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Topografie des Schocks

Topografie des Schocks

Das Erdbeben von Lissabon, der Untergang der Titanic, 9/11 und Corona bilden eine Chronik von Ereignissen, die zu ihrer Zeit jeweils das Wirklichkeitsverständnis der Menschen in ihren Grundfesten erschütterten.

„Als aber die Morgenröte aufstieg, drängten die Engel des Herrn den Lot und sprachen: Rette dein Leben, blicke nicht hinter dich, bleibe nicht stehen. Die Sonne war eben über der Erde aufgegangen. Da ließ der Herr auf Sodom und Gomorrha Schwefel und Feuer vom Himmel herabregnen und vernichtete von Grund auf die Städte. Lots Frau aber sah hinter sich und erstarrte zur Salzsäule.“

Eine der alten Geschichten: Gott lässt über die verderbten Städte eine Katastrophe hereinbrechen. Aber er bestraft auch die, die sich umschaut. Warum nur? Dazu schweigt der biblische Chronist. Muss mit dem Bösen, das Gottes Zorn erregte, die Vergangenheit überhaupt gelöscht werden — wie es die Apokalypse des Johannes später ohnehin vorsieht? Wer glaubt noch an so etwas?
Ein uns zeitlich sicher näher stehendes Bild von einer Katastrophe bietet uns diese optisch beeindruckende Szene auf der Grenze zum polaren Eismeer:

Alles ist friedlich. Auf dem Oberdeck des Schiffes öffnet sich dem Betrachter das lichte Firmament: „Der gestirnte Himmel über mir“, könnte einem ein schöner Satz von Immanuel Kant einfallen, „die Gewissheit der Welt in mir“, möchte man den Gedanken — anders als Kant — vollenden. Was aber passiert unter der Oberfläche des Wassers? Der Augenblick der Katastrophe ist schwer in Worte zu fassen. Einige silbern glänzende Eisklumpen liegen auf dem Deck. Was bedeutet das schon in dieser vollendeten Nacht?

90 Jahre später registriere ich die Schilderung eines Psychoanalytikers; sie gilt einer Erfahrung, die Milliarden Menschen mit dem Spezialisten für innere Moves teilten:

„Ich hab das Fernsehen eingeschaltet und sah die nächsten zwei Stunden immer wiederholt diese Bilder von den zwei Maschinen, die in die Türme fliegen; das war so penetrant und so unglaublich, dass ich das nicht mehr verlieren werde — unfassbar.“

Unfassbar — so kam es also selbst denen vor, die jene Katastrophe im Fernsehen mitverfolgten. In einem sekundären Wahrnehmungsmodus, in dem plötzlich Realität und TV-Bild verschmolzen. Derartige Ereignisse überfordern uns bekanntlich; es bleibt die Ohnmacht der Begriffe gegenüber dem Wirbel des Geschehens. Was den Tatbestand noch mehr verkompliziert: Man nennt ja ein Geschehen gerade unwirklich, wenn es auf schmerzhafte Weise wirklich ist. Die Folge: Plötzlich fühlt man sich „geworfen“ — nach Heidegger — in eine unvertraute Welt. Ein Schicksal, mit dem die Moderne leben muss?

Vorerst einmal zu den Fakten:

Am 1. November 1755 bebt in der Stadt Lissabon die Erde. Am 12. April 1912 notieren die Agenturen den Untergang des damals größten Schiffes, der Titanic, und lösen unter den Zeitgenossen Entsetzen aus. Am 11. September 2001 stürzen nach einem Terroranschlag, der bis heute im diffusen Licht einer verstockten, verhinderten Aufklärung bleibt, die beiden Türme des World Trade Centers in sich zusammen.

Katastrophen, auf den ersten Blick weitverstreut in der Zeit; gleichwohl bilden sie untereinander vergleichbare Phänomene aus der Perspektive einer Geschichte der Gefühle, die sich in allen drei Fällen als Schock enthüllen.

Katastrophen: Viele Tausende Jahre lang wurden sie als metaphysische Zeichen gedeutet, als Strafe Gottes. Meist von Propheten angekündigt. Darin bestand ihre einsehbare Vorgeschichte. Die nachfolgende Bestrafung durch Gott rundete dann das Geschehen zu einer moralischen Legende ab.

