Ich komme zu dieser Tagung und bin gespannt, welches Wissen mich dort erwartet.
Jetzt, im Nachhinein, finde ich das Wissen, das dort referiert wurde, fast nebensächlich. Nicht deshalb, weil ich es schon einmal gehört hätte, mir vieles schon bekannt war oder ich selbst an dem einen oder anderen Thema knabbere, sondern weil mir etwas aufgefallen ist.
Eine kurze Beschreibung der Gegebenheiten für die, die nicht dabei gewesen sind: kleines Podium, circa 300 Stühle im Halbrund davor, große Leinwand oben an der Wand; Alter circa 80 Prozent 60 Jahre aufwärts, 15 Prozent 30 Jahre aufwärts und 5 Prozent um die 20 Jahre. Also war ich eine der sehr Wenigen, die den Altersdurchschnitt nach unten gezogen haben, was im ersten Moment nicht schlecht, aber schade ist, da hier wieder das Nachwuchsproblem der Friedensbewegung klar ersichtlich wurde.
Das Wissen der Referenten war facettenreich, sehr informativ und meist interessant vorgetragen. Aber über das, was auf der Bühne stattgefunden hatte, wurde ja schon berichtet. Drehen wir mal die Kameras von der Leinwand und Bühne, von den Rednern und vortragenden Wissensträgern auf „die anderen“. Drehen wir uns von den im Rampenlicht Stehenden zu den im Dunklen Sitzenden. Drehen wir uns vom Wissen zum Verhalten. Was erleben wir?
Im ersten Moment dachte ich, dass sich hier die sogenannte alte Friedensbewegung versammelt hat. „Okay, coole Sache im Grunde. Von den alten Hasen, von den alten Kämpfern lässt sich viel lernen. Was diese Menschen wohl alles erlebt haben, wo ich Grünschnabel nicht ansatzweise mitreden kann.“ Insgesamt eine willige Zuhörerschaft. Aufmerksam, den Rednern zugetan, nicht sparsam mit Applaus und das Lachen über kleine Schnitzer kam auch nicht zu kurz. Also ein durchweg positiver Eindruck, der sich in meine Schädelrückwand einzubrennen begann. Aber dann kam die erste Diskussionsrunde am Freitag und Folgendes veränderte sich auch bei der zweiten Fragerunde am Samstag nicht.
Diskussion mit Hindernissen
Eine Diskussion ist eine sinnige Sache, um die Menschen aktiv einzubeziehen, statt dass sie nur stumm dabeisitzen und sinnieren. Aber bei einer Besucherzahl von mehr als 300 Leuten und einem vollen Programm sollte doch jedem klar sein, dass die Möglichkeit, alle einzubinden, aus zeitlichen Gründen einfach nicht möglich ist. Es beeindruckte mich, wie die Moderatoren sich geduldig und souverän dem Publikum zuwandten, aber umso erschreckender finde ich das Verhalten des Publikums selbst. Zwei junge Leute reichten Mikrophone von Zuhörer zu Zuhörer, sodass diese ihre Fragen stellen konnten. Was mich nun so wütend macht, sind folgende Punkte:
Trotz der mehrfachen Bitte, kurze Fragen zu stellen, aufgrund des vollen Programms und der vielen Fragenden, wurden viele Stories erzählt. Dass jeder seine Geschichte hat, muss auch so sein, aber ich verstehe nicht, warum sie in so einer großen Runde erzählt werden müssen. Das ist nicht der geeignete Ort dafür. Ebenfalls das Herausheben der eigenen Person. Mich stören dabei zwei Punkte:
- Das Ich-Bezogene mit der Ich-bin-wichtiger-als-du!-Note.
- Und das Behindern eines konzentrierten, gezielten Arbeitens.
Dieses Verhalten fällt mir in der Friedensbewegung sehr stark auf. Wenn sich die Friedensbewegung fragt, warum viele Projekte nicht vorankommen, dann sehe ich hier einen Anhaltspunkt. In den Gruppen, in denen ich bisher aktiv gewesen bin, ist dieses Verhalten flächendeckend: weit ausholen und die eigene Geschichte in den Vordergrund stellen.
Und das immer und immer und immer und immer wieder. Bei so ziemlich jedem Treffen. Das frisst Zeit und Energie, die wir für die Projekte brauchen. Ich bin eine absolute Verfechterin des Zuhörens, aber dafür müssen wir uns bewusst Zeit nehmen, genauso wie wir uns bewusst Zeit nehmen müssen für die Arbeit an unseren Projekten.
Ein weiterer Kritikpunkt: das Verhalten gegenüber den jungen Menschen mit den Mikros. Je weiter die Zeit voranschritt und daher immer weniger Menschen ihre Frage stellen konnten – was auch der langatmigen Fragerei geschuldet war, entwickelte sich ein regelrechter Krieg um die Mikros. Erst stellte sich jeder brav an beziehungsweise gingen die zwei zu den Fragestellern hin, dann wurden einige Menschen fast handgreiflich.
