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Tote können sich nicht wehren

Tote können sich nicht wehren

Kanzler Scholz versucht den kürzlich verstorbenen ehemaligen Staatschef der Sowjetunion und Erfinder der „Perestroika“ für seine Kampagne gegen Russland zu instrumentalisieren.

Von Gorbatschows kritischer Einstellung zum Westen konnte ich mich selbst im November 2001 bei einem Interview überzeugen, welches ich mit dem ehemaligen KPdSU-Generalsekretär führte. Damals sagte mir der Erfinder der Perestroika ins Mikrofon: „Der Kalte Krieg wurde beendet. Es gab viel Gerede von einer Neuen Weltordnung, aber nichts davon ist umgesetzt worden. Kaum war die Sowjetunion zerbrochen, begannen geopolitische Spiele. Eine Chance verstrich.“ Die Globalisierung spiele nur auf ein Tor, nütze nur den entwickelten Staaten. „Viele unterentwickelte Länder sprechen von einem ‚neuen Kolonialismus‘. Die Politiker der westlichen Länder haben sich eben wie Kapitalisten verhalten. Sie sahen eine Möglichkeit, sich zu bereichern, und sagten nur ‚Gib her!‘. Und auch wir Russen haben bekommen, was wir bekommen sollten.“

Kanzler Scholz lobt Gorbatschow und stellt ihn gegen Putin

Und nun auch noch das: Kaum ist Michail Gorbatschow gestorben, versucht der deutsche Kanzler den Verstorbenen als Kronzeugen gegen Putin zu instrumentalisieren. Zwar gehörte Gorbatschow zu den Finanziers der oppositionellen Nowaja Gaseta. Aber das geschah nicht aus fanatischer Liebe zum westlichen Gesellschaftsmodell, sondern war eher der Überlegung geschuldet, dass jede gesunde Gesellschaft eine Opposition braucht. Putin gegenüber hat sich Gorbatschow immer loyal verhalten. Insbesondere die russische Außenpolitik seit dem Jahre 2000 fand die Unterstützung von Gorbatschow.

Und Putin? Die Beileidsbekundung von Wladmir Putin zum Tod von Gorbatschow klingt farblos. Sie korrespondiert mit dem geringen Ansehen, welches Gorbatschow in der russischen Bevölkerung hat. Putin schreibt in der Beileidsbekundung, Gorbatschow habe „einen großen Einfluss auf die Weltpolitik“ gehabt. Er habe Russland „in einer Zeit schwieriger und dramatischer Änderungen“ geführt. Und er habe versucht, „Vorschläge für die Lösung der anstehenden Probleme“ zu machen.

Gorbatschow: „In der Ukraine leben 14 Millionen Russen.“

Wie stand Gorbaschow zum Ukrainekonflikt? 2014, als sich die Krim mit Russland vereinigte, erklärte Gorbatschow gegenüber der Komsomolskaja Prawda: „Ich unterstütze das, weil sich die Bevölkerung der Krim fast einmütig dafür ausgesprochen hat.“ Gegenüber der BBC erklärte Gorbatschow im gleichen Jahr, bei der Auflösung der Sowjetunion hätte man „über das Schicksal der Krim sprechen müssen, wo seit Jahrhunderten Russen leben“. In der gesamten Ukraine lebten 14 Millionen Russen. „Das muss man berücksichtigen.“

Man kann davon ausgehen, dass der Krieg in der Ukraine Gorbatschow stark belastet hat. Zum einen weil der ehemalige Generalsekretär wohl spürte, dass die USA in der Ukraine wieder mal versuchen, Einflusssphären zu verschieben, zum anderen weil die Mutter von Gorbatschow und seine Frau Raissa Ukrainerinnen waren.

Hat die Bundesregierung für die Demokratie in Russland gekämpft?

