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Nur Mut!

Nur Mut!

Was wir noch heute von Stanley Milgram lernen können. Ein Aufruf zum zivilen Ungehorsam.

Wie ist es möglich, dass Menschen täglich auf eine Entwicklung hinarbeiten, bei der sie ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder und Enkel riskieren? Und vor allem: Wie ließe sich das ändern? Durch einen politischen Massenaufstand mit starken politischen Führern? Aber lässt sich ein System, das (wie wir noch sehen werden) auf autoritäre Strukturen baut, dadurch ändern, dass man die Führung erneuert?

Mir scheint dringend geboten, die erste Frage genauer zu verfolgen: Wieso handeln Millionen von Menschen täglich gegen ihre eigenen Interessen und Wertvorstellungen?

Der alltägliche Gehorsam

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer Bank und ihr Chef erwartet von Ihnen, dass Sie einem Rentner ein Finanzprodukt vorschlagen, mit dem dessen ganze Ersparnisse einem enorm hohen Risiko ausgesetzt sind. Sie melden Ihren Zweifel an, doch Ihr Chef entgegnet: „Ohne Risiko keine Gewinne, machen Sie gefälligst Ihren Job!“ Würden Sie das Produkt trotz persönlicher Bedenken verkaufen? Etwa 90 Prozent der Erwachsenen in unserer Gesellschaft würden es tun.

In unserer Gesellschaft ist es zur Normalität geworden, regelmäßig oder zumindest gelegentlich gegen das persönliche Empfinden zu handeln. Beamte von Asylbehörden unterschreiben Abschiebungsurteile, obwohl „sie persönlich“ den Betroffenen das Bleiben gewünscht hätten. Mitarbeiter von Job-Centern setzen Sanktionen bis zum völligen Geldentzug durch, obwohl „sie persönlich“ die Strafen als zu drastisch empfinden.

Ärzte verschreiben 85-jährigen Kranken quälende Chemotherapien, obwohl sie wissen, dass sie dem Patienten kaum noch Heilung, dafür aber zusätzliches Leid bringen, obwohl sie sogar Mitleid mit dem Patienten haben. Aber wenn der Chef sagt: „Sie arbeiten hier nicht im Hospiz, sondern im Krankenhaus. Machen Sie Ihren Job“, dann ziehen sie die Sache durch.

Überall finden wir diese Situationen von Gehorsam. Und wie erschreckend seine Ausbreitung ist, wissen wir spätestens seit 1973, als Stanley Milgram die Ergebnisse seines berühmten Experimentes in einem Buch vorstellte (1).

Ein berühmtes und gleichzeitig unbekanntes Experiment

Das Milgram-Experiment ist auf der ganzen Welt für seinen skandalösen Befund berühmt: Sechzig Prozent aller Versuchspersonen waren in einem vermeintlichen Lernexperiment bereit, einen vermeintlich ungelehrigen Schüler für falsche Antworten zu bestrafen und ihn dabei mit Stromstößen zu Tode zu foltern. Etwa neunzig Prozent verabreichten ihm Stromstöße in lebensbedrohlicher Dosis. Der vermeintliche Schüler (also ein Schauspieler), der sich in einem Nebenzimmer befand, brüllte vor (vermeintlichen!) Schmerzen brüllte und flehte die Versuchsleitung an aufzuhören. Doch der übergeordnete „Experte“ bestand mit autoritären Befehlen wie: „Sie müssen weitermachen. Das Experiment erfordert es!“ auf der Fortführung. Nur zehn Prozent der (vermeintlichen) Lehrer brachen die Sache schon vor dem ersten Schmerzensschrei ab. Dreißig Prozent ließen sich von den markerschütternden Schreien des Opfers zum Abbruch bewegen. Der Rest, wie gesagt, zog durch bis zum (vermeintlichen) Exitus.