Ich kam mir vor, als würde ich in der Savanne einen Clan Hyänen um ein Stück Fleisch kämpfen sehen. Einige wollten das Gerät an sich reißen, um ja ihre sehr wichtige Frage noch stellen zu können, ohne Rücksicht auf das Programm oder gar andere.
Ich meine sogar, ich hätte eine Frau aufstampfen und einen sehr trotzigen Blick in Richtung Podium werfen gesehen, weil sie ihre Frage nicht mehr stellen konnte – wie ein kleines Kind, das die Schokolade an der Kasse vom Supermarkt nicht bekommt. Eine Frau mit schlohweißen Haaren, was durchaus auf ihr ungefähres Alter schließen lässt.
Kritik an unserem Verhalten
Ist das das Erwachsensein, zu dem ich immer gedrängt wurde, wenn ich mal wieder in meinen kindlichen Fantasiewelten schwebte und mir vorgeworfen wurde, dass ich so nie zurechtkommen würde? Ist das der Respekt, den ich in meiner Erziehung und Schuldogmatik implementiert bekommen habe? Den ich vor älteren Menschen zu wahren habe, weil es zum guten Benehmen gehört?
In meinen Augen: Nein! Es ist das Verrohen des Respektes. Es ist das Herabsetzen und Hinabtreten mit der Note „Ich bin viel wichtiger als du!“
Eine weitere Situation: Samstag – eine andere Frau mit schlohweißen Haaren stört respektlos die zweite Fragerunde der Tagung und brüllt ins Plenum, ohne Rücksicht auf die bisherigen Fragesteller, dass wir gefälligst in Parteien eintreten sollten und da was machen müssten. Wir würden so viel darüber jammern, was wir denn machen könnten, wo doch die Lösung der Parteieneintritt wäre.
Supertoll! Bombastisch! Was haben die früheren Generationen denn gemacht? Sie sind in Parteien eingetreten und was ist dabei herausgekommen? Parteien sind in meinen Augen ein so schwaches Konstrukt. Nicht, weil sie offenkundig sehr leicht korrumpierbar sind, sondern weil ihre Konstitution den Menschen schlicht nicht vor seiner eigenen Machtgier schützen kann.
Die Linke, hochgeschätzt im Publikum, hat in 2017 beispielhaft gezeigt, wie Macht Menschen verändern kann. Anderes Beispiel sind die Grünen. Gestartet als Friedenspartei in den 1980ern – und jetzt? Was macht die SPD in der aktuellen GroKo-Diskussion?
Mein Lösungsansatz
Was fehlt uns, der Friedensbewegung, neben engagiertem Nachwuchs? In meinen Augen eine gute Therapie! Ja, okay, ich wurde ausdrücklich gewarnt, diesen Begriff zu verwenden, weil er bei den meisten Menschen auf anhaltende Abwehr stößt. Meine Güte, ja dann soll‘s doch! Ich sag wenigstens nicht Psychotherapie, dann hätte ich wirklich Probleme.
Aber mal zu diesem Konflikt: Ich kenne mehr Jugendliche, die sich ihren dämlichen Elternschaften widersetzen und endlich so kaputt im Kopf sind und es so satt haben, dass sie selbstbestimmt anfangen, die Konflikte aufzuarbeiten, was eigentlich schon vor zwei Generationen hätten stattfinden sollen.
Ich verteile hier Arschtritte, ja gehörige, aber ich klage keinen direkt an. Wer sich angesprochen fühlt, sollte sich fragen, warum er/sie sich angesprochen fühlt oder gar wütend über meine Worte wird. Wer wütend wird, egal wobei, bei dem wurde ein wunder Punkt und offenes Problem angesprochen. Wer es durch sich hindurchrauschen lassen kann, der hat kein Problem mit dem, was ich hier schreibe.
Also, warum Therapien? Solange wir uns selbst nicht verstehen, wie der Mensch im Allgemeinen und das Individuum im Einzelnen ticken, bleiben wir willenlose Maschinen. Bei denen können je nach Belieben die Knöpfe gedrückt werden, von denen, die verstanden haben, dass der heutige Mensch nur ein Tier ist und nur reagiert, statt das Wunder unter seiner Schädeldecke in seinen so zahlreichen Facetten zu gebrauchen.
Wir werden nicht zum Denken gebracht, sondern nur zum Reagieren. Wir werden dazu gebracht, unsere unbewussten Reflexe zu gebrauchen statt unser bewusstes Denken. Wir werden von unseren inneren Stimmen abgeschnitten, die weit mehr wahrnehmen, als wir vermuten.
Ich meine mit meiner Forderung nicht, dass jeder Neurobiologe werden soll. Hört auf, maßlos zu übertreiben wie ein beleidigter Teenie! Nein, ich meine, dass jeder anfangen sollte, sich selbst zu beobachten. Die Achtsamkeit, die Dr. Daniele Ganser immer wieder anspricht. Setzt den schönen Spruch „Ich stand neben mir“ bewusst um. Werdet euer eigener Schatten, werdet euch Eurer gewahr und seht euch zu. Was ihr tut, wie ihr es tut und findet so heraus, warum ihr es tut.
