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Nach dem Kapitalismus

Nach dem Kapitalismus

In Zeiten zunehmender sozialer und ökologischer Krisen sind Alternativen zu Massenarmut und Umweltzerstörung von immenser Wichtigkeit. Exklusivabdruck aus „Lust auf Sozialismus“, Teil 2/3.

Darum Sozialismus!

„Die Kapitalisten führen sich auf, als wollten sie zur Menschheit gar nicht gehören. Na schön."
(Dietmar Dath, Maschinenwinter. Wissen - Technik - Sozialismus, 2008, S. 86)

Die Rückkehr des Sozialismus ist jedoch nicht überraschend. Der Kapitalismus befindet sich heute nicht nur in der tiefsten Krise seit den 1930er Jahren. Mehr noch: Der Kapitalismus hat in seiner kurzen 250jährigen Industrialisierungsgeschichte die Menschheit an den Rand einer Zivilisationskrise gebracht, die das Ende der Menschheit bedeuten kann. Und genau das hatte auch Perry Anderson antizipiert, als er 1992 schrieb:

„Sollte das liberale Paradigma (…) greifen, läßt sich eine zukünftige Rehabilitierung des Sozialismus nicht ausschließen (…)“ (Anderson 1993, S. 169).

Die Exzesse des Liberalismus bringen zwar nicht zwangsläufig die Totengräber des Kapitalismus hervor, zwingen aber die Gesellschaft sich gegen ihre Zerstörung durch den Liberalismus und seine entfesselten Marktkräfte zu wehren (Polanyi 2002).

Der Liberalismus hat auf die große Kapitalismuskrise und ihre sechs Dimensionen – die Krise der Ökonomie, des sozialen Zusammenhalts, der sozialen Reproduktion, der Demokratie, der Weltordnung und der Ökologie/des Klimas (vergleiche hierzu ausführlich Solty 2019a) keine Antworten. Im Gegenteil, je größer diese Systemkrise sich auftürmt, umso kleinteiliger und visionsloser werden die Antworten. „In einer gesellschaftlichen Transformationsperiode genügt es jedoch nicht“, wie Klaus Dörre (2019, S. 24) richtig bemerkt, „nur an den Symptomen herumzudoktern. Vielmehr gilt es, eine Krankheit zu besiegen und Systemfehler zu korrigieren (…).“ Die „Alternative zu einer veränderten Gesellschaft“, warnte uns schon 1994 der britische Historiker Eric Hobsbawm (1996, S. 585), „ist Finsternis“.

Die Visionslosigkeit des Liberalismus angesichts der Krise

Die herrschenden Liberalen reagieren indes auf die ökonomische Krise mit einem Aufschub in die Zukunft: Der Kauf von Autos wird durch Abwrackprämien oder E-Auto-Prämien angekurbelt und man zielt darauf ab, sich durch Wettbewerbsfähigkeit auf dem Rücken der Beschäftigten Vorteile gegenüber der Konkurrenz zu verschaffen (vergleiche ausführlich am Beispiel der USA Solty 2013, 15 bis 71). Das explizite Ziel ist die Expansion, beispielsweise durch die Steigerung des Exports für Automobile in die Schwellenländer und namentlich nach China, wo vor dem Hintergrund der chinesischen Erfolgsgeschichte heute die größte Mittelklasse der Welt existiert. Die ökonomische Krise soll also durch eine ökologische Klimakatastrophe bearbeitet werden (Solty 2018a).

Auf die Krise des sozialen Zusammenhalts reagiert der herrschende Liberalismus wiederum mit Tech-Optimismus oder gar nicht.

Die technologischen Umwälzungen, die – wären sie demokratisch gelenkt und nicht von kapitalistischen Rationalisierungsinteressen getrieben – Befreiungspotenziale bergen könnten, weil sie die Menschheit von körperlich verschleißender oder entfremdender Arbeit befreien könnten, ereilen die Menschen im Kapitalismus als Quasi-Naturkatastrophen mit beängstigenden Potenzialen (Dyer-Witheford, Kjosen und Steinhoff 2019; Solty 2019a).

Die Prekarisierungen wiederum, die aus dem Arbeitsplatzverlust die panische Angst vor gesellschaftlichem Ausschluss machen und die Grundlage für den Aufstieg des Rechtspopulismus gewesen sind (Butterwegge und Hentges 2008; Lühr 2010), gelten weiterhin als alternativlos. Damit aber sind die gesellschaftlichen Ursachen des (Prä-)Faschismus weiter virulent und entfalten ihre zerstörerische Wirkung. Der Antifaschismus der (links-)liberalen Eliten bleibt ohnmächtig, solange er die sozialen Wurzeln des (Neo-)Faschismus nicht bekämpft (Solty 2015).

Auf die Krise der sozialen Reproduktion wiederum reagiert der herrschende Liberalismus mit Eigenverantwortung: die Erziehung und Pflege der noch nicht oder nicht mehr erwerbsfähigen Arbeitskräfte, ohne die Kapital nicht akkumulieren kann, wird an fast allen Orten der Welt zunehmend den Familien, das heißt unter Patriarchatsbedingungen vor allem Frauen, aufgebürdet; und an die Stelle gesetzlicher Rentenansprüche tritt die (Pflicht zur) private(n) Vorsorge, selbst wenn die Löhne und Gehälter das nicht hergeben, weil am Ende des Monats längst nichts mehr übrig bleibt, oder es findet die Auslagerung der Care-Krise auf billigere Pflegekräfte aus anderen Ländern statt.