Milgram hat dieses Experiment in verschiedenen Varianten wiederholt. Die Quote des Ungehorsams stieg, je näher man das Opfer an den Täter rückte. War es anfangs noch in einem anderen Raum, saß es am Ende in nächster Nähe zum „Lehrer“. Selbst da gingen immerhin noch knapp zwanzig Prozent bis zum Äußersten und ertrugen, dass das Opfer in ihrer Nähe bewusstlos zusammenbrach.

Eine weitere Variation brachte hervor, dass 90 Prozent aller Personen bis zum Todesstoß mitmachten, wenn sie nur mittelbar am Geschehen beteiligt waren, also etwa, wenn sie nur die vermeintlichen Lernaufgaben vorlasen, aber ein Partner für die Stromstöße verantwortlich war.

Unser Problem ist, dass sich die meisten von uns in so einer 90-Prozent-Variante befinden. Nur wenige führen Morde oder eine irreversible Umweltzerstörung direkt in alleiniger Verantwortung aus, die meisten aber sind indirekt daran beteiligt.

Das Interessante an Milgrams Buch ist aber nicht, dass er bewiesen hat, dass 90 Prozent aller Menschen bereit sind, ihre persönlichen Wertvorstellungen über den Haufen zu werfen, sobald ihnen eine Autoritätsperson das Gegenteil davon befiehlt. Das wirklich Interessante ist, dass er genauestens untersucht hat, wie der psychologische Prozess des Gehorsams überhaupt zustande kommt, und schließlich, welche Bedingungen dazu führten, dass zumindest ein Teil der Versuchspersonen trotz allem autoritären bzw. sozialen Druck ungehorsam wurde.

Damit vermittelt er enorm wertvolles Wissen darüber, wie ziviler Ungehorsam entstehen kann, und vor allem, welche unglaubliche Dramatik in jedem Moment steckt, in dem wir uns „ein Herz fassen“. Sein Buch „Das Milgram-Experiment“ ist in gewisser Weise ein Lehrbuch für Zivilcourage.

Dass man Milgram immer nur mit der bekannten Schreckensbotschaft assoziiert, selten aber mit einem Lehrer zum Mutig-Sein, scheint mir typisch für unsere Gesellschaft. Wir sollten uns aber schleunigst mit den wertvollen Erkenntnissen seiner Forschung beschäftigen.

Das evolutionäre Gehorsams-Erbe in unserem Nervensystem

Ursprünglich wollte Milgram nur beweisen, dass „das Böse“ keine nationale Besonderheit, etwa der Deutschen ist. Er hatte sich viel mit den Verbrechen der Nazis und Hannah Ahrends These von der Banalität des Bösen beschäftigt. In seinem Experiment wollte er erforschen, wie autoritärer oder eben sozialer Druck ohne jegliche zusätzliche Bedingung wirkt. Die Versuchspersonen, die nicht wussten, dass sie ebensolche waren, sondern glaubten, sie machten einen Mini-Job als wissenschaftliche Assistenten, bekamen ihr Honorar, noch bevor sie den Versuchsraum betraten. Ein Abbruch ihrer Tätigkeit hatte für sie keinerlei berufliche oder persönliche Folgen, und sie wurden schon gar nicht mit Gewalt oder einer Waffe bedroht, hörten lediglich in stoischer Folge strenge Aufforderungen wie: „Fahren Sie fort! Sie müssen das tun!“

Milgram fand heraus, dass es in jedem Menschen eine Art natürliches Regulativ gibt, mit dem der Akt des Unterordnens belohnt wird. Er geht davon aus, dass sich im Laufe der Evolution ein sozialer Instinkt gebildet hat, der die Unterordnung in ein soziales System mit positiven Gefühlen quittiert. Der Versuch, eine vorhandene soziale Ordnung zu durchbrechen, wird entsprechend mit Angstgefühlen bestraft.

Jeder von uns kennt das. Die meisten haben Angst, sich vor eine größere Menschenansammlung zu stellen und frei zu sprechen. Sie durchbrechen damit ein sicheres soziales Gefüge, und ihr Instinkt will sie daran hindern.