Das führt zwangsläufig dazu, dass sich jeder seinem eigenen wichtigen Ego stellt. Dann oder vorher oder währenddessen sucht euch eine/n Therapeuten/in und seht euch ins Gesicht! Dass der Weg, jemanden zu finden, der/die einen begleitet auf dem Weg, zu dem ich euch rate, schwer ist, weiß ich sehr genau.
Äußerer Frieden kann nicht geschaffen werden, wenn der Wille zum inneren Frieden fehlt!
Denn wie wollt ihr etwas geben, was ihr selbst nicht habt? Und dazu auch noch die Sucht, geboren aus unendlich tiefen Wunden, pflegt, es für euch selbst zu beanspruchen? Ja, ich kann mir die innere Haltung einiger jetzt vorstellen: Warum sollte ich etwas tun, was mir auch nie gegeben wurde?
Weil ihr es den nachfolgenden Generationen, euren Kindern, schuldig seid!
Jede Generation, die die Konflikte der Vergangenheit nicht anschaut, gibt sie weiter an die nächste. Niemand kann diese Art der Wunden, die wir uns zufügen, weg-ignorieren. Das funktioniert nicht! Ich hab es bis zur grauen Erschöpfung versucht. Es klappt nicht! Nur wer sich die Zeit und die Geduld nimmt, das zu betrachten, kann loslassen und einen neuen Start für den weiteren Generationenweg wagen.
Ihr habt Wunden, deren Größe sich eine nach 1990 geborene Generation nicht ansatzweiße ermessen kann. Aber warum macht ihr das, was euch angetan wurde, nun selbst? Warum gebt ihr eure Konflikte an uns weiter und verbietet uns den Mund? Jeder Täter war einmal Opfer. Täter werden nicht geboren, sondern gemacht.
Wut hat ein gespaltenes Gesicht
Wir können nichts für eure Wunden. Serienmörder suchen sich Opfer aus, um einer unbeherrschbaren Situation in der Vergangenheit wieder Herr zu werden. Sie töten beispielsweise Stellvertreter des prügelnden Vaters oder der vernachlässigenden Mutter. Das sind die Extreme, wo Wut hinführen kann! Nicht notwendigerweise muss! Wir sind nicht alle Mörder, aber wir sind alle dazu fähig, wenn bestimmte Umstände eintreten. Und wir pflegen einige Vorstufen dessen, ohne zu merken, geschweige denn zu verstehen, was wir mit uns anstellen.
Empörender Populismus regt sich in den USA bei etwaigen mörderischen Ereignissen. Fast wie die Superstars des roten Teppichs oder des Walk of Fames werden Serienmörder dort „behagt“ und in Szene gesetzt. Hier in Deutschland gibt es die abscheuliche Verschweigung solcher Ereignisse. Zwar wird seit den Scherereien um die katholische Kirche das Wort „Vergewaltigung“ ab und zu in den Mund genommen. Aber was hinter diesem Wort steckt, wird mit der Schameshand in ausdauernder Qualität vertuscht.
Wut ist ein Naturium und wichtiger Energieträger. Aber eben auch ein Werwolf. Weil unwissend mit ihr umgegangen wurde, haben wir uns eine unendliche Vollmondnacht geschaffen, greifen alles an, was uns über den Weg läuft und sind dabei, so eine ganze Horde an Werwölfen zu schaffen, die munter immer größer wird.
Erst im Sehen, Respektieren und Würdigen der Wut und im Anschauen des zugrundeliegenden Wutproblems können wir die antreibende Energie aus der Wut ziehen und „endlich was machen.“
Die Alternative wäre, verbittert weiter in einem Käfig auf den weißen Ritter zu hoffen, den es nur im Spiegel gibt. Und das Ergebnis würden alte zerknautschte Frauen und Männer sein, die sich selbst nicht kennen und ihr Leid auf andere projizieren. Hier funktioniert es genau wie bei der Liebe: Die wird doppelt so groß, wenn man sie teilt.
Redaktionelle Anmerkung: Die Autorin dieses Beitrags gehört zum Journalisten-Team des Online-Magazins Neue Debatte, in dem Blogger, Wortkünstler, Journalisten, Soziologen, Philosophen, Querdenker und Menschen aus allen Milieus und mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund sachlich fundiert das Zeitgeschehen aus ihrem Blickwinkel skizzieren. Die Neue Debatte ist nicht werbefinanziert und trägt sich ausschließlich durch Zuwendungen ihrer Leserinnen und Leser. Um eine echte Demokratisierung der Medien von unten voranzutreiben ist sie keiner Partei, Stiftung oder sonstigen Institution verpflichtet. Sie braucht daher Ihre Unterstützung.
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