Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Pyrrhussieg oder Ermutigung?

Pyrrhussieg oder Ermutigung?

Am 10. Dezember wird der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen der Friedensnobelpreis verliehen. Ist der Weltfrieden nun endlich in Sicht?

Atomares Gleichgewicht?

ICAN, der internationale Dachverband von weltweiten Initiativen gegen Atomwaffen, stellt auf seiner Internetseite den Status Quo der derzeitigen Verteilung von Atomwaffen dar. Klar ist, das weltweite Arsenal ist idiotisch und eine tägliche Bedrohung der Menschheit. Schon mit einem kleinen Teil dieses gigantischen Vernichtungspotentials könnte man das Leben auf der Erde für immer auslöschen.

Allein die Herstellung und der Transport von Atomwaffen bergen irreversible Gefahren und Schäden für Mensch und Umwelt. Über zwei Millionen Menschen sind allein an den Folgen von Atomtests gestorben.

Dass die Menschheit nicht in der Lage ist, diese ständige Gefahr aus der Welt zu schaffen, mit der sie sich selbst bedroht, zeigt das ganze Desaster unserer Gesellschaft. Von ICAN wird hier die einzige angemessene Forderung vertreten: Weg mit dem Zeug! So schnell wie möglich!

Um mit solchen Forderungen erfolgreich zu sein, ist es aber vielleicht doch notwendig, die Sachlage ein wenig genauer zu betrachten. Und da ist es mit dem Zählen der atomaren Sprengköpfe allein nicht getan.

Die Verteilung dieser Sprengköpfe ist das Ergebnis des atomaren Wettrüstens zwischen den einstigen Supermächten USA und Russland. Beide besitzen die weitaus meisten atomaren Sprengköpfe, etwa 7000 auf beiden Seiten, davon 1.790 (Russland) und 1.930 (USA) einsatzbereit.

Auch wenn mir klar ist, dass ein Bruchteil dieser Sprengköpfe genügen würde, unseren Planeten für immer in eine unbewohnbare Wüste zu verwandeln, möchte ich auf die Begleitumstände dieses militärischen Bedrohungsarsenals eingehen.

Stationierung amerikanischer und russischer Atomwaffen

Während alle russischen atomaren Sprengköpfe in Russland stationiert sind, sieht es mit dem US-amerikanischen Atomwaffenarsenal bekanntlich anders aus. Mit der Stationierung von Atomwaffen in Europa haben die USA gegenüber Russland ein erheblich größeres Drohpotential als umgekehrt. Im Übrigen geht mit der Stationierung im Ausland auch ein erhebliches politisches Druckmittel für die „gastgebenden“ Länder einher.

Man stelle sich einfach vor, jemand würde im Haus des Nachbarn einen Sprengsatz installieren, der nicht zu entfernen ist, dafür aber jederzeit per Fernsteuerung zündbar wäre. Damit wäre garantiert, dass dieser Nachbar den Waffenbesitzer auf Dauer sehr vorsichtig und kooperativ behandelt. Im Jargon des US-Militärs heißt eine solche Zwangskonstellation „nukleare Teilhabe“. Mit ihr sind auch die Länder Belgien, Niederlande, Italien und die Türkei „beglückt“.

Weiterhin sind die NATO-Partner Frankreich und Großbritannien mit zusammen über 400 einsatzbereiten Atombomben bestückt und über das Militärbündnis im Ernstfall zur Unterstützung verpflichtet.

Eine solche strategische Partnerschaft gibt es für Russland nicht. Allenfalls China könnte sich mit 260 atomaren Sprengkörpern an Russlands Seite stellen. Von denen ist aber derzeit nicht ein einziger einsatzbereit.

Militärbasen und Flugzeugträger

Das Bild vom scheinbaren atomaren Gleichgewicht verrutscht weiter, wenn man sich anschaut, dass die USA an die tausend Militärbasen und Stützpunkte auf der ganzen Welt verteilt haben. Russland dagegen unterhält gerade mal zehn militärische Stützpunkte in ehemaligen Sowjetrepubliken und einen Stützpunkt in Syrien. (Weitere zehn Stützpunkte dienen ausschließlich der Weltraumfahrt.)