An diese Deutung mag so recht keiner mehr glauben. Wir haben an die Stelle religiöser Sinngebung wissenschaftliche Erklärungen treten lassen. Je tiefer wir jedoch verstrickt sind in die Paradoxien der Moderne, desto massiver drängt sich ein Verdacht auf: Kein Gott, sondern wir selbst könnten Mitverursacher der Ereignisse sein, die wir als plötzlich über uns hereinbrechend deuten. In den Schock über die Katastrophe mischt sich zunehmend die Ahnung, dass eintritt, was die Phantasie schon vorher ausmalte. Diese Fantasie aber ist den Bildern näher als den diskursiven Begriffen, die zuletzt selbst den nackten Zahlen unterlegen sind. Soweit einige Vorbemerkungen.

Die Frage ist: Lässt sich das Coronaphänomen in diese Kette von Katastrophen und Reaktionsmustern einfügen — ja an der Intensität des Schocks ablesen, den diese Ereignisse auslösten? Was wir allein aus den Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre gelernt haben sollten: Etwas geht vor im semantisch diffusen Raum zwischen den auslösenden Ursachen, den Fakten, den medialen Zugriffen darauf und den Gefühlen; etwas, das die Grenzen zwischen dem Normalen und dem Unnormalen einreißt — dabei so etwas wie Unheimlichkeit, Unbehaustheit, Beklemmung zurücklässt — wie in einer Prosaerzählung von Kafka.

Folgt das Coronaszenario, in das wir heute gebannt scheinen, überhaupt dem Bild von einer Katastrophe? Der Ausdruck Pandemie scheint dies nahezulegen, wirkt aber eher gemessen an der Realität als eine immer aufs Neue beschworene Suggestion, als dass sie einen Clash zwischen dem Normalen und dem Unnormalen anzeigte — was die Sache deutlich schwieriger macht, zumal heute der Streit zwischen den Deutern des Phänomens Corona — diese mehr Analysten als reflektierende Analytiker — einem Krieg um die herrschenden Begriffe ähnelt.

Dabei sind es vor allem Bilder und immer wieder Bilder, die als Impulsgeber und Transmissionsriemen im Raum zwischen Erklärung, Maßnahmen und Drohung auftreten und über die Zeiten hinweg Analogien zwischen den Katastrophen nahelegen — real wirkende Bilder, virtuelle Bilder, selbst Albträume wirken darin. Sie und weniger die Ereignisse selbst lösen den Schock aus.

Topografie des Schocks 1: Das Erdbeben von Lissabon

Es ist der 1. November 1755, als die Katastrophe über die portugiesische Metropole hereinbricht. Dass sie allerdings noch heute im kollektiven Gedächtnis einen Platz hat, liegt nicht an der Zahl der Toten und den Ausmaßen der Zerstörung. Mit dem physischen wurde damals auch ein geistiges Beben ausgelöst.

Abzulesen ist das noch heute an den schrillen Stimmen, die sich damals zu einem dissonanten Chor der Geister, Philosophen und Theologen erhoben. Wer ihn verstehen will, muss in die Bilder- und Gedankenwelt der Zeit eintauchen, sich bewusst machen, dass Ideen von Vorsehung, Gerechtigkeit und göttlicher Ordnung für viele Menschen damals noch von existenzieller Bedeutung waren. In der Regel boten sie Schutz, ein himmlisches Dach — bis zu jenem Tag eben, als dieses himmlische Konstrukt einstürzte.

Ein Wettstreit zwischen Begriffen und Bildern

Zwei gegensätzliche Bilder prägten das abendländische Bewusstsein vom Wirken Gottes. Das eine zeigt ihn als unerbittlichen Weltenrichter, das andere als väterlichen Bewahrer der Welt. Die allgemeine Vorstellung war ja geprägt von der Idee, dass die Welt eine geschlossene Ordnung darstellt. Es herrschte so etwas wie ein metaphysischer Optimismus. Und dieser wurde infrage gestellt. Verbunden mit der skeptischen Anmerkung: Wie kann Gott solch eine Katastrophe zulassen?

Von heute aus betrachtet keine Frage, die uns wirklich noch bewegt. Man könnte gar spötteln über die getragene Behäbigkeit, die vor allem Philosophen in diesem Diskurs an den Tag legten. Sie seien hier nur kurz referiert.

