„Bombardiert zu werden ist eine außerordentlich passive
Angelegenheit. Es gibt nichts, was man tun kann —
außer vielleicht zu den Bomben zu sprechen. Man hat als
Überlebender auch nichts, worauf man stolz sein könnte.“
— Kurt Vonnegut (1922 bis 2007)
Ilia ist vor mir aufgestanden und war schon unten. Nebenan ist eine Tankstelle. Er hat Käse, Wurst, Brot, Kefir, Vitamin C und sogar ein Pulver gegen Erkältung besorgt. Irgendwann mittags hat mich das Donnern geweckt. Eigentlich mehr das Klappern der Fenster. Von hier oben blickt man über einen Teil der Stadt. Ich mache eines der Fenster auf und lehne mich ein wenig vor.
Vom Beschuss sehe ich nichts. Keine grauen Rauchschwaden. Nirgendwo. Den Beschuss höre ich nur. So wie den Verkehr.
Es hätte ja sein können, dass man was sieht. Es ist diesig draußen. Aber mild. Überhaupt bleibt das Wetter die ganze Zeit angenehm, es regnet nicht mal. Ich brauche weder die Thermounterwäsche vom Chef des Senders noch die ganzen Winterklamotten in meiner Tasche. Es ist Frühling im Krieg um Donezk und den Donbass.
Von hier oben sehe ich dunkelgrünes Wasser, vielleicht ein kleiner See oder ein Seitenarm des Kalmius, ein paar Hochhäuser, zumeist beige Betonbauten, Dächer von oben, dunkelrote Schornsteine von Fabriken, graugrüne Erdhügel und rostige Fördertürme in der Ferne. Kahle Bäume mit hellgrünen Knospen. Direkt gegenüber steht ein Gebäude mit schwarzer Glasfassade. Wahrscheinlich verbergen sich dahinter Büros. Vor dem Haus parken Autos, die mir schon bei unserer Ankunft aufgefallen sind. Ein weißer Geländewagen vom Internationalen Roten Kreuz mit russischem Kennzeichen. Und ein schwarzer Geländewagen mit einem dicken weißen „Z“ auf der Motorhaube.
Die Kotflügel sind voller Schlammspritzer. Ich schaue mich in der Wohnung um, die ein paar Macken hat: Eine fehlende Türzarge hier, ein kaputter Schalter da. Im Bad und in der Küche stehen volle Wasserkanister. Ilia kennt das schon von seiner letzten Reise nach Donezk. Da gab es nämlich kein fließendes Wasser.
Und der Beschuss war noch heftiger, sagt er. Lauter. „Die Ukrainer haben der Stadt damals das Wasser abgedreht. Seitdem schaffen sich die Leute Vorräte an.“ Nach zehn Jahren Krieg sind die Menschen den Terror hier gewöhnt. Unten am Haus gibt es einen Wasserautomaten. Wir frühstücken. Ilia hat sein Tablet in der Hand. Er tippt darauf rum. „Tschetschenen. Wir haben tschetschenische Kämpfer als Nachbarn.“
„Woher weißt du das?“
Er dreht das Tablet zu mir. „Einer der Internetzugänge hier hat den Namen „Achmat“. Achmat! Das ist eine Spezialeinheit aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Gehört denen vielleicht der schwarze Geländewagen mit den Schlammspritzern vorm Haus?
Cap kommt. Ilia sagt ihm, dass er der Frau, in deren Wohnung wir sind und die auch hier wohnt, die Miete bringen wollte, aber es war niemand da.
Heute ist der Todestag eines russisch-nationalistischen Bloggers, verurteilten Bankräubers und Buchautors. Wladlen Tatarski, sein bürgerlicher Name war Maxim Fomin, wurde nicht alt. Ich hatte den Namen bis gerade eben noch nie gehört. Tatarski wurde am 2. April 2023 in der „Street Food Bar No. 1“ im Zentrum von Sankt Petersburg während eines von ihm veranstalteten „patriotischen Abends“ Opfer eines Bombenattentats. Die Bar hat übrigens dem Chef der Söldner-Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, gehört. Tatarski wurde von der 26-jährigen Darja Trepowa eine goldene Büste übergeben. Kurz danach explodierte die Büste. Es gab Dutzende Verletzte, einige davon schwer, Tatarski war sofort tot. Trepowa wurde vom russischen Geheimdienst festgenommen und erklärte später, in die Irre geführt worden zu sein. Sie habe angenommen, es handele sich bei der Büste um ein Abhörgerät. Zumindest soll sie das gesagt haben.
