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Raubvogel als Friedenstaube

Raubvogel als Friedenstaube

Europa hat eine eigenartige Vorstellung von „Frieden“ — Waffen liefern, Sanktionen verschärfen, Feindbilder vertiefen.

Medien wie die Deutsche Welle sorgten sich darum, über welche Wege Stinger-Raketen, Scharfschützengewehre und Munition an die (nicht) verbündete Ukraine gelangen können. Der Aufruf des ukrainischen Präsidenten, sich als Freiwillige die Kampfmontur an der Seite ukrainischer Verbände überzuziehen, stieß vielerorts auf wohlwollende Zustimmung. Das Parlament in Riga garantierte umgehend eine Straffreiheit für Söldner, die sich der russischen Armee entgegenstellen, in Litauen soll man sich als Kampfbereiter eine staatliche Erlaubnis holen; die Niederlande und Dänemark sehen nichts Verwerfliches daran, wenn ihre Staatsbürger andernorts in den Krieg ziehen, solange es gegen Russland geht.

Wenn‘s militärisch nicht zum schnellen Sieg gegen Moskau reicht, soll die langfristig angelegte wirtschaftliche Strangulierung den Feind in die Knie zwingen. Die Beschlagnahmung der Vermögenswerte der russischen Zentralbank und der Ausschluss russischer Geldinstitute vom internationalen Zahlungsverkehr sind nur die Spitze einer konzertierten Aktion, die offensichtlich zum Ziel hat, Moskau zu isolieren. Dass jene zwei Banken, über die Deutschland und andere EU-Länder ihre russischen Gasimporte bezahlen, bis zum 8. März nicht vom SWIFT-System abgeschnitten wurden, ist ironisch wie pragmatisch zu sehen. Das Kappen hunderter, ja tausender Geschäftsverbindungen wird für beide Seiten lange und äußerst negative Nachwirkungen haben.

Beunruhigend sind auch die Reaktionen von Kultureinrichtungen in so gut wie allen EU-Mitgliedsländern auf den Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Niemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg war Derartiges zu beobachten. Hier paart sich historisch tief sitzender Russenhass mit der pseudo-liberalen Lebensart des Cancel Culture.

Die Ächtung alles Russischen wegen seines Russisch-Seins ist erschreckend.

Als die Nato am 24. März 1999 ihren Bombenkrieg gegen Jugoslawien begann oder als die „Koalition der Willigen“ im März 2003 den Irak überfiel, Frankreich und die USA in Libyen intervenierten … wo immer Transatlantiker in unterschiedlichen Kooperationen Kriege vom Zaun brachen oder befeuerten, in keinem Fall brachte die Verurteilung des Waffengangs — so eine solche überhaupt stattfand — eine vollständige kulturelle Blockade des Aggressors mit sich. Diesmal ist das anders.

Seit dem 24. Februar 2022 werden russische Künstlerinnen und Künstler in EU-Europa und in den USA wie Aussätzige behandelt. Da sagt der Münchner Oberbürgermeister dem Stardirigenten der Philharmonie einen Satz vor, wie sich dieser von Wladimir Putin zu distanzieren habe; im Falle, dass Waleri Gergijew dies nicht tue, würde er seinen Posten am Dirigentenpult verlieren. Und Gergijew verliert den Posten tatsächlich. Ähnlich erging es der Sopranistin Anna Netrebko, die — nebenbei bemerkt auch österreichische Staatsbürgerin ist — nach tagelangem Mobbing auf Monate hinaus alle Termine absagte.

Von der Mailänder Scala über das Royal Opera House in London bis zur Carnegie Hall in New York werden russische Künstlerinnen und Künstler auf die Straße gesetzt, wenn sie sich nicht explizit vom russischen Staatschef distanzieren; eine Verurteilung des Krieges, wie es zum Beispiel Netrebko gemacht hat, genügt nicht. Den Vogel schoss die Zagreber Philharmonie ab. Sie weigerte sich kurzer Hand am Tag nach dem russischen Einmarsch, die zwei im Programm vorgesehenen Stücke von Pjotr Ilijitsch Tschaikowski zu spielen. Man merke: Sogar ein toter Russe wird boykottiert; im Namen der Solidarität mit der Ukraine.

Russisches wird gecancelt und ausgeschlossen, wo immer es auftritt: sei es als Behindertensportlerin oder -sportler bei den Paralympics, Sänger beim Eurovision Song Contest, Eishockeyspieler, Fußballer, Leichtathletin … es gibt kein Halten mehr. Parallel dazu gerieren sich mehr und mehr Politiker und Kulturschaffende im Westen als glühende Verfechter der ukrainischen Farben. Die Rede vom Nationalismus, der überwunden gehört, war gestern. Heute hisst man die blau-gelbe Fahne vor Parteilokalen der Grünen, Rathäusern deutscher Städte oder trägt sie stolz zur Demonstration. Vom Wiener Stephansdom bis zum Berliner Ensemble erstrahlen ehrwürdige Bauten nachts in Blau-Gelb.

Das Gegenteil müsste passieren; oder besser: hätte passieren müssen. Mit der Selbstverständlichkeit der Verurteilung des russischen Einmarsches im Rücken und der Gewissheit, dass Krieg nie eine Lösung sein kann, müssten Brüssel und Berlin oder zumindest das formal neutrale Wien den diplomatische Weg einschlagen. Das wurde bereits nach „Minsk II“ versäumt, als Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland übereingekommen waren, wie man die Ukraine in ihrem Bestand — mit Ausnahme der damals schon russisch gewordenen Krim — erhalten könne: mittels einer auf Föderalisierung zielenden Verfassungsänderung. Sieben Jahre ist nichts dergleichen geschehen.

Statt Cancel Culture und Russlandhass bräuchte es Vermittlung zwischen den Kriegsparteien mit dem Ziel einer sofortigen Waffenruhe. Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet bewirken das Gegenteil.


Hannes Hofbauer „ Feindbild Russland: Geschichte einer Dämonisierung“


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