Während Russland außerhalb seiner Grenzen höchstens 4000 Soldaten stationiert hat, befinden sich allein in Deutschland derzeit an die 36.000 US-amerikanische Soldaten, zuzüglich 3.600 britischer und über 11.000 weiterer uniformierter Gäste aus Frankreich, Belgien, Kanada und den Niederlanden.

Insgesamt haben die USA in Europa knapp 63.000 Soldaten stationiert. Weitere „kampfbereite Verbände in Armeegröße“ befinden sich mit einer Gesamtstärke von ca. 75.000 Mann in Japan, Südkorea und auf pazifischem Gewässer.

Dank dieser übermächtigen militärischen Struktur sind die USA jederzeit in der Lage, ihr atomares Bedrohungsarsenal an den Grenzen ihrer politischen Gegner Russland, China und Nordkorea in Stellung zu bringen. Eine Maßnahme, die US-Präsident Trump zum Beispiel bereits für seine japanischen Militärbasen öffentlich in Betracht gezogen hat, um seine Drohgebärde auf Nordkorea zu verstärken.

Die enorme strategische Übermacht der USA setzt sich auch beim Arsenal der Flugzeugträger fort, also Start- und Landebahnen auf dem Wasser, auf denen ebenfalls jederzeit atomarer Sprengstoff eingesetzt werden könnte. Während das US-Militär die Welt mit achtzig solcher schwimmenden Kriegsfronten in Schach hält, schippert der alte Flugzeugträger Admiral Kuznezow als russisches Unikat durch die Gewässer.

Ich will damit nicht behaupten, dass russische Atomwaffen weniger gefährlich sind als amerikanische. Ich halte es nur einfach für politisch aussichtslos, zu erwarten, Russland könnte bei einer derartigen strategischen Unterlegenheit auch noch den ersten oder vielleicht sogar alleinigen Schritt in Richtung Atomwaffenverbotsvertrag machen. Jedem, der nicht vollkommen blind ist, muss also klar sein, dass die Welt im Atomstreit in erster Linie von den Signalen der USA abhängt.

Nordkorea – die Gefahr für den Weltfrieden?

Die Nachrichten unserer Massenmedien suggerieren allerdings gern, dass Atomwaffen immer dann besonders gefährlich sind, wenn sie von besonders kleinen Atommächten besessen werden. Schauen wir auf Nordkorea.

Die Drohung von Präsident Trump, Nordkorea komplett „auszulöschen“, entspricht vollkommen den militärischen Möglichkeiten des übermächtigen US-Militärs. In den letzten Monaten haben die USA mit ihren Partnern Japan und Südkorea zudem mehrere Militärmanöver vor Koreas Grenzen abgehalten, um solcher Drohung Ernsthaftigkeit zu verleihen.

Nordkorea dagegen verfügt gerade einmal über zehn atomare Sprengkörper, deren Einsatzbereitschaft von Experten bezweifelt wird.

Wenn das kleine Land mit seiner zweiten Testrakete nun zeigt, dass es nicht sang- und klanglos unterzugehen gedenkt, kann man das als durchaus nachvollziehbaren Versuch verstehen, den angedrohten Völkermord abzuwenden.

Leider behandeln unsere transatlantischen Medien die US-amerikanische Atommacht aber regelmäßig wie eine Naturkatastrophe, gegen die man nichts machen kann, und nicht wie einen Staat, der am laufenden Band internationale Regeln verletzt (dazu später). Das ist ein Problem, das von ICAN nicht angesprochen wird, aber ganz entscheidend zum bisherigen Scheitern atomarer Abrüstungsbemühungen beitrug.

DU – das verschwiegene nukleare Verbrechen

Was in der Initiative von ICAN zum Verbot von Atomwaffen gar nicht zu finden ist, ist der Einsatz von abgereichertem Uran, englisch depleted uranium oder auch DU-Munition genannt. Angeblich eine Munition zur Zerstörung von Panzern, unter deren nuklearer Wirkung noch Jahre nach dem Einsatz junge Menschen an Krebs sterben oder missgebildete Kinder geboren werden, im Irak, im ehemaligen Jugoslawien und nun auch in Syrien.