Russland verdächtigte die Ukraine. Sie wurde zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. Und Tatarski bekam posthum den russischen Tapferkeitsorden umgehängt. Oder vielmehr auf den Sarg gelegt. Cap erzählt das Ilia und mir.
„Ein paar Leute treffen sich wegen des Todestags von Tatarski unten am Fluss. Wollt ihr mitkommen?“
Ilia ist der Name ein Begriff. „Ja, warum nicht?“ Zum Fluss ist es nicht weit. Nur ein paar Minuten mit dem Auto. Cap ist keiner, der schleicht. Wir fahren bis zu einem Fischrestaurant hinter der Brücke, parken und steigen aus. Auf der Uferpromenade sehe ich einen jungen Mann, der auf einer Bank sitzt. Er hat einen Armeehaarschnitt, neben ihm stehen ein Soldatenrucksack und Krücken. Ihm fehlt ein Fuß. Eine Mine? Ein Geschoss? Ein Unfall?
Ein paar Meter weiter ist das gerahmte Foto eines Mannes aufgestellt. Daneben rote Rosen. Brennende Grabkerzen. Wodkaflaschen und ein Turm aus Pappbechern. Junge Leute, zwei Frauen und vier, fünf Männer, stehen im Kreis und unterhalten sich. Alle sind schwarz gekleidet. Das Foto zeigt Tatarski. Cap grüßt sie und stellt uns vor. Wir bekommen Pappbecher in die Hand gedrückt. Wodka. Pur.
Ilia dreht sich zu mir und weist unauffällig mit dem Kinn auf einen der Männer.
„Weißt du, wer das ist?“
„Nein, woher denn? Wer ist der Kerl?“
„Das ist ein bekannter russischer Rapper.“
Ich mag keinen Rap. Er heißt Akim, so hat er sich vorgestellt. Und mit: „Willkommen in Donezk.“ Auf Englisch. Ein bisschen gescherzt hat er auch. „Wir geben hier ein gutes Ziel für Drohnen ab.“ Oder war das ernst gemeint? Akim Apachev kommt aus Mariupol. Er hat seinen Bart mit einem roten Gummi zusammengebunden. Akim hat einen Song über die Söldner der Gruppe Wagner gemacht. Eine Art inoffizielle Wagner-Hymne. Von ihm gibt es mehrere Songs über die Söldner-Truppe und den Krieg. Martialische Videos. Pro-russische Texte. Wir stoßen an, bekommen nachgeschenkt, trinken aus, reden noch eine Weile und verabschieden uns. Dann gehen wir ins Fischrestaurant. Eines ist klar: bloß kein weiterer Wodka für mich.
Beim Essen fängt Cap an zu erzählen. Donezk ist seine Heimat. Vor dem Krieg hat er als Ingenieur gearbeitet. Er war auch am Bau eines Hochhauses in der Innenstadt beteiligt, das er uns morgen zeigen will.
Aber das war einmal. „Seit zehn Jahren ist hier alles anders.“ Nach dem Putsch von Kiew und den angefachten antirussischen Stimmungen im Land ist er zur Volksmiliz gegangen. Das war seine Antwort auf die Bomben und Raketen auf Donezk.
„Es kam zum Anti-Maidan. Nicht nur in Donezk, auch in Lugansk oder in Odessa. In der Stadt wurden Barrikaden errichtet. Die Menschen haben gefordert, dass sich der Gouverneur von den Putschisten lossagt. Es gab einen Toten. Einen pro-ukrainischen Faschisten. Das Volk war wütend. Dann ist der Gouverneur abgehauen. So ist das eben.“
Er zuckt mit den Schultern und trinkt einen Schluck Bier. In Lugansk war die russische Bevölkerung auch erfolgreich. In Odessa nicht. Dort setzten sich die Kräfte der Putschisten durch. Menschen starben, so 42 Anti-Maidan-Aktivisten, die im Gewerkschaftshaus Schutz gesucht hatten, das vom Mob in Brand gesetzt wurde. Und in Donezk? Ich will mehr wissen.
„Wie war das mit der Unterstützung der Anti-Maidan-Proteste in der Stadt? Stand die Masse hinter euch?“
„Rund neunzig Prozent der Bevölkerung hat uns unterstützt. Wer gegen uns war, ist weggegangen. Oder ruhig geblieben.“
Nur wenigen sei egal gewesen, was passiert war, erzählt Cap. Anfangs hätten sie sich von seiner Baustelle Helme und Funkgeräte geholt. Richtig organisiert und radikalisiert hätten sich die Protestierenden aber erst, als das Kiewer Regime begonnen habe, die Menschen mit der Armee anzugreifen. Cap erinnert sich an einen bestimmten Tag.
