeit entfernt von den Konsequenzen eigenen Handelns. Man sieht und spürt nicht mehr, was man mit dem eigenen Handeln in der Ferne anrichtet. Das Reden von Politikern zum Beispiel verselbständigt sich, hat keinen Bezug mehr zu Taten. Und die erwähnte Öffentlichkeit macht daraus vollends ein Spektakel.

3. Politisches Engagement in Kleingruppen und weltweite Vernetzung

In heutiger Zeit ermöglicht die Einbindung in kleine Gruppen ganz andere Spielräume als in Zeiten verwandtschaftlicher und dörflicher Zwangsgemeinschaften. Die weltweit mögliche Kommunikation, der Wegfall religiös verankerter Zwänge und Normen reduziert schon mal die Enge traditioneller Gemeinschaften. Hinzu käme die freie Wählbarkeit und der leichter mögliche Wechsel. Wir könnten in überschaubaren Gruppen und der Offenheit weltweiter Vernetzung unseren Grad der Einbindung immer wieder ausbalancieren.

Trotz oder gerade wegen der weltweiten Zusammenhänge könnte uns digitale Vernetzung helfen, Probleme der Versorgung, der Auseinandersetzung und Koordination zu lösen. Die Rolle der Staatsgebilde könnte unbedeutender werden. Ich schlage für ein aussichtsreiches Engagement deshalb die Aktivität in überschaubaren Gruppen vor, die folgendermaßen zu charakterisieren sind:

• Die Zusammenarbeit sollte nicht nur eine verbale sein, sondern auch auf Lebenspraktisches bezogen.
• Es sollten sich Beziehungen entwickeln, in denen man sich bei Bedarf unterstützt und gegenseitig hilft.
• Es sollte eine Streitkultur gelebt werden, die Abweichungen achtet, die aber auch immer
wieder zu integrieren versucht.
• Die Gruppen sollten nicht nur das überschaubare Leben in der Gruppe pflegen, sondern mit ähnlichen Gruppen vernetzt sein und dadurch in die Gesellschaft hineinwirken.
• Es sollte nicht nur um ein einzelnes Thema und Anliegen gehen, etwa den Frieden oder den Schutz der Umwelt.
• Die Ziele beziehungsweise Werte sollten auch in die Zukunft gerichtet sein, auch in die ferne Zukunft.
• Letztlich sollte es nicht nur um das Wohl der Gruppe, der Region oder eines Landes gehen, sondern um das Wohl der ganzen Menschheit, der ganzen Erde.
• Das Zusammenwirken sollte Kontinuität, Regelmäßigkeit haben.

Wirksames politisches Agieren scheint mir auf die Dauer nur möglich, wenn alle diese Charakteristika von der Gruppe gelebt werden. Wir haben mit einer solchen Art der politischen Einwirkung den unschätzbaren Vorteil, dass wir auch in der Gegenwart etwas von dem erleben, was wir gesamtgesellschaftlich fördern wollen. Wir bleiben nicht nur Analysierende, Appellierende, Fordernde, sondern machen vor und erleben selbst die Früchte einer gemeinsam gestalteten Welt. Zunächst im Kleinen, aber auch ausgreifend und mitreißend.

Überall auf der Welt kann jeder damit anfangen, wenn es nicht schon ein Angebot von Gruppen in der Nähe gibt. Er braucht nicht mehr hilflos sein nach dem Lesen über weitere schlimme Entwicklungen. Er ist nicht mehr allein mit seiner Angst vor der Zukunft. Und er leistet einen Beitrag zum Ganzen.

Wer dazu noch Fragen hat, kann hier nachsehen, ob sie schon
bearbeitet sind. Über diese Seite ist auch eine Kontaktaufnahme mit uns möglich. Es gibt ein Filmchen zu diesem basisdemokratischen Ansatz.
Zur Zeit arbeite ich an einer Verbesserung dieses Filmchens.


Quellen und Anmerkungen:

(1) A. Biglan, The Nurture Effect. How the Science of Human Behavior Can Improve our Lives & our world, New Harbinger Pub., Oakland, 2015.
(2) U. Brand und M. Wissen, Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus, oekom verlag, München, 2017.
(3) S.-C. Hayes und S. Smith, In Abstand zur inneren Wortmaschine, dgvt-Verlag, Tübingen, 2009.
(4) R.-J. Kohlenberg und M. Tsai, Functional Analytic Psychotherapy, Plenum Press, New York, 1991.
(5) F. Scheidler, Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Promedia Verlag, Wien, 2015.


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