So hält der englische Philosoph Shaftesbury zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts eine begütigende Erklärung für den Fall einer möglichen Katastrophe bereit. Shaftesbury ist ein Aufklärer und betrachtet ein Erdbeben als Naturereignis, dem ein höherer Sinn innewohnt, getragen von der Idee des Guten, die auch das Böse einschließt: „All discord, harmony not understood. All partial evil, universal good.“ (Alle Zwietracht ist nicht verstandene Harmonie. Alles partiell Böse ist universell Gutes.)

Alexander Pope, ein Landsmann von Shaftesbury, bringt die Allianz aus Natur, Sinn und dem Guten gar auf eine einprägsame Formel: „What ever is, is right.“ (Was immer ist, ist richtig.)

Ein Satz, der wie ein ideologisches Fanal wirkt oder mehr noch wie ein Werbeslogan.

Drei Schwergewichte der neuzeitlichen Philosophie, Gottfried Wilhelm Leibniz, Voltaire und Jean-Jaques Rousseau, pushten sich dann an den philosophisch üblichen Begriffskonstruktionen hoch.

Leibniz erklärt auf verschlungenen Pfaden die wirkliche Welt als die „beste der möglichen Welten“; Voltaire schreibt unter dem Eindruck des Unglücks ein Gedicht, in dem er sich gegen alle theologischen Rechtfertigungsversuche zum Anwalt des leidenden und skeptischen Individuums macht. Rousseau hingegen legitimiert die Katastrophe nach wie vor aus der Idee einer göttlichen Ordnung, aber er rückt seine Argumente in den Horizont einer modernen Zivilisationskritik: Es sind die Menschen, die für das Erdbeben verantwortlich zu machen sind. Nicht die Natur.

Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass all die Bewerter der Ereignisse als Sinn- und Weltdeuter auftreten, etwa so: Was zeigt sich an dem Erdbeben: das Wirken Gottes, die Fehler der Zivilisation oder doch nur eine wertfrei zu betrachtende Natur? Die vielleicht abgründigste, weil modernste Interpretation liefert 50 Jahre später eine Erzählung von Heinrich von Kleist: „Das Erdbeben in Chili“.

Die Novelle, eindeutig Bezug nehmend auf das Erdbeben in Lissabon, zeichnet eine wahre Topografie des Schocks, in dessen Zentrum eine moderne utopisch gezeichnete Seelenlandschaft steht. Man muss in diese Prosa hineinhorchen, um ihre Dramaturgie zu verstehen. Geschildert wird eine Situation direkt nach dem Beben. Einige Gerettete haben sich auf freiem Feld zusammengefunden: Sie erproben ein Leben nach der Katastrophe. Ja, sie erproben fast im Sinne von Derridas Konzept „La différance“ das „Ganz Andere“.

„Indessen war die schönste Nacht herabgestiegen, voll wundermilden Duftes, so silberglänzend und still, wie nur ein Dichter davon träumen mag. Überall längs der Talquelle hatten sich, im Schimmer des Mondscheins, Menschen niedergelassen, und bereiteten sich sanfte Lager von Moos und Laub.

Auf den Feldern, soweit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, als ob das allgemeine Unglück alles was ihm entronnen war zu einer Familie gemacht hätte“ (Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili).

Kleist zeichnet hier eine sozial erweiterte Naturidylle — nachdem diese Natur doch zuvor noch brutal gegen die Menschen gewütet hatte. Zu den Überlebenden der Katastrophe zählen Jeronimo und Josephen, ein Liebespaar, das zuvor wegen sittenwidrigem Verhalten zum Tode verurteilt worden war. Doch das fieberhaft empfundene Glück verleitet sie, die Utopie nach dem Beben für den Anfang einer neuen menschenfreundlichen Weltordnung zu halten. Mit anderen strömen sie in eine Kirche, wo sie Gott für ihre Rettung danken wollen. Doch die Stimmung schlägt um. Ein Prediger sieht in dem Beben ein Strafgericht Gottes. Jeronimo und Josephen werden als Urheber der Katastrophe beschuldigt und von der hysterischen Menge getötet.