„Wenn die Armee deine Frauen und Kinder tötet, dann wehrst du dich.“
In der ukrainischen Armee seien allerdings einige unentschlossen gewesen. Manche seien geschickt worden, dabei wollten sie gar nicht kämpfen. Andere hätten sie unterstützt. Er erzählt, wie sie ukrainische Soldaten aufhielten, um sich ihre Ausrüstung, Waffen und Munition zu nehmen. Einer der Soldaten sagte dann, er habe doch nichts gegen sie. Er sei hierher versetzt worden. Eingeschüchtert waren die Soldaten. Eingeschüchtert von ihrer Entschlossenheit, sich zu wehren. Cap zieht an seiner E-Zigarette. Es riecht nach Wasserpfeife.
„Wir ließen die Soldaten ziehen, nahmen ihre Waffen, ihre Ausrüstung und viel, sehr viel Munition.“
Die ukrainischen Soldaten seien froh gewesen, in Ruhe gelassen zu werden. Ilia und Cap trinken von ihrem Bier. Ich von meinem Tee. Wir sitzen am Fenster mit Blick auf den Fluss. Vom Wasser ist nichts zu sehen. Es ist dunkel.
Zu einer Polizeistation seien sie auch gegangen. Zuerst, um sich nach dem Waffenbestand zu erkundigen. Dann, um die Waffen zu verlangen. Den Terror aus Kiew hätten sie nicht ohne Gegenwehr hinnehmen können. Auf Gewalt folge Gewalt. Cap sagt, dass die Polizei zu Beginn der Gegenproteste ja auch nicht so recht gewusst habe, wie sie sich verhalten solle.
„Wir waren Partisanen.“
Vor dem antirussischen Putsch war es kein Problem, dass die Bevölkerung im Südosten der Ukraine zum Großteil russisch ist. Für keinen. Es sei immer friedlich gewesen. Das habe sich nach dem Maidan geändert.
Unterstützung für den Widerstand habe es dann nicht nur von reichen Leuten aus der Gegend gegeben, die sich um ihren Besitz sorgten und Sicherheitspersonal engagierten, sondern auch aus Russland. Veteranen, pensionierte Offiziere und ehemalige Soldaten seien gekommen, um ihren Kampf für die Unabhängigkeit zu unterstützen.
Cap sagt, dass auch Aktive dabei gewesen seien. „Die haben extra Urlaub genommen oder wurden freigestellt, um uns zu helfen.“ Ilia meint, der Bürgerkrieg hätte dennoch verhindert werden können, wenn der damalige Präsident Janukowitsch, der übrigens aus Jenakijewe in der Nähe von Donezk stammt, nicht nach Russland geflohen wäre. Teile der ukrainischen Armee seien ihm nämlich treu geblieben. Zumindest seien die Faschisten nur eine Minderheit gewesen. Auch in der Armee. Nach seiner Flucht hatte sich Janukowitsch für die Unterstützung der Menschen im Donbass eingesetzt. Auf jeden Fall riefen die Separatisten die Unabhängigkeit der Volksrepublik Donezk aus. Es war im Juni 2014, als Cap den Auftrag der Miliz bekam, nach Kiew zu fahren. „Ich sollte dort etwas erledigen.“ Was er erledigen sollte, verrät er nicht. Auf der Straße ist es dann passiert. In Kiew. Er wurde gepackt. Von hinten. „Es waren Leute vom Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU).“
Der ukrainische Geheimdienst hatte ihn erwischt. Cap wurde verhaftet und eingesperrt. Der SBU holte sogar seine Frau nach Kiew und brachte sie zu ihm, um ihn zu erpressen. Er sollte ein Schuldanerkenntnis unterschreiben und zugeben, dass er Mitglied in einer terroristischen Organisation sei. Eben in der Miliz der Volksrepublik. Cap nimmt einen Schluck. „Im Gefängnis wäre ich so oder so geblieben. Wenn ich nicht unterschreibe, damit haben sie mir gedroht, dann würden sie meine Frau den Nazis vom Rechten Sektor ausliefern.“
Natürlich unterschrieb er den Wisch. Im Gefängnis? In Kiew als Separatist? „Wurdest du da gefoltert?“
Cap beugt sich über seinen Fisch. „Nur ein kleines bisschen.“ Krank war er während seiner Haftzeit. Ständig. Immer habe er gehustet und sei erkältet gewesen. Er schaut mich an. „Ich habe mich die ganze Zeit so gefühlt wie du dich jetzt. Eben erkältet.“ Im Dezember 2014 kam es zu einem größeren Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Kiew. Auf beiden Seiten wurden ein paar Hundert Leute freigelassen. Cap hatte Glück, er war dabei
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