Diese verabscheuungswürdige militärische Praxis wird ausschließlich vom US-Militär beziehungsweise in NATO-Einsätzen verwendet. Von Russland ist derartiges Handeln nicht bekannt. NATO-Verbündete tun sich darin hervor, Studien herauszugeben, welche die grausame Wirkung von DU leugnen, was eine zynische Verhöhnung der zahllosen Opfer darstellt.

ICAN will die potentielle Gefahr von Atomwaffen aus der Welt schaffen, spricht aber die reale Praxis nuklearer Kriegsführung nicht an. Das ist ein Widerspruch.

Mit Atomwaffen kann die Menschheit nur verlieren

Immerhin macht ICAN darauf aufmerksam, dass atomare Rüstung enormen wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Derzeit werden jährlich etwa 100 Milliarden in atomare Rüstung vom Steuerzahler investiert.

Wie ein Steuersystem so funktionieren kann, dass es seinen Bürgern Gelder aus der Tasche zieht, um sie in die Erhaltung und Modernisierung von Massenvernichtungswaffen zu stecken, die das Leben dieser Steuerzahler bedrohen, kann nur eine so absurde Gesellschaft wie der staatlich organisierte Kapitalismus hervorbringen.

Die Atom-Industrie ist im Grunde das perfideste Beispiel dafür, wie man Produktionskosten der Gemeinschaft auflastet und die Gewinne privatisiert. Genau dieser Mechanismus führt aber dazu, dass Atomwaffen trotz ihrer Gefährlichkeit immer weiter entwickelt werden. Könnte man mit atomarer Rüstungsindustrie keine Gewinne machen, wäre einer der wichtigsten Ansätze gestaltet, um das Geschäft mit dem Tod und der Angst zu beenden. Doch Investitionen in die atomare Rüstungsindustrie gehören derzeit zu den sichersten Geldanlagen.

Alles in allem lässt sich bilanzieren: Bis auf ein paar Gewinner, die in Aktien der Atomwaffenindustrie investieren, büßt die gesamte Menschheit gewaltig an Sicherheit und Lebensqualität ein. Über zwei Millionen Menschen sind bereits an den Folgen von Atomtests gestorben. Mehrmals haben Fehlsignale die Welt bereits an den Rand eines atomaren Infernos gebracht. Und im atomaren Ernstfall, ob durch einen Befehl oder durch ein technisches Versehen ausgelöst, nützt alles Geld der Welt nicht, um sich das verlorene Leben zurückzukaufen.

Diese Einsicht ist ja auch seit Jahrzehnten Grundlage bisheriger atomarer Abrüstungsversuche.

Die USA verbieten das Atomwaffenverbot

Seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA ist atomare Abrüstung ein erklärtes Ziel der UNO, das bereits 1946 erstmals formuliert wurde. Dennoch setzte bis Ende der sechziger Jahre ein atomares Wettrüsten ein, ehe 1968 die atomaren Großmächte USA, Russland und Großbritannien den Atomwaffensperrvertrag (NPT) unterzeichneten, der 1970 in Kraft trat. Heute hat dieser Vertrag 190 Unterzeichner.

Der wesentliche Kern des Vertrages bestand darin, das Ziel der atomaren Abrüstung dadurch zu erreichen, dass kein Land mehr neue Atomwaffen anschaffen darf und dass die atomwaffenbesitzenden Länder zu effektiven Abrüstungsverhandlungen verpflichtet sind.

Atomwaffenbesitzer sollen auch niemandem bei der Anschaffung atomarer Waffen helfen. Die friedliche Nutzung von Kernenergie soll aber erlaubt sein, so lange sich das jeweilige Land einer entsprechenden Kontrolle öffnet.

Tatsächlich ist der Atomwaffenbestand seither weltweit gesunken. Doch seit fast zehn Jahren stagniert er. Da der Atomwaffensperrvertrag keine Fristen gesetzt hat, gibt es Möglichkeiten genug, die weitere Abrüstung zu verzögern.

