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Störenfried in Haft

Störenfried in Haft

Etablierte und unabhängige Journalisten können die gleichen Enthüllungen publizieren — doch nur letztere müssen mit harten Strafen rechnen.

Murray ist auch der erste Mensch seit einem halben Jahrhundert, der in Großbritannien wegen Missachtung des Gerichts eingesperrt wird — vor einem halben Jahrhundert jedoch herrschten noch andere juristische und moralische Wertvorstellungen; die Verfolgung Homosexueller und die Inhaftierung von Frauen, die abgetrieben haben, waren damals kaum abgeschafft.

Dass Murray für acht Monate ins Gefängnis muss, folgend dem Urteil von Lady Dorrian, Schottlands zweithöchster Richterin, beruht freilich und in keinster Weise auf einer kühnen Auslegung des schottischen Rechts und ist keineswegs ein Beleg dafür, dass das schottische und das Londoner politische Establishment nach Rache an dem früheren Diplomaten trachten.

Und dass der britische Oberste Gerichtshof es ablehnte, Murrays Einspruch anzuhören — obwohl es viele eklatante juristische Unregelmäßigkeiten in dem Fall gab —, und so seinen Weg ins Gefängnis überhaupt erst ebnete, liegt ebenfalls an der konsequenten Anwendung des Gesetzes und ist nicht im geringsten politisch beeinflusst.

Murrays Gefängnisstrafe hat nichts damit zu tun, dass er den britischen Staat Anfang der 2000er-Jahre bloßgestellt hat, indem er zu einer Rarität wurde: zu einem Whistleblower im diplomatischen Dienst. Er machte die Kollaboration der britischen und US-amerikanischen Regierungen mit dem Folterregime von Usbekistan öffentlich.

Seine Inhaftierung hat auch ganz und gar nichts damit zu tun, dass Murray den britischen Staat in jüngster Zeit in Verlegenheit brachte, indem er aus einem Londoner Gerichtssaal über die erschreckenden und anhaltenden Rechtsverstöße berichtete, die es im Zusammenhang mit dem Versuch Washingtons gab, die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange zu erlangen, um ihn lebenslang in einem Hochsicherheitsgefängnis wegzusperren. Die USA wollen an Assange ein Exempel statuieren, weil er Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan ans Licht brachte und weil er geleakte diplomatische Depeschen veröffentlichte, die Washingtons hässliche Außenpolitik entblößten.

Murrays Inhaftierung steht in keinerlei Zusammenhang damit, dass das Verfahren wegen Missachtung des Gerichts es den schottischen Richtern ermöglichte, ihm seinen Pass zu entziehen, sodass er nicht nach Spanien reisen und in einem Prozess zu Assange aussagen konnte, der Großbritannien und die USA ernsthaft in Verlegenheit bringt.

Der spanischen Anhörung liegen stapelweise Beweise dafür vor, dass die USA Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London illegal ausspioniert haben, wo er politisches Asyl suchte, um einer Auslieferung zu entgehen. Murray sollte eigentlich vor dem Gericht darüber aussagen, dass seine vertraulichen Gespräche mit Assange gefilmt wurden, ebenso wie Assanges vertrauliche Treffen mit seinen eigenen Anwälten. Angesichts einer solchen Spionage hätte das Verfahren gegen Assange eingestellt werden müssen, wenn die Richterin in London das Gesetz tatsächlich angewandt hätte.

Ebenso hat Murrays Inhaftierung nichts damit zu tun, dass er das schottische politische und juristische Establishment in Verlegenheit brachte, indem er fast im Alleingang über die Perspektive der Verteidigung im Prozess gegen Schottlands ehemaligen Ministerpräsidenten Alex Salmond berichtete. Die Konzernmedien ließen unter den Tisch fallen, wie die von Salmonds Anwälten vorgelegten Beweise dazu führten, dass die größtenteils weibliche Jury ihn in einer Reihe von Anklagen wegen sexueller Übergriffe freisprach. Murrays aktuelle missliche Lage geht auf seine Berichterstattung über Salmonds Verteidigung zurück.

Und ganz sicher hat Murrays Inhaftierung rein gar nichts mit seiner Argumentation zu tun — die erklären könnte, warum die Jury von der Anklage so wenig überzeugt war —, dass Salmond tatsächlich Opfer eines Komplotts hochrangiger Politiker war, um ihn zu diskreditieren und zu verhindern, dass er an die Spitze der schottischen Politik zurückkehrt. Laut Murray wollte man Salmond die Chance vorenthalten, es mit London aufzunehmen, ernsthaft für die Unabhängigkeit zu plädieren und damit zu entlarven, dass die Schottische Nationalpartei SNP sich in diesem Bestreben zunehmend auf Lippenbekenntnisse beschränkt.

Unerbittlicher Angriff

Murray ist dem britischen Establishment seit fast zwei Jahrzehnten ein Dorn im Auge. Jetzt haben sie einen Weg gefunden, ihn wie Assange einzusperren und womöglich jahrelang in Rechtsstreitigkeiten zu verwickeln, die ihn in den Bankrott treiben könnten.