Warum trifft einen diese Novelle mehr als der Streit der Philosophen? Wohl weil man ahnt, dass sie näher an die „Seelenlandschaft“ des Coronageschehens heute heranrückt als die Dispute der Großdenker. Kleist betrachtet das Erdbeben, als böte es nur das Vorspiel für ein anderes Drama. Er wählt bewusst das Bild einer Utopie, um darin das Moment des Unheimlichen aufzuspüren. Die anschließende tödliche Wende ist in diesen schönen Bildern schon latent vorhanden: Es ist nicht die Katastrophe an sich, die den Schock auslöst, die innere heftige Dramaturgie setzt da ein, wo Kleist die Katastrophe als Konflikt nach innen verlegt. Darin verspüren wir heute in „Coronazeiten“ eine tiefe Verwandtschaft mit ihm.

Das Ereignis „Corona“ wurde ja schon früh überformt von einer Erzählung, die in ihrer fragmentierten Verkettung von „Notwendigkeiten“ und selektiver Bildlichkeit erst den Schrecken erzeugt, von dem wir fälschlicherweise annehmen, er komme von außen durch die Viren; und doch ahnen wir, dass er im Inneren unserer verdrängten Ängste lauert — dort wo kein Argument mehr hinlangt; wohl aber Mythen und Bilder; zuletzt werden wir Zeuge, wie die Muster von Macht und Ohnmacht eine wahre Renaissance erleben.

Topografie des Schocks 2: Der Untergang der Titanic

Zu den Fakten:

In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 kollidierte die RMS Titanic, ein riesiger britischer Luxusliner, auf seiner Jungfernfahrt von Southampton nach New York mit einem Eisberg und sank.

So das Kerngeschehen. Dass wir es in dieser Nacktheit nicht hinnehmen, liegt nicht an der Größe der Katastrophe. Nicht einmal 1.500 Tote verzeichnet die Chronik. Zwei Jahre nach dem Untergang der Titanic stürzt Europa in einen Krieg mit fünf Millionen Opfern; noch einmal 30 Jahre später wird sich in das kollektive Gedächtnis eine ähnlich große Zahl einbrennen — das kalte Maß für eine Topografie des Grauens: Orte wie Auschwitz und Birkenau tauchen darin auf.

Ob der Untergang der Titanic überhaupt in die Kette der großen Katastrophen der Moderne gezählt werden kann, erscheint vor diesem Hintergrund fraglich. Im Falle des Erdbebens von Lissabon war die Erwartung, dass ein fürsorglicher Ordnungsgott die Welt trägt. Die Titanic steht hingegen für die Idee, dass sich die Menschen die Natur untertan machen können, dass sie sie mit den Mittel der modernen Technik bezwingen können, dass ihnen die Natur nichts anhaben kann.

Wurde also an jenem 12. April 1912 im eisigen Polarmeer ein weiterer Fall menschlichen Hochmuts, konkret gesprochen: der Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts, infrage gestellt oder vielleicht doch nur eine überfällige Welt zu Grabe getragen?

Immerhin nicht unwichtig: Der Untergang der Titanic bietet eine letzte große Erzählung, die sich die Moderne zutraut. Ein Ereignis wie geschaffen für ein filmisches Drama. Szenen auf einem Schiff, die einen dichten chronologischen Erzählstrom bilden, die ihre Faszination aber auch aus Elementen des Unheimlichen gewinnen — aus Schockbildern gleichsam, die immer wieder den narrativen Fluss ins Stocken bringen. So wie dieses:

Der Eisberg ragt 15 bis 18 Meter über das Wasser.

Was für in Bild, wie das weiße Geklüft im polaren Nachtnebel auftaucht — so bizarr und majestätisch. Der Augenblick vor der Katastrophe mischt dem Schrecken ein Moment des Erhabenen bei. Dazu der Schauder, dass das Entscheidende — der tödliche Zusammenstoß zweier Kräfte — unterhalb des Sichtbaren geschehen wird, im Verborgenen. Dort, wo unsere Seelen und die Welt sich am heftigsten berühren und auf eine Entladung warten. Hier ja regiert das Unheimliche.