Ein Trick, der unter Friedensnobelpreisträger Obama Trend geworden ist, besteht außerdem darin, veraltete technische Systeme zu entsorgen, um sie mit zahlenmäßig geringeren aber wesentlich effektiveren Sprengköpfen zu ersetzen. So wird mit der Behauptung, bestehendes Arsenal zu reduzieren und den Rest zu "modernisieren", Aufrüstung als Abrüstung verkauft.

Weiterhin wird der Atomwaffensperrvertrag insbesondere von den USA als politisches Druckmittel missbraucht, etwa im Atomstreit mit dem Iran. Der beruht nämlich darauf, dass der Iran als einer der ersten Länder unterzeichnet und sich damit verpflichtet hat, seine zivile Nutzung von Kernenergie überprüfen zu lassen, was die USA bekanntlich in geradezu exzessivem Maß einfordern.

Weniger aufmerksam in Sachen Vertragseinhaltung sind die USA dagegen beim Verbot der atomaren Aufrüstung anderer Länder. So haben sie maßgeblich zur atomaren Aufrüstung Israels beigetragen. Auch Pakistan und Indien erhielten eine atomare „Entwicklungshilfe“ seitens der USA. Die genannten Staaten selbst sind keine Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages, weshalb man sie leider nicht zur Einhaltung entsprechender Nichtaufrüstungspflichten mahnen kann.

Das kleine Nordkorea, das den Atomwaffensperrvertrag einst unterschrieben hat, obwohl es von US-amerikanischen Militärbasen und deren militärischen Partnern umzingelt ist, hat sich den Trick von Israel, Indien und Pakistan abgeschaut und ist 2003 aus dem Vertrag ausgetreten. Man wird sich wohl gesagt haben: Warum soll ich mich zum Nichtbesitz von Atomwaffen verpflichten, wenn die Besitzer ihren Pflichten gar nicht nachkommen?

Deshalb hat Nordkorea so viel oder wenig Recht auf den Besitz von Atomwaffen wie Israel, Indien oder Pakistan.

Die derzeitige Aufregung basiert auf vertraglichen Vereinbarungen, die seit vierzehn Jahren annulliert sind.

Doch zurück zu den Abrüstungsbemühungen Anfang dieses Jahrtausends. Hier erschien Barack Obama auf der Bühne der Atomwaffengegner und verkündete im Präsidentschaftswahlkampf das Ende des atomaren Schreckens. 2010 unterzeichnete er mit dem damals amtierenden russischen Präsidenten Medwedjew das START-Abkommen zur nuklearen Abrüstung. Die festgelegten Abrüstungsziele wurden jedoch wieder einmal nicht eingehalten. Nicht zuletzt wegen der Mogelpackung „Modernisierung“, mit der Obama die Rüstungsindustriellen im eigenen Land zufrieden stellte.

Den Atomwaffengegnern dieser Welt, die sich bei ICAN organisieren, ist irgendwann aufgefallen, dass es mit der Abschaffung von Atomwaffen noch ziemlich lange dauern kann, wenn man die Verhandlungen darüber allein den Atommächten überlässt. Deshalb entstand die Idee, einen radikaleren Vertrag als den Atomwaffensperrvertrag anzuregen, eben einen Vertrag, der diese Waffen ein für alle Mal verbietet und der möglichst von allen Ländern der Welt unterzeichnet werden sollte. Mit Beharrlichkeit und zielstrebiger Arbeit gelang es 2016, eine Resolution an alle UNO-Mitglieder zu verabschieden, die internationale Verhandlungen zum generellen Verbot von Atomwaffen forderte.

Schon bald zeigte sich, wie ernst es der Administration unter Obama mit der atomwaffenfreien Welt war. Die ständige Vertretung der USA im Brüsseler UNO-Sitz geriet ob dieser Resolution geradezu außer sich. Umgehend schrieb sie, namentlich „Representative Christina Cheshier“, einen Brief an „Dear Allies“, in der sie alle NATO-Verbündeten eindringlich dazu aufforderte, diese Resolution mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Selbst eine Stimmenthaltung verbot die US-Administration.