Zum Tod von Gorbatschow erklärte Olaf Scholz am Mittwoch: „Wir wissen, dass er in einer Zeit gestorben ist, in der nicht nur die Demokratie in Russland gescheitert ist, anders kann man die gegenwärtige Lage dort nicht beschreiben, sondern auch Russland und der russische Präsident Putin neue Gräben in Europa ziehen und einen furchtbaren Krieg gegen ein Nachbarland, die Ukraine, begonnen haben. Gerade deshalb denken wir an Michail Gorbatschow und wissen, welche Bedeutung er für die Entwicklung Europas und auch unseres Landes in den letzten Jahren hatte.“ Geschickt versucht Scholz Gorbatschow als Gegner der russischen „Spezialoperation“ in der Ukraine und Putins darzustellen. Aber es gibt kein einziges Zitat von Gorbatschow, in dem dieser den russischen Einmarsch in der Ukraine kritisiert.

Eigentlich müssten die großen deutschen Medien und Politiker heute Selbstkritik üben, stattdessen gehen sie in Angriffsposition. Was hat denn der Westen getan, damit sich in Russland nach 1991 eine Demokratie etabliert?

War es nicht so, dass der Westen die Demokratie in Russland verraten hat, als westliche Politiker und große Medien im Oktober 1993 nichts dagegen einzuwenden hatten, dass der Nachfolger von Gorbatschow, der russische Präsident Boris Jelzin, mit Panzern auf das gewählte russische Parlament schießen ließ und den russischen Vizepräsidenten Aleksandr Ruzkoi sowie Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatow als „Aufständische“ verhaften ließ?

Glänzender Jelzin — „Autokrat Putin“

Und warum hatte in Berlin und Washington niemand etwas dagegen einzuwenden, dass Boris Jelzin im Dezember 1993 eine neue russische Verfassung verabschieden ließ, die den Umbau Russlands zu einer Präsidialdemokratie vorsah, in welcher das Parlament kaum Rechte hatte, während die Präsidialadministration zum alles steuernden Machtzentrum wurde? Die Machtkonzentration in einem Zentrum begann nicht mit dem Machtantritt von Wladimir Putin im Jahre 2000, sondern bereits 1993.

Und ist es nicht unglaubwürdig, wenn der Westen Boris Jelzin als Demokraten huldigt, obwohl Jelzin im Dezember 1994 zur Niederschlagung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung russische Truppen in Tschetschenien einmarschieren ließ, anstatt zunächst alles dafür zu tun, um mit den Tschetschenen eine friedliche Regelung über einen Verbleib im russischen Staatsverband zu finden?

Die Mehrheit der Russen fühlt sich vom Westen getäuscht

Gorbatschow wird in Deutschland verehrt, weil er die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Die Russen, mit denen ich spreche, verstehen das. Sie kränkt aber, dass von deutschen Politikern zwei zentrale Fragen ausgeblendet werden. Immer wieder höre ich:

„Warum haben wir 1994 ohne jegliche Gegenleistung in Form von Sicherheitsgarantien die sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland abgezogen?“

„Tragen Gorbatschow und Jelzin nicht beide die Schuld dafür, dass durch die Perestroika und die nachfolgende Schocktherapie unter Ministerpräsident Jegor Gajdar Millionen Menschen nicht nur in Russland, sondern in allen ehemaligen Sowjetrepubliken in Armut gestürzt wurden?“

Ich habe seit 1992 ganz Russland bereist, vom Kaukasus bis nach Salechard im Norden, von Kaliningrad bis zur Insel Sachalin im russischen Fernen Osten. Von allen Russen, mit denen ich über Gorbatschow sprach, konnten ihm nur gefühlte fünf Prozent etwas Positives abgewinnen. Und von diesen fünf Prozent waren auch noch viele aus Moskau und Sankt Petersburg.

Dass die Russen in ihrer Mehrheit kein Interesse an einer Demokratie westlichen Zuschnitts haben, liegt daran, dass die vom Westen unterstützten russischen Regierungen in den 1990er-Jahren eine Politik auf dem Rücken des Volkes machten.

Wichtiger als eine minimale Absicherung für die Rentner, den Schutz von Kindern und alleinerziehenden Frauen vor Armut waren für die russischen Politiker die Interessen der „neuen Russen“, der Gewinnler der Übergangszeit, die sich oft auf illegalem Wege das Staatseigentum aneigneten.