Das Unheimliche — zumindest nach Freud — ist etwas heimlich in mir Vorhandenes, Abgewehrtes, von dem ich nichts weiß, weil es verdrängt ist, aber eben doch dumpf ahne, dass es so etwas in mir gibt — das ist die eine Hälfte. Und nun geschieht in der Außenwelt etwas, das sozusagen genau das, was in mir vorhanden ist, enthält — ich werde außen mit etwas konfrontiert, was ich in mir selbst abgewehrt habe. Gewissermaßen ein gedoppelter Schock. Dazu passt dieses Bild:

Als sich das Schiff kurz vor seinem Untergang steil aufstellt, irren die Menschen wie kleine schwarze Punkte, ein Heer von Ameisen, auf den abschüssigen Planken umher. Es ist ein albtraumhaftes Bild, unwirklich und doch in seiner fotografischen Genauigkeit von bestürzender Intensität. Was da geschieht, ist real — und doch kommt es einem vor, als sei es schon als ein inneres Bild vorhanden gewesen. Wie ein zuvor gegebenes Versprechen in einem Zeitalter der unerklärlichen Furcht.

Von Beginn an war der Untergang der Titanic in ein Meer von Erklärungen und absurden Recherchen getaucht. Der Mythos jener Aufklärung, die nach Theodor W. Adorno abrechnen wollte mit der Unwissenheit und den Lügen, hat sich nirgendwo sonst so ungehemmt ausleben können wie hier. Die Sucht nach Zahlen, Objektivität und technokratischer Zurichtung spiegelte schon damals im Vorfeld der Katastrophe ein zwanghaftes Denken, das sich versichern wollte gegen die Risiken des Lebens.

Gerade dieses zwanghafte Vertrauen auf Zahlen und Größenangaben verbunden mit einem blinden Changieren zwischen Normalität und Neuer Normalität hat von Anfang an auch den Diskurs um Corona zerrüttet. Ebenso trugen dazu die Bilder bei, die den Ereignissen zugeschrieben wurden, aber Abbilder des Fiktiven, des Glaubens waren, Instrumente der Lancierung von Meinungen, in der alle Differenzierung versank.

9/11 — Im Rausch der Bilder

Bild 1

An einem Maitag werden die letzten Teile der stählernen Ruine von Manhattan entfernt. Dort, wo das World Trade Center stand, war ein Gerippe übrig geblieben, das Künstler zu Fotomontagen animierte. Eine davon ist im Internet zu sehen unter der Überschrift „Enter Ground Zero“.

Den Vordergrund bildet ein Trümmerberg aus Steinen und Schutt. Aus einem Wandstück ragen ganze Bündel von Rohrleitungen, Strippen und Kabeln heraus. Auf einer Plakatwand ist in greller Schrift zu lesen: 10.000 Dollar Cash Award. Dahinter erhebt sich, in Wolken von Staub gehüllt, das lichte Ruinenskelett. In seiner pyramidischen Form der Staffelungen und Zwischenräume erinnert es an ein berühmtes Bild von Pieter Bruegel „Der Turmbau zu Babel“ — die Legende vom Fall einer Stadt.

Bild 2

Der Zappende springt von einem Bild ins nächste.

Er sieht eine Baracke und weiß nicht, ob er sie einem Western oder einer Dokumentation über Großstadtslums zuordnen soll. Die Härte der Übergänge in der Dokumentation zu 9/11 genießt er, den Bildernebel, die Konfrontationen, die Interferenzen. Er hat sich eine Wahrnehmung antrainiert, die alles kurzschließt, in reine Präsenz bannt; er ist ein Bewegungsartist in einem flutenden Universum der Bilder und Töne. So ausgestattet begegnet er der Realität und selbst der Katastrophe.

Die Topografie des Schocks, die sich an jenem Tag abspielt im Clash zwischen dem Anschlag und den reagierenden Gefühlen, ist ohne das Zwischenmedium des TV nicht denkbar. Ein Moment des Einmaligen just in time wird an diesem Tag für Milliarden Zuschauer existenziell spürbar, aber zugleich konterkariert von der Wiederholung der beiden Hauptbilder, dem Flug der Boeings in die Türme und deren bald folgendem Einsturz. Dadurch entsteht eine Art Wettstreit zwischen dem Ereignis und dessen sekundärem Abbild auf dem Screen. Führt sie beim Zuschauer zu einer allmählichen Abschwächung des Schocks?