Stellen Sie sich vor, Sie würden bei einer Pressekonferenz mit dem Bundespräsidenten während der laufenden Veranstaltung auf die Bühne gehen, ihm auf die Schulter hauen und lauthals rufen: „Na, alles gut, Walter?“

Ihr vegetatives System würde Sie schon bei der bloßen Vorstellung mit einem heftigen Cocktail aus Angstsymptomen daran hindern, obwohl nirgendwo Gefahr für Leib und Leben lauert.

Eben diese emotionalen Reflexe sind seit Jahrmillionen der Kitt, der den Zusammenhalt unserer Vorfahren und damit ihr Überleben garantiert hat.

Jede Autorität, aber auch jede soziale Gemeinschaft kann sie aufrufen und damit das erzeugen, was Milgram als Gehorsam bezeichnet. Er definiert: „Gehorsam ist der psychologische Mechanismus, durch den individuelles Handeln an politische Zwecke gebunden wird.“

Nun sind hierarchische Systeme in der Regel erst einmal eine sinnvolle Organisationsstruktur, ohne die in unserer Gesellschaft ziemlich wenig funktionieren würde. Solange das Handeln in diesen Strukturen im Einklang mit persönlichen Bedürfnissen und Wertvorstellungen möglich ist, erfüllt eine festgelegte soziale Ordnung einen guten Zweck.

Die Problematik des Gehorsams beginnt dort, wo Motive und Empfindungen des Einzelnen in Widerspruch zur autoritären Forderung oder Erwartung einer sozialen Gemeinschaft geraten.

Der Konflikt mit den zwei Gefühlen

Milgram stellt fest, dass der Mensch als soziales Wesen immer zwei grundlegende emotionale Dispositionen mit sich herumträgt. Zum einen die persönlichen Wertvorstellungen, die bei fast allen Menschen von Empathie geprägt sind. Spontan befragt, werden die meisten Menschen Gewalt ablehnen und für Frieden, Dialog und gegenseitiges Verständnis sein. In einem Versuch bot Milgram seinen Testpersonen an, die Stärke der Stromstöße selbst zu variieren. Nicht ein einziger ging von sich aus auf eine Voltzahl, die größere Schmerzen verursacht hätte. Ohne autoritären Druck war die Empathie für den „unbelehrbaren“ Schüler also bei allen Versuchspersonen völlig in Takt.

Das wirklich Interessante, das Milgram herausgefunden hat, ist die Erkenntnis, dass so gut wie alle Personen in einer autoritären Situation in einen Konflikt zwischen zwei verschiedenen Gefühlen geraten.

Auf der einen Seite stehen die persönlichen Wertvorstellungen des Einzelnen und auf der anderen die emotionale Bindung an das soziale Gefüge. Letztere versucht mit dem bekannten vegetativen Stressprogramm, den Ausbruch aus der sozialen Ordnung zu verhindern. Gleichzeitig kämpfen die persönlichen empathischen Gefühle um Gehör.

Das bedeutet zumindest einmal die wichtige Erkenntnis, dass es bis auf ganz wenige pathologisch Gefühlsblinde keine kaltblütigen Täter gibt.

Ist der Druck einer Autorität oder sozialen Gruppierung so groß, dass sie verlangt, die Empathie für andere Mitmenschen aufzugeben, gerät jeder Mensch in Konflikt. Und zwar wirklich jeder, wie Milgram mit seinen Studien beweisen konnte. Auch alle, die in seinem Experiment bis zum Todesstoß gegangen sind, erlebten äußerste Spannungszustände, in denen sich ihr innerer Konflikt manifestierte.

Ausgerechnet Milgram, der angeblich das Böse im Menschen bewiesen hat, hat eigentlich etwas ganz anderes entdeckt, nämlich die Erkenntnis: Wir können nicht einfach so Böses tun.

Auch wenn das immer wieder behauptet wird - es stimmt nicht. Selbst die schlimmsten Verbrecher müssen sich Bedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, einen Teil ihrer Gefühle abzuspalten, also „eiskalt“ zu sein. Es lohnt sich ungemein, sich diese Mechanismen anzuschauen. Würden wir sie alle rechtzeitig erkennen, könnte die Welt längst eine bessere sein.