Und angesichts seines äußerst fragilen Gesundheitszustands, der dem Gericht genau dargelegt wurde, besteht die Gefahr, dass aus seiner achtmonatigen Gefängnisstrafe eine lebenslange Haft wird. Vor 17 Jahren wäre Murray fast an einer Lungenembolie gestorben, als er schon einmal erbarmungslos vom britischen Establishment angegriffen wurde. Sein Gesundheitszustand hat sich seitdem nicht gebessert.

Zu dieser Zeit — in den frühen 2000er-Jahren, im Vorfeld und in den frühen Phasen des Einmarschs in den Irak — enthüllte Murray die Mitwirkung seiner britischen Diplomatenkollegen, wie sie vor den von ihrer eigenen Regierung gebilligten Verstößen und der korrupten und korrumpierenden Allianz mit den USA die Augen verschlossen.

Als später Washingtons Programm der „außerordentlichen Auslieferung“, ein anderes Wort für staatliche Entführung, sowie das Folterregime an Orten wie Abu Ghraib ans Licht kamen, hätte sich die Aufmerksamkeit auf das Versagen der Diplomaten richten sollen. Im Gegensatz zu Murray weigerten sie sich, zu Whistleblowern zu werden, und deckten die illegalen Machenschaften und die Barbarei.

Zum Dank dafür wurde Murray von Tony Blairs Regierung unter anderem als Sexualstraftäter verleumdet — Vorwürfe, von denen ihn eine Untersuchung des Auswärtigen Amtes schließlich reinwusch. Aber der Schaden war angerichtet, Murray wurde aus dem Amt gedrängt. Ein Bekenntnis zu moralischer und rechtlicher Redlichkeit war offensichtlich unvereinbar mit den Zielen der britischen Außenpolitik.

Murray schlug einen neuen Weg ein, und er tat dies mit einem beliebten Blog. Er setzt sich dort entschlossen für die Wahrheitsfindung und den Schutz der Menschenrechte ein — und stößt damit erneut auf heftigen Widerstand des britischen Establishments.

Zwei-Klassen-Journalismus

Zutiefst verstörend an der rechtlichen Neuerung bei Lady Dorrians Urteil gegen Murray — und der Hauptgrund dafür, dass er ins Gefängnis muss — ist ihre Entscheidung, Journalisten in zwei Klassen zu unterteilen: auf der einen Seite jene, die für anerkannte Konzernmedien arbeiten, und auf der anderen Seite solche wie Murray, die unabhängig sind, oft von den Lesern finanziert werden und eben nicht üppige Gehälter von Milliardären oder dem Staat beziehen.

Lady Dorrian zufolge haben bei Konzernmedien angestellte Journalisten einen Anspruch auf Rechtsschutz, den sie inoffiziellen und unabhängigen Journalisten wie Murray verweigert — genau den Journalisten also, die Regierungen am ehesten die Stirn bieten, das Rechtssystem kritisieren und die Heuchelei und Lügen der Medienunternehmen aufdecken.

Als sie Murray der sogenannten Puzzle-Identifikation für schuldig befand, unterschied Lady Dorrian jedoch nicht zwischen dem, was Murray über den Fall Salmond schrieb, und dem, was von oben gebilligte Konzernjournalisten schrieben.

Aus gutem Grund. Zwei Umfragen haben gezeigt, dass die meisten, die den Salmond-Prozess mitverfolgt haben und glauben, eine oder mehrere seiner Anklägerinnen identifiziert zu haben, dazu aufgrund der Berichterstattung der Konzernmedien — insbesondere der BBC — imstande waren. Murrays Artikel scheinen nur sehr wenig Einfluss auf die Identifizierung der Anklägerinnen gehabt zu haben. Unter den namentlich genannten Journalisten wurde Dani Garavelli, der für die Scotland on Sunday und die London Review of Books über den Prozess berichtete, von den Befragten 15-mal häufiger als Murray als die Quelle genannt, die es ihnen ermöglichte, Salmonds Anklägerinnen zu identifizieren.

Lady Dorrian richtete sich vielmehr nach der Frage, wer im Falle der Offenlegung der Identitäten Schutz genießen würde.

Wer für ein großes Publikum für die Times oder den Guardian schreibt oder für die BBC sendet, wird von den Gerichten vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Wer über dieselben Themen für einen Blog schreibt, riskiert, ins Gefängnis zu wandern.

Tatsächlich besteht die rechtliche Grundlage der „Puzzle-Identifikation“ — man könnte auch sagen: ihr alleiniger Zweck — darin, dass sie dem Staat gefährliche Befugnisse einräumt. Dadurch kann das juristische Establishment willkürlich entscheiden, welches Stück des vermeintlichen Puzzles eine Identifikation ermöglicht hat. Enthält eine Reportage von Kirsty Wark von der BBC ein Puzzleteil, gilt dies in den Augen des Gerichts nicht als Identifizierung. Zeigen aber Murray oder ein anderer unabhängiger Journalist ein anderes Puzzleteil, zählt es als Identifizierung. Wie leicht dieses Prinzip missbraucht werden kann, um regierungskritische Journalisten zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen, muss nicht eigens betont werden.

Und doch ist dies nicht mehr allein Lady Dorrians Urteilsspruch. Indem er sich weigerte, Murrays Berufung anzuhören, hat der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs dieses gefährliche Zweiklassensystem abgesegnet.


Redaktionelle Anmerkung Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Craig Murray‘s jailing is the latest move in a battle to snuff out independent journalism“ auf MRonline. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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