Das russische Fernsehen hatte über Gorbatschow in den letzten Jahren mit kritischer Distanz berichtet. In einer Fernsehreportage berichtete Rossija 24 in negativem Ton über die Villa, welche Gorbatschow in Deutschland besaß.

Die Zerstörung des sowjetischen Sozialsystems

Um die Folgen des brutalen Übergangs in die Marktwirtschaft abzufedern, haben westliche Stiftungen einige nützliche Sozialprojekte in Russland finanziert. Doch das war nicht mehr als ein Trostpflaster für eine insgesamt verheerende Entwicklung, in welcher der Staat seine ureigenste Aufgabe — die Schwachen zu schützen — aufgab. Aus einem Staat, der während der 73 Jahre seines Bestehens das Lebensniveau der Arbeitenden massiv angehoben hat, wurde ein Staat, der amerikanischen Ökonomen nacheiferte, die schon in Lateinamerika asoziale Schocktherapien durchgezogen hatten.

Ich stimme mit den Russen überein, die sagen, ein politischer und wirtschaftlicher Wandel in Russland sei in den 1980er-Jahren überfällig gewesen. Aber ich stimme nicht mit denen überein, die sagen, Gorbatschow sei unverschuldet gescheitert. Noch sind die Akten nicht zugänglich, die darüber Auskunft geben, über welche Entwicklungsmodelle in den 1980er-Jahren in der sowjetischen Führung debattiert wurde.

Russland beziehungsweise die Sowjetunion, die international wegen ihres hohen Bildungsstands, ihrer guten Gesundheitsversorgung und wissenschaftlichen Leistungen geachtet wurde, fiel Ende der 1980er-Jahre auf das Niveau einer Bananenrepublik zurück. Im Westen bettelte die Sowjetunion um Kredite.

Die Bevölkerung war nur noch formal an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt. Eigene gesellschaftliche Aktivität war nur erwünscht, solange sie von der Partei initiiert wurden. Die Kommunistische Partei verlor an Glaubwürdigkeit und Unterstützung.

Hans Modrow: „Gorbatschow war ein Getriebener.“

Treibende soziale Kraft der Perestroika waren gut ausgebildete Russen, junge Komsomol-Sekretäre, Republik-Fürsten und Fabrikdirektoren, die eher das wirtschaftliche Fortkommen der eigenen sozialen Schicht im Blick hatten als die Weiterentwicklung der gesamten Gesellschaft.

Gorbatschow war gut ausgebildet. Er und seine Berater müssen gewusst — zumindest geahnt — haben, welche Prozesse sie mit der Perestroika anstießen. Warum sind sie dieses Risiko eingegangen? Vermutlich war es einfach Naivität gegenüber dem Westen, der mal als Lamm und mal als Wolf in Erscheinung tritt.

Hans Modrow, ehemals SED-Bezirkssekretär in Dresden und 1989/90 Regierungschef der DDR, hatte mit Gorbatschow und der sowjetischen Führung häufig Kontakt. In einem Interview erklärte Modrow, Gorbatschow habe kein Konzept gehabt. Er sei mehr „ein Getriebener“ der Ereignisse als deren Initiator gewesen. Von Wirtschaft habe Gorbatschow, der Betriebsdirektoren von der Belegschaft wählen lassen wollte, „keine Ahnung“ gehabt. So funktioniere Wirtschaft nicht. Vor allem aber kreidet Modrow Gorbatschow an, dass dieser sich aus der Verantwortung als „Siegermacht“ von 1945 in Ostdeutschland zurückgezogen hat.

Dass man nun in Polen, in den baltischen Staaten und vor allem in der Ukraine sowjetische Denkmäler der Reihe nach abreißt und Deutschland Waffen in die Ukraine liefert, hätte Gorbatschow in den 1980er-Jahren wohl nicht für möglich gehalten.

Offenbar mangelte es ihm an Weitsicht.


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