Fluchtwege aus der Verantwortung

Nicht einer von Milgrams Stromstoßverteilern hat die autoritären Befehle vollkommen gedanken- bzw. gefühllos ausgeführt. Alle sind in einen Stresszustand geraten und haben sich mehr oder weniger exzessiv damit beschäftigt, ihr Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen.

Sobald diese Personen Stromstöße setzten, deren Höhe ihrem eigenen ethischen Empfinden widersprach, bemühten sie sich sofort, die Verantwortung dafür von sich zu weisen. Dabei zeigte sich ein vielfältiges Handlungsarsenal.

Verantwortungsabgabe „nach oben“

Häufig erlebten Milgram und seine Kollegen Menschen, die ihre Verantwortung zu hundert Prozent an die übergeordnete Autorität abgeben wollten. Es fielen Sätze wie: „Ich persönlich würde das ja nicht tun, aber Sie haben ja gesagt, dass ich das machen soll. Ich mach das nur deshalb.“

Außer einer vielleicht vorübergehenden Gewissenserleichterung nützt diese Aussage niemandem.

Milgram stellt in seinem Buch nüchtern fest: Die Welt ist nicht Ergebnis dessen, was Menschen gedacht haben, sondern dessen, was sie getan haben.

Verantwortungsdelegation an das Opfer

Eine andere Strategie, das persönliche Verantwortungsgefühl zu überlisten, war es, dem Opfer die Schuld an der Tat zuzuschieben. „Der hat doch gewusst, worauf er sich einlässt.“ „Ich kann doch nichts dafür, dass der sich so dämlich anstellt.“

Das sind nur zwei Beispiele aus dem verbalen Arsenal, empathische Gefühle für das Opfer der eigenen Tat niederzureden. An dieser Stelle setzt auch das allmähliche Verfertigen von Feindbildern an, das meine Kollegin Christiane Borowy in ihrem „Hammer-Artikel“ so wunderbar analysiert hat.

Verleumdung der Tat

Manche drücken sich auch um Schuldgefühle, indem sie die Folgen ihres Handelns klein- oder wegreden wollen. Auch hier finden sich Sätze, die einem irgendwie bekannt vorkommen. Etwa: „Der markiert doch bloß.“ „So schlimm kann der Schmerz gar nicht sein.“ „Ich bin nicht bis 450 Volt hoch gegangen, da stand nur 45.“ Auch hier lassen sich sehr leicht Parallelen zu gängigen Rechtfertigungen finden. Armut in der dritten Welt? Gab es doch schon immer. Okkupation von Märkten? Wenn wir es nicht tun, tut es ein anderer. Egal, ob diese Argumente richtig sind oder nicht, sie erfüllen vor allem die Funktion, von der persönlichen Verantwortung abzulenken.

Rechtfertigung der Mittel

Ein anderer Weg, die persönliche Verantwortung wegzudenken, ist, die Diskussion auf eine technische Ebene zu verlagern. Ein Phänomen, vor dem Milgram schon 1973 eindringlich gewarnt hat. Warnungen, die sich heute dringlicher denn je anhören. Damals sagten seine Testpersonen Sätze wie: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Oder „Diese Methode ist human, denn der Schüler hat die Höhe der Stromstöße selbst unter Kontrolle.“

Wenn uns heute hochbezahlte Politiker weismachen wollen, Drohnen seien eine „verantwortungsvolle Art, Krieg zu führen“ ist das ein eben solcher Versuch, die Verantwortung letztendlich über die Technik wegzudelegieren.

Weglachen

Milgram schildert einen Mann, der bis zum höchsten Stromstoß ging und dabei in ein irres Gelächter verfiel, das mit jeder Steigerung der Voltzahl irrsinniger wurde. Milgram interpretiert dieses Verhalten als einen Versuch, die Spannung, die durch den inneren Konflikt entsteht, auf direktem, emotionalem Wege zu lösen.