Die Bilderfolge beschreibt fast so etwas wie ein Mantra. Es ist der Versuch, durch die Mimesis einer Wiederkehr des Gleichen mehr an Realität herauszupressen, als die zwei Sequenzen bieten. Vorrangig fern aller Begriffe. Anders als nach dem Erdbeben von Lissabon, wo ein Diskurs das Unfassbare in Begriffe bannen wollte, oder nach dem Untergang der Titanic, wo den Schrecken eine Erzählung milderte, steht der 11. September für eine tiefgreifende Verwirrung unseres Wirklichkeitsverständnisses. Getroffen wurde ein Denken, das sich zuvor scheinbar problemlos auf der Grenze zwischen Realität und den inneren und äußeren Bildern bewegt hatte.

Zur Dramaturgie der Bilderakkumulation an diesem Tage zählt aber auch eine weitere Bilderzählung. Sie generiert einen topografischen Kurzschluss zwischen zwei Welten: der Wüste in Afghanistan und der entfesselten Urbanität von Manhattan, die an H. G. Wells Roman „War in the air“ erinnert, die Stadt ein Ort der Dekadenz, ein Moloch, eine Hure der Zivilisation.

Die uns kränkende Zumutung folgt dabei dem Muster eines religiösen Dramas: Die Terroristen, Söhne der Wüste, dem klassischen Ort des Purgatoriums vor der großen Tat, schleichen sich in dieses Babylon der abendländischen Zivilisation ein, wo sie sich ein paar Stunden vor der Tat noch nach altem Brauch reinwaschen. Dieser „Jungfräulichkeit” stellt die westliche Wertegemeinschaft zwei Bilder entgegen, die sich dieser Erzählung entgegensetzen: New Yorker Feuerwehrleute opfern sich für die Rettung von Betroffenen auf. Helden also nach Hollywoodmustern.

Und dann ist da noch ein merkwürdigerweise kaum beachtetes Szene-Bild von George W. Bush: Bush wird am 11. September 2001 in einer Schulklasse in Sarasota, Florida, kurz nach neun Uhr von seinem Stabschef Andrew Card, der sich seitlich zu ihm hinunterbeugt, über das Geschehen in New York informiert. Das Gesicht des Präsidenten wirkt versteinert, zugleich aber zu wissend und lauernd, um ganz in Schockstarre zu verfallen.

Es ist, als sehe Bush starr durch etwas hindurch, verkrampft auf ein Ziel gerichtet, das er auf gar keinen Fall verfehlen darf. Es ist ein Blick, der antrainiert scheint, sich in die Ferne absetzen will und doch verbissen in sich selbst zurückgestaut ist: Diese Physiognomie blendet die Welt aus; allein ein nervöses Zucken verrät dem, der länger hinschaut, dass hier jemand überfordert ist.

Man sollte dieses eine Bild aus der suggestiven Bilderflut um 9/11 hervorheben. Es zeigt schon 2001 die Nahtstelle an zwischen der „Katastrophe“ als einem „Ereignis zweiter Natur“ — nach Adorno — und den Phänomenen Macht und Ohnmacht — eine Naht, die seither in massiver Form in Handlungen, Zuweisungen und Dekreten einsickert und im Streit um Fakten, Wahrheit und „Verschwörungstheorien“ den Coronadiskurs leitet, diesen zäh in die Länge ziehend, gewollt auf eine neue Normalität zielend.

Anders als die postmoderne Weltdeutung noch in den 1980er-Jahren verkündete, bewegt sich das Coronaszenario nicht in den pittoresken Sphären zwischen Simulation, Virtualität, Fiktion und dem „Ganz Anderen” des Ereignisses; vielmehr markierte es, gegen die Annahme des von Francis Fukuyama ausgerufenen „Endes der Geschichte“, deren fatale fast peinlich triviale Rückkehr, als — man kann es sich aussuchen — Tragödie oder Farce.

Einige abschließende Bemerkungen zur Topografie des Coronaschocks

Noch einmal die anfangs gestellte Frage: Ist Corona eine über uns hereinbrechende Katastrophe, die den Ausdruck Pandemie rechtfertigt? Mit welchem Muster von Schock und anderen Gefühlen begegnet man ihr?