Die NATO-Partner wurden eindringlich davor gewarnt, sich an etwaigen Verhandlungen auch nur zu beteiligen. Begründung: Mit dem bisherigen Atomwaffensperrvertrag habe man eine bewährte Verhandlungsgrundlage zum Thema. Diese Behauptung widerspricht der Entwicklung in den letzten 50 Jahren. Bizarr ist vor allem der Befehlston, in dem die Vertreterin der USA ihren NATO-Partnern Vorschriften zum Handeln erteilte, als würde Völkerverständigung auf dem Kasernenhof stattfinden.

Der Brief wurde öffentlich und ist in der Broschüre der IALANA „Atomzeitalter beenden“ im Original nachzulesen. Eine saftige Abmahnung der US-Vertretung für skandalös demokratiefeindliches Handeln wäre zu erwarten gewesen. Doch der größte Geldgeber der UNO ist halt Herr im Hause und darf offenbar alles.

Die angeschriebenen „Allies“ reagierten befehlsgemäß mit Still- und Klappe-Halten. Auch die deutsche Bundeskanzlerin, die bei jeder Gelegenheit betont, wie schön eine Welt ohne Atomwaffen wäre, hielt es nicht für nötig, mit anderen Staatsoberhäuptern über ein Verbot von Atomwaffen zu reden. Als Begründung für ihre Nichtteilnahme ließ die Bundesregierung verlauten: „Da die Atommächte nicht teilnehmen, könnten die Verhandlungen nichts ändern.“

Das ist fast schon so logisch wie der Satz: Der Grund, warum wir nicht teilnehmen, ist, dass wir nicht teilnehmen.

Verständlicherweise hielten sich dann auch Russland und China aus der Sache heraus. Wozu verhandeln, wenn der wichtigste Verhandlungspartner die Verhandlung ablehnt?

Dennoch wurde von Vertretern aus 122 Staaten, die allesamt keine Atomwaffen besitzen, am 7. Juli 2017 ein Vertragsentwurf verabschiedet, der seit dem 20. September unterschrieben werden kann. Ähnlich des bisherigen Sperrvertrages enthält auch dieser Vertragsentwurf Vorschläge für einen schrittweisen Abbau des Atomwaffenarsenals. Nur ist er eben in seiner Zielformulierung wesentlich konsequenter als die Gummiklauseln des NPT.

Bisher haben 53 Staaten unterzeichnet. Etwa Tuvalu, Panama oder Nepal. Damit tritt dieser Vertrag für die Unterzeichner in Kraft. Von den größeren Ländern haben sich bisher Südafrika und Mexiko zu einer Unterschrift durchringen können, von den NATO-Allies erwartungsgemäß keiner. Die USA selbst sowieso nicht. In einer solchen Situation eine Unterschrift Russlands zu erwarten, wäre schlichtweg albern.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es daher fraglich, ob man die Verleihung des Friedensnobelpreises an ICAN dennoch als Sieg der Friedensbewegung feiern kann.

Der Friedensnobelpreis für ICAN – Abspeisung oder Ermutigung?

Der größte Sieg im Kampf für eine atomwaffenfreie Welt wäre für ICAN natürlich gewesen, wenn die Atommächte USA und Russland die Verhandlungsinitiative aufgenommen hätten. Ein Vertrag zum Verbot von Atomwaffen, zu dem sich nur Länder verpflichten, die keine Atomwaffen besitzen, ist im Grunde eine krachende Niederlage.

Anzeichen eines Sinneswandels der US-Administration gibt es nicht. Im Gegenteil, die USA, Großbritannien und Frankreich gehen noch einen Schritt weiter und boykottieren sogar die Verleihung des Preises an ICAN. Das ist allerdings fast schon wieder ein Etappensieg, denn so deutlich haben die westlichen Atommächte selten ihren Mangel an politischem Willen demonstriert. Russland dagegen hat einen diplomatischen Vertreter zur Preisverleihung angekündigt.

Der Vorstoß von ICAN hat vor allem deutlich gemacht, dass Verhandlungen bezüglich eines Atomwaffenverbotes wegen der geschlossenen Boykotthaltung des NATO-Imperiums in weiter Ferne liegen.

Boshafte Beobachter könnten in der Verleihung des Friedensnobelpreises an ICAN eine politische Abspeisung sehen, eine milde Gabe anstatt eines Sieges, einen Pyrrhussieg eben.