Solches Täterlachen kennt man aus diversen Dokumentationen über SS-Leute oder folternde US-Soldaten. Aber auch für indirekte Täter kann Zynismus zur Erleichterung von Schuldgefühlen führen. Ich lache wirklich gern, aber was Humor auf Kosten anderer betrifft, bin ich inzwischen ziemlich wachsam geworden und zeige mich auch mal als „Spaßverderber“.

All diese merkwürdigen und absurden Reaktionen produzieren Menschen nicht aus purer Langeweile oder weil sie „kein Herz“ hätten, sondern im Gegenteil weil sich in ihnen sehr wohl menschliche empathische Gefühle regen. Gleichzeitig sind sie von einem sozialen System umgeben, das ihnen einredet, Mitgefühl sei naiv, dumm, schwach oder sogar Verrat, und das sie dazu bringt, den persönlichen Gefühlskompass zu unterdrücken.

Gehorsam ist kein passiver, sondern ein aktiver Prozess, auch wenn er möglicherweise von vielen Menschen kaum noch wahrgenommen wird. Dennoch muss Unterordnung psychologisch geleistet werden, denn das Gefühl der persönlichen Verantwortung bleibt, auch wenn es ins Unbewusste verbannt wurde.

Unsere Gesellschaft ist so stark auf Gehorsam und Unterordnung aufgebaut, dass das Wegreden der persönlichen Verantwortung zum ganz normalen Verhalten geworden ist.

Seit ich Milgram gelesen habe, höre ich Leuten, die immer wieder dieselben Monologe von sich geben, sehr genau zu. Ich frage mich dann immer, welche Impulse diejenigen, die gerade reden, bei sich selbst unterdrücken. Wenn jemand permanent schlecht über andere Menschen redet, hat er meist ein Problem mit ihnen und im eigenen Verhaltensrepertoire (noch) nichts gefunden, um dieses Problem zu lösen. Auch jede Art von Rechtfertigungen macht mich seitdem neugierig. Rechtfertigungen sind ein Hinweis darauf, dass Menschen etwas gegen ihre persönlichen Empfindungen tun. Dabei ist ihnen vermutlich oftmals gar nicht klar, welchem Dogma sie seit Jahren in unbewusstem Gehorsam folgen, obwohl sich etwas in ihnen dagegen wehrt.

Es lohnt sich, immer wiederkehrende Dauermonologe auch bei sich selbst einmal unter die Lupe zu nehmen und ein paar Fragen zu stellen: Warum muss ich diese Aussagen immerzu wiederholen? Was will ich damit rechtfertigen? Welche Impulse will ich damit klein reden? Welche Ängste und Zweifel will ich mir ausreden?

Wer Milgrams Buch gelesen hat, sieht auch, wie gefährlich sämtliche Versuche von Pauschalurteilen sind. Gerade hier verbreiten unsere Medien regelrechtes psychologisches Gift. „Ist DER Islam gefährlich?“ Eine Formulierung, die direkt in die Selbstrechtfertigung eines Täters führt, der bereit sein soll, seine menschliche Empathie für einen Teil der Menschheit aufzugeben. Auch Behauptungen wie „Da hilft nur noch Waffengewalt“, wie ich sie gelegentlich von Stammtischphilosophen höre, sind für mich Ausdruck eines politischen Gehorsams. Da hat jemand schon längst seine Verantwortung für andere Menschen an „die da oben“ abgegeben, „die schon wissen, was gut ist.“

Gehorsamkeit und Unterordnung sind Prozesse, die in täglichen inneren Diskussionen immer wieder hergestellt werden müssen.

Der Klangraum unserer Gesellschaft ist voll von Rechtfertigungsmonologen, die alle dazu dienen, die Gesellschaft, so wie sie ist, aufrechtzuerhalten, obwohl wir sie eigentlich katastrophal finden.