Auf die Krise der Repräsentation und der Demokratie reagiert der herrschende Liberalismus selbst mit mehr Autoritarismus: mehr Überwachung, mehr Sicherheits- und Ausnahmezustandsgesetze, mehr Delegierung von Souveränitätsrechten der Bevölkerung an demokratisch nicht rechenschaftspflichtige, transnationale Formen von Staatlichkeit wie etwa die Europäische Union, der „Fiskalpakt“, Handels- und Investitionsschutzverträge wie TTIP, TPP, CETA und so weiter und so fort.

Auf die Krise der Weltordnung und den Aufstieg Chinas reagiert der herrschende Liberalismus mit einem Wirtschaftskrieg, der militärisch flankiert wird und die Welt in einen globalen Rüstungswettlauf geführt hat. Wichtige Ressourcen zur Bekämpfung von ökonomischer, sozialer, Demokratie- und Klimakrise werden also durch Rüstung gebunden und destabilisieren als Exporte die Welt, zwingen Menschen zur Flucht vor Krieg und Gewalt, was wiederum der extremen Rechten Auftrieb verleiht (vergleiche Solty 2016a, S. 44 bis 54).

Schließlich reagiert der herrschende Liberalismus auf die Krise der Ökologie und des Klimas mit „Greenwashing“-Scheinalternativen wie der individuellen E-Mobilität sowie der Schimäre eines „grünen Wachstums“, obwohl die bisherigen Erfahrungen belegen, dass jede Emissionsreduktion auf dem Wege von technischen Neuerungen durch die schiere Expansionsnotwendigkeit des kapitalistischen Systems nicht nur neutralisiert worden ist, sondern das endlose Wachstum als eine conditio sine qua non die Senkenbelastung und den Klimawandel auf einem endlichen Planeten massiv beschleunigt hat.

Denn das Problem im Kapitalismus ist nicht nur die Wachstumsrate, sondern – wie David Harvey (2017, S. 172 bis 210) im Anschluss an den dritten Band des Kapitals von Karl Marx argumentiert – „die Masse des Wachstums“, die sich in etwa jedes Vierteljahrhundert verdoppelt.

Der realexistierende Liberalismus und der Kapitalismus, dessen weltanschauliche Verbrämung er ist, führen die Welt also an den Rand einer Katastrophe und womöglich darüber hinaus. So plakativ die Aussage des Schweizer Sozialwissenschaftlers Jean Ziegler auch sein mag, er hat recht:

„Entweder wir zerstören den Kapitalismus jetzt oder er zerstört uns“ (Ziegler 2019).

Sie entspringt der Einsicht, dass es keine kleinteiligen Antworten auf die multiple Krise des Kapitalismus gibt. Wir sind gezwungen, so radikal zu sein wie die Wirklichkeit. Denn, mit Erich Fried gesprochen:

„Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt“ (Fried 1995, S. 87).

Die Ordnung, die Friedrich Merz im Interesse seines Arbeitgebers BlackRock, dem größten Kapitalvermögensverwalter weltweit, in seinem Angriff auf Greta Thunberg und Fridays For Future verteidigt, ist keine Ordnung, sie ist das Chaos (Solty 2019d).

Albert Einstein schrieb seinen Text nach einer der schlimmsten Katastrophen, so wie die sozialistischen Aspirationen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg – einschließlich der Oktoberrevolution von 1917 – auch das Ergebnis der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts waren. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Muss es erst zu solchen fürchterlichen Katastrophen mit Weltkriegen und Schlimmerem kommen, bevor die Menschheit zur Einsicht kommt, dass es grundlegende Alternativen zum Bestehenden braucht? Können wir die Diskussionen um soziale, demokratische und ökologische Alternativen zum Bestehenden nicht zur Abwechslung einmal führen, bevor die Widersprüche des Kapitalismus uns in den Abgrund gestürzt haben?

Das Ziel der folgenden Ausführungen versteht sich als ein Plädoyer für eine offene Debatte über eine grundlegend andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Ihr Sinn und Zweck soll sein, die drohende Katastrophe abzuwenden. Es geht darum, über Alternativen zum Bestehenden nachzudenken, bevor die Tendenzen der Entdemokratisierung, Barbarisierung und Faschisierung in reale Barbarei und realen Faschismus umschlagen, bevor die Vorbereitungen auf neue Weltkriege im Rahmen des globalen Rüstungswettlaufs in reale Weltkriege umschlagen und bevor die längst begonnene Klimakrise in eine wahre Klimaapokalypse mündet.

Die andere Ordnung lässt sich hierbei auch heute nicht anders bezeichnen denn als Sozialismus. Aber nach den historischen Erfahrungen des Sozialismus und im Rahmen der gewaltigen Veränderungen im und mit dem globalen Kapitalismus muss „Sozialismus“ mit neuem Inhalt und neuem Leben gefüllt werden. Er muss aus den historischen Fehlern in seiner Geschichte lernen. Er wird auch nicht aufhören dürfen, die Verbrechen zu benennen, die in seinem Namen begangen wurden, so wie auch Liberalismus und Konservatismus sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen haben (vergleiche Losurdo 2011). Der Sozialismus von morgen wird darüber hinaus auf der Höhe der Zeit gedacht werden müssen. Und er muss von den Menschen gemeinsam ersonnen, aufgebaut, entwickelt und ständig verbessert werden, denn er wird demokratisch oder gar nicht sein.



Quellen und Anmerkungen:

Die Quellen und Kurzverweise werden am Ende von Teil 3 veröffentlicht.

Der gesamte Text ist zuerst erschienen in dem von Mario Candeias herausgegebenen Band „Lust auf Sozialismus, ...für die Zukunft sorgen“ - mit weiteren Beiträgen von Mario Candeias, Bernie Sanders, Sarah Leonard, Johanna Bozuwa, Veronica Gago, Etienne Balibar und Alex Demirovic.


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