Es gab einige euphorische Töne, besonders von Grün, hinter denen man auch Scheinheiligkeit vermuten könnte. Zahlreiche Kommentatoren beeilten sich, die Nachricht vom neuen Friedensnobelpreisträger einem vermeintlichen „Realitätscheck“ zu unterziehen. Also besser gesagt, in ihr gestähltes Weltbild einzupassen. Vom skandalösen Verhinderungsmanöver der US-Vertretung in Brüssel ist dabei keine Rede. Stattdessen beschwören die schreibenden „Besserwisser“ der Nation die nordkoreanische Gefahr herauf, verwechseln David mit Goliath und erklären jeden Menschen, der noch so viel gesunden Menschenverstand besitzt, das Verbot von Kernwaffen zu fordern, zum realitätsfernen Spinner.

Markus Becker, Spiegel-Autor und Jahrgang 1973, verkündet bereits im Titel seines Kommentars „Diesen Kampf wird die Menschheit wohl verlieren“. Man fragt sich, ob so junge Autoren ihre vermutlich noch ungeborenen Enkel schon heute so sehr hassen, dass sie ihnen lieber den Atomtod prophezeien, anstatt mit der meinungsbildenden Kraft ihrer Medien den Kampf von ICAN zu unterstützen. Aber vielleicht sind solchen Autoren die Ertragswerte ihrer Aktien bei der Deutschen Bank wichtiger als das Leben ihrer Nachfahren, oder sie wollen ihren Job im Hier und Jetzt nicht riskieren.

Die „Idealisten“ von ICAN Deutschland fordern inzwischen, dass die Bundesregierung den Vertrag unterzeichnen soll. Währenddessen hat aber auch der North-Atlantic-Council (das Entscheidungsgremium der NATO in Brüssel) allen NATO-Mitgliedern die Nicht-Unterzeichnung befohlen. Das werden die Chefredakteure von Spiegel, FAZ und so weiter vermutlich auch wissen, und so beeilen sie sich, die Preisvergabe als „utopisch“ und „zweifelhaft“ zu bezeichnen. Der Befehlsgehorsam der europäischen Regierungen muss schließlich als freier Wille getarnt werden. Die atomare Rüstungsindustrie, bei der es selten so boomte wie heute, lässt grüßen.

Allerdings gibt es infolge dieser Nobelpreis-Verleihung jetzt viele andere Menschen, die der Bundesregierung auf die Finger klopfen und sie an ihre ständigen Lippenbekenntnisse für atomare Abrüstung erinnern. Die Weigerung, das Atomwaffenverbot zu unterzeichnen, steht im krassen Widerspruch zu den sonstigen „besorgten“ Tönen.

Und deshalb wurde hier vielleicht doch mehr als ein Pyrrhussieg errungen. Ohne den Nobelpreis wäre der Vorstoß von ICAN wohl kaum bekannt geworden. Und auch vom amerikanischen Verhinderungsmanöver hätten nur sehr wenige gehört. So aber haben Friedensaktivisten jetzt eine sehr konkrete Forderung an der Hand, mit der sie den politischen Willen ihrer Regierungen auf die Probe stellen können.

Seit der Preisträger bekannt ist, finden weltweit Veranstaltungen, Aktionen und Kundgebungen statt. Das Thema Atomwaffen bekommt neue „Popularität“, und an einem Friedensnobelpreisträger kommt man nicht mehr so einfach vorbei.

So ist es etwa dem Bremer Friedensforum gelungen, erstmals den Bürgermeister der Stadt auf einer Friedenskundgebung zu präsentieren. Bisher fast ein Unding, da die Stadt eine derart hohe Konzentration von Rüstungsproduzenten hat, dass der Bremer Senat seine Friedensbewegung geflissentlich ignoriert hat.

Doch der Bremer Bürgermeister (SPD) gehört auch traditionell der weltweiten Vereinigung der Bürgermeister gegen Atomwaffen an, die einst vom Bürgermeister von Hiroshima ins Leben gerufen wurde. Es war daher eine gewichtige Frage der Glaubwürdigkeit, dass Bürgermeister Carsten Sieling der Einladung des Bremer Friedensforums folgte, um gemeinsam den Nobelpreis für ICAN zu feiern. Nun hat er am 18. November öffentlich friedensbewegte Worte gesprochen, an denen er sich künftig messen lassen muss.