Gehorsam macht krank

Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung stellte Milgram fest, dass diejenigen, die sich dem autoritären „Du musst weitermachen. Du musst die Stromstärke erhöhen!“ unterordneten, nicht nur anfingen, innere Monologe zu führen, sondern gleichzeitig vegetative Störungen entwickelten. Steigender Blutdruck, Kopfschmerzen, alle bekannten Stress-Symptome traten auf und waren treuer Begleiter des Handelns gegen empathische Impulse.

Das heißt: Egal, ob du gehorsam bist oder nicht, dein Konflikt mit der Autorität ist da, und er quält dich.

Eine Erkenntnis, die von der hohen Anzahl der Selbstmorde von US-Soldaten nach dem Irak- oder Afghanistan-Einsatz bestätigt wird. Was sich in „eiskalten“ Tätern abspielt, ist also häufig alles andere als eiskalt. Und so kann es uns in unseren 90-Prozent-Bereichen des Gehorsams auch gehen: Mitarbeiter in Job-Centern, die Hartz-IV-Sanktionen erteilen müssen, Bankangestellte, die ihre Kunden wissentlich in die Schuldenfalle treiben, oder auch nur all jene, die sich fragwürdigen Arbeitsbedingungen unterordnen, wohl wissend, dass ihnen damit zu wenig Geld und meist auch zu wenig Zeit für ihre Familie, für ihre eigene Gesundheit und Erholung bleibt – all diese Menschen leben in einem andauernden Gewissenskonflikt, der auf Dauer krank macht.

Menschen sind von Natur aus soziale Wesen. Deshalb ertragen unzählige von ihnen Zustände, die körperlich und emotional extrem belastend für sie sind. In bestimmten natürlichen Situationen, etwa nach der Geburt eines Kindes, ist eine solche Belastbarkeit von existentiellem Wert.

Doch gerade autoritäre Strukturen zählen auf solche sozialen Reflexe, überschreiten ständig körperliche und emotionale Grenzen von Individuen und erklären ihnen, dass es keine Alternativen gäbe. Die Folgen sind sogenannte „Zivilisationskrankheiten“, deren Häufigkeit stetig steigt.

Der Weg durch die Angst

Was passiert nun mit Menschen, die eingesehen haben, dass sie gegen ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle handeln? Die aber immer weiter ein „Du musst“ und „Anders geht es nicht“ im Ohr haben, wie die Leute im Milgram-Experiment?

Was ist mit denen geschehen, die bei Milgram aufgestanden sind und gesagt haben: „Schluss jetzt! Das ist ein völlig blödsinniges Experiment! Da mach ich nicht mehr mit! Hier haben Sie Ihr Geld zurück.“

Milgram konnte mit Hilfe von Messungen verfolgen, wie sich Widerstand formiert. Zunächst stellte er fest, dass die vegetativen Stress-Symptome sich enorm erhöhten, sobald die Person die Möglichkeit ins Auge fasste, sich gegen die Autorität zu stellen, also das Experiment abzubrechen. Der bloße Gedanke wurde mit einem Feuerwerk an Angstsymptomen bestraft. Herzrasen, Schweißausbrüche, zitternde Hände.

Man kann solche Gedanken niederdrücken und noch ein bisschen lauter rufen: „Der ist eben zu blöd! Der hört nur noch auf Stromstöße!“

Wer das am lautesten sagt, hat oftmals auch einen hartnäckigen empathischen Kern in sich, der zum Widerstand anstachelt.

Diejenigen, die abbrachen, so sagt Milgram, zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie in der Lage waren, ihre Angst vor der Autorität zu ertragen, den Spannungszustand der Angst länger auszuhalten als andere. Genau das ist es, was man als Mut bezeichnen müsste.

Mut ist die Bereitschaft, Angst auszuhalten. Vor allem, eigene Gedanken und Impulse zuzulassen, die Angst erzeugen. Dann hat man eben ein rotes Gesicht, schweißnasse Hände, zitternde Lippen!