Nach nun mehr als 18 Monaten ist gegenüber anderen epochalen Katastrophen festzuhalten: Corona ist kein Ereignisgeschehen. Es hat sich als ein weit in die Zeit sich erstreckendes, gedehntes Narrativ entwickelt, um das herum Phänomene wie Schock, aber auch Gewöhnung eine Agenda generierten, die sich als eine Notwendigkeit sui generis — als alternativloses Krisenmanagement — erfolgreich legitimiert und von einer profunden Mehrheit kaum noch infrage gestellt wird.

Flankiert von Bildern und alltäglichen Zahlenangaben ist eine gesellschaftliche Befindlichkeit entstanden, die im Starrsinn eines Dauerpatienten — unser wahres Schicksal — alles abwehrt, was dieser neuen Kontinuität und der entsprechenden Agenda im Wege steht. Man beharrt auf einem „Rechthaben“ und einem „Richtigmachen“ — und teilt diese letztlich verheerende Trotzigkeit mit den Medien, den Intellektuellen und der Politik. Geradezu besoffen ist man dabei von der Idee einer absoluten Selbsterhaltung, die man als Volksgesundheitspflicht ideologisiert und fälschlicherweise für Menschenwürde hält.

Das ist wirklich neu und lässt im schlimmsten Fall auf eine tiefe Dissoziation der Identität schließen. Es ist indes dieses zäh sich erstreckende Narrativ Corona, das das Unheimliche, ja Kafkaeske des Prozesses ausmacht. Schon dies lässt erahnen, dass es sich auch um eine Mutation handelt. Jeden Tag davon ein wenig mehr — wenn man/frau sich nicht endlich dagegen wehrt.

Zwei Bilder zu Anfang — und zwei am Ende

Man kann darüber streiten, welches Bild vor 18 Monaten eine größere Schockwirkung auslöste. Das eine zeigt uns einen Klinikflur mit eng an eng stehenden Betten. Auf einem sehen wir für drei Sekunden einen auf dem Bauch liegenden dicken Mann, der offensichtlich um Atem ringt und im Sterben liegt.

Einen Tag später dann jenes Bild: mehrere LKWs im Morgengrauen von einer Klinik abfahrend. Man könnte hinzufügen, und der Kommentar suggeriert dies auch, vollgeladen mit Leichen — nein, fokussierter: mit Coronatoten.

Bedarf es da noch mehr an Aufklärung, um den Schock der vielen zu verstehen? — Ja!

Im Falle der Bergamo-Bilder konnte man selbst auf eine begleitende Sprache verzichten: Es herrschte landesweit Schockstarre, aus der sich dann das Totschlagargument gegen Kritiker der Coronamaßnahmen entwickelte. Der gewichtige Subtext zum Bild wurde indes von Christian Drosten und Jens Spahn verdeckt; LKWs im Morgengrauen lassen Erinnerungen wach werden an unsere Geschichte: Im Morgengrauen wurden 1943 Juden auf LKWs verladen. Ein Aktenvermerk damals führte dieses Bild weiter aus: Die Eingesperrten wurden bei „effektiver Kapazitätsauslastung“ darin — vergast.

Bilder schaffen häufig Raum für Assoziationen und Handlungsanweisungen. So wurden die Bilder aus Bergamo dazu verwandt, Menschen in Panik zu halten. Gilt nicht Ähnliches, wenn die Coronaimpfung Bilder von Penetration und Eroberung heraufbeschwört? Wir versinken im Meer der kriegsaffinen Bilder. Ebenso nachhaltig wird uns dabei unser Körper, unser Leben entfremdet — ja gestohlen. Vielleicht die schlimmste Dystopie, die uns in Dauerzeiten von Corona zukünftig droht.

Schon der Philosoph Blaise Pascal hatte vor 350 Jahren das Unheimliche an zwei irritierende Raumerfahrungen geknüpft. Die Moderne fängt für ihn da an, wo der Mensch es nicht mehr aushält, allein in einem Raum zu sein. Er wird ein Getriebener, von der Panik erfüllt, sich selbst erfahren zu müssen.

Die andere tiefe Verunsicherung liegt für Pascal hingegen im Schauder vor den unendlichen Räumen, die sich auftun, wenn der göttliche Kosmos gesprengt wird und selbst Gott darin verschwindet.


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