Und damit geben sich die Bremer nicht zufrieden. Mit einem Appell haben sie die sechs Bundestagsabgeordneten aus Bremen aufgefordert, Druck auf die Regierung zu machen, sie möge den Verbotsvertrag unterschreiben und die „nukleare Teilhabe“ mit den USA beenden. Die Unterschriftensammlung zu diesem Appell läuft in Bremen noch. Ein Beispiel, das auch in anderen Städten Schule machen könnte.

So wie es derzeit gar nicht genug Veranstaltungen geben kann, die auf den Friedensnobelpreis für den Kampf gegen Atomwaffen hinweisen. Selten hat die Friedensbewegung ein derart konkretes Druckmittel gehabt. Alle Menschen in den USA, in Europa, Russland, China, Israel oder Indien können jetzt Druck auf ihre Regierungen machen, diesem Verbotsvertrag beizutreten. Insofern sollten wir die Verleihung des Friedensnobelpreises für ICAN als Aufforderung verstehen, den öffentlichen Druck auf die Unterzeichnung des Verbotsvertrages zu unterstützen, wo immer wir können.

Zum Schluss: Eine historische Parallele?

Im Jahr 1927, also vor genau neunzig Jahren, wurde Ludwig Quidde der Friedensnobelpreis verliehen. Quidde war viele Jahre Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft und eine weltbekannte Integrationsfigur für eine internationale Friedensbewegung. Er empfand die Preisverleihung als vorweggenommenen Sieg seines lebenslangen Kampfes für Frieden und Abrüstung. Ineiner Rede an seine Friedensfreunde formulierte er: „Wir werden siegen, weil wir siegen müssen.“

Auch die internationale Bewegung gegen Atomwaffen muss, entgegen aller Unkenrufe leichtfertiger Journalisten in transatlantischen Medienhäusern, ihren Kampf gewinnen. Tut sie es nicht, steht das Weiterleben der Menschheit auf dem Spiel.

Quidde siegte nicht. Er verlor auf ganzer Linie. Die Friedensbewegung zerstritt sich in den Folgejahren und entfernte sich immer weiter von den realen Gegebenheiten in Deutschland. In einer bis dahin beispiellosen Phase der Selbstermächtigung errichteten die Nazis 1933 ihre Diktatur. Die Deutsche Friedensgesellschaft wurde ebenso wie zahlreiche andere Organisationen, Medien und Parteien verboten, ihre Mitglieder wurden verfolgt und verhaftet. Quidde konnte seine Haut gerade noch in die Schweiz retten, wo er ein Leben in Not führte.

Die Erinnerung an diese historische Parallele soll keine Schwarzseherei sein sondern eine Mahnung zur Wachsamkeit. Eine Friedensbewegung muss die zunehmende Selbstermächtigung staatlicher Gewalt mit größter Skepsis im Auge behalten, seien es die Überwachungsmaßnahmen und militärischen Einsätze im Landesinneren unter dem Deckmantel der „Terror-Abwehr“, oder der vermeintliche politische Kampf „gegen rechts“, hinter dem sich nur allzu leicht ein Vorgehen gegen Meinungsfreiheit und demokratische Grundregeln verbergen lässt.

Und was ist ein Friedensnobelpreis wert, der auch schon einem Befehlshaber für Drohnenmorde verliehen wurde? Oder einem Staatenbündnis, das Flüchtlinge vor seinen militärisch gesicherten Grenzen im Mittelmeer ertrinken lässt oder in menschenunwürdige Lager in der Türkei oder Nordafrika einsperrt?

ICAN ist möglicherweise seit vielen Jahren der erste Preisträger, der diesen Preis zu Recht verdient. Umso mehr sollten wir die Preisverleihung als Aufforderung verstehen, unser Engagement für den Frieden jetzt erst recht zu verstärken.


Anmerkungen und Quellen:


Kommentare zum Friedensnobelpreisträger 2017 in deutschen Medien:


Aktionen der Friedensbewegung in Deutschland:


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.