Hat man Milgram gelesen, weiß man, dass solche extremen Angstsymptome (umgangssprachlich gern „Schiss“ genannt) ein wichtiges Signal für uns sein können. Sie zeigen uns an, dass wir uns in einer äußerst wichtigen Konfliktsituation befinden. Sie fordern uns heraus, uns selbst zu befragen: Was will ich wirklich? Was tue ich nur, weil es von mir erwartet wird? In dem Moment, wo man kurz davor ist, sich frontal dem sozialen Druck, der autoritären Erwartung zu widersetzen, erreicht diese Angst ihren Höhepunkt.

Man kann lernen, sich bei dieser Angst zu beobachten und sich zu sagen, dass man grad auf einem sehr guten Weg ist, wenn man sich traut, seine eigene Angst auszuhalten und ihre Botschaft zu erkennen. Welches Verhalten, welche Entscheidung will diese Angst verhindern? Was hilft mir, diese Angst endgültig zu überwinden?

Ungehorsam führt in die eigene Verantwortung und in die Gesundheit

Die gute Nachricht des Milgram-Experimentes lautet: Nur die Ungehorsamen hatten eine Chance, das Experiment ausgeglichen und in sich ruhend zu verlassen. Sie haben ihr ungehorsames Verhalten als enorme Befreiung erlebt. Sie haben den inneren Konflikt gelöst. Zwar hatten manche von ihnen noch ein schlechtes Gewissen, weil sie meinten, ihre (vermeintliche) Aufgabe nicht zufriedenstellend gelöst zu haben. Doch die psychischen Folgen des unwissentlichen Experimentes waren für die Gehorsamen weitaus gravierender. Sie brauchten zum Teil noch längere psychologische Nachsorge und waren noch im Nachhinein mit der Rechtfertigung ihres Handelns beschäftigt, während für die Ungehorsamen die Sache in der Regel beendet war. Sie hatten den inneren Konflikt nach eigenen moralischen Maßstäben gelöst und damit zum emotionalen Ausgleich gefunden.

Milgram hat versucht, herauszufinden, welche Faktoren ungehorsames Verhalten begünstigt haben. Dabei gab es häufig einen klaffenden Widerspruch zwischen geäußerten moralischen Werten und gehorsamem brutalen Verhaltensweisen.

Das Denken von moralischen Werten allein scheint also wenig zuverlässig für moralisches Handeln zu sein.

Dafür fand er zwei wichtigere Komponenten:

Die Existenz einer übergeordneten Bindung

In anschließenden Befragungen stellte Milgram fest, dass viele Ungehorsame den Widerstand gegen die Autorität aus einer starken persönlichen Überzeugung oder Weltsicht zogen. Bei den meisten war es ein religiöser Zusammenhang, der ihnen Wegweiser für moralisches Handeln war.

Sie lebten mit dem Empfinden: Es kann keine irdische Autorität geben, die sich über eine göttliche Autorität stellen kann. Diese Menschen empfanden eine ideelle soziale Gemeinschaft, die sie davor schützte, sich übermäßig von kurzfristigen sozialen Bindungen kontrollieren zu lassen.

Ähnliche Effekte können aber auch starke politische, kulturelle, traditionelle oder familiäre soziale Bindungen haben.

Anders herum gedacht beweist das Milgram-Experiment:

Je einsamer das Individuum, je geringer die Einbindung in größere soziale Strukturen, umso größer ist die Gefahr der Gehorsamsbereitschaft.

Das Erkennen der persönlichen Verantwortung

Ein anderer entscheidender Faktor, der zum Ungehorsam führte, war die Haltung zur persönlichen Verantwortung für das eigene Handeln. Hier zeigte sich, dass Versuchspersonen, die sich beruflich oder privat in einer Situation befanden, die ihnen persönliche Entscheidungen abverlangte, viel stärker vor „blindem“ Gehorsam geschützt waren. Auch dies ist eine Schlüsselerkenntnis, aus der wir im Umkehrschluss lernen können:

Je stärker ich mein eigenes Handeln hinterfrage und mir persönliche Konflikte mit sozialen und autoritären Forderungen bewusst mache, umso mehr hole ich mir die Verantwortung für mich selbst zurück.

Und genau das ist der Weg, um ungesunde soziale Dauerkonflikte letzten Endes aufzulösen.

Nun ist damit nicht gemeint, dass jede Art von Unterordnung ungesund oder unrecht wäre. Wie bereits gesagt, ohne das Vertrauen in soziale Strukturen würde nichts funktionieren. Nichts wäre unproduktiver als ein Kollektiv, in dem jede Rollenzuweisung, jede Position und auch jeder gefundene Konsens immer wieder neu diskutiert würde. Milgrams Experiment zeigt lediglich, dass jeder Mensch gesünder lebt, wenn er die Verantwortung für sich und sein Handeln in keinem sozialen Gebilde vollkommen abgibt.

Und darin liegt die Hoffnung für die Zukunft.

Man stelle sich vor, in unserer Gesellschaft würde jeder Mensch die Verantwortung für sein persönliches Handeln wahren und nichts mehr tun, was moralisch bedenklich wäre. Wie viele unerträgliche Zustände würde es auf einen Schlag nicht mehr geben?

Deshalb glaube ich, dass wir anstelle neuer strahlender politischer Führer vor allem zivilen Ungehorsam brauchen.

Was ist also wirklicher Mut?

Mut ist meiner Meinung nach zum Beispiel nicht, mit Gleichgesinnten auf eine Demo zu gehen, um sich gegen eine andere Gruppe Gleichgesinnter zu positionieren. Das mag ein wichtiges gesellschaftliches Zeichen sein. Aber alle Demo-Teilnehmer befinden sich in einem sicheren sozialen Gebilde, das ihnen wenig Courage abverlangt.

Ganz anders wäre es, wenn jemand, der eine bestimmte politische Gesinnung vertritt, die Stammkneipe seiner politischen Widersacher aufsucht. Er würde sich bewusst dem Meinungsdruck eines vorhandenen sozialen Gefüges entgegenstellen. Das erzeugt Angst und fordert Mut.

Und was ist mit Menschen, die auf Demonstrationen oder kulturellen Veranstaltungen für Frieden und Gerechtigkeit einstehen, aber im beruflichen Alltag zusehen, wie Praktikanten als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden, und aus Angst vorm Chef nichts dagegen sagen?

Ansichten allein verändern gar nichts. Höchstens wenn man mit ihnen einen bestehenden Konsens infrage stellt. Etwa, wenn Kollegen sich gerade wieder auf ein pauschalierendes Feindbild einigen. Sei es Russland, „die“ Moslems oder Pegida. Wenn sie ratzfatz Millionen von Menschen das Verständnis entziehen, am gemeinsamen Feindbild stricken oder sich an herablassenden Witzen erfreuen. Dann ist es mutig, mit einer gegenteiligen persönlichen Ansicht die Party zu verderben.

Mut hat in meinen Augen, wer „dumme Fragen“ stellt in einer Gemeinschaft von Bescheidwissern, denen immer alles klar ist. Mut hat, wer einem Arzt widerspricht, der der 87-jährigen Oma eine Chemotherapie verordnen will. Mut hat jeder, der sich traut, aus den Erwartungsmustern seiner Umgebung auszubrechen.

Der Spielraum unseres Mutes ist dabei meist wesentlich größer, als wir glauben. Nicht jeder, der gegen Erwartungen handelt, ist sofort von Entlassung bedroht oder gar von politischer Verfolgung. Soziale Unterordnung beginnt in der Regel sehr viel früher.

Fragen Sie sich einmal selbst, wofür Sie Mut gebrauchen könnten? Man kann sich ganz bewusst in Situationen begeben, wo die Angst lauert. Vielleicht wird uns dort deutlich, wo unsere kaputte Gesellschaft festsitzt, wo man ansetzen könnte, um etwas zu ändern. Und wenn es eine noch so kleine unscheinbare Sache wäre. Suchen Sie eine Gelegenheit, um mutig zu sein. Es lohnt sich für Sie. Und unsere Gesellschaft braucht das. Dringend.


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Quellen:

(1) Stanley Milgram Das Milgram-Experiment – Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Rowohlt 1974


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