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Unerhörte Ostfrauen

Unerhörte Ostfrauen

Die Frauen aus der DDR haben Kind, Kegel und Karriere in beiden Systemen geschaukelt.

30 Jahre ist der Mauerfall und damit die von vielen lang ersehnte Vereinigung von Ost- und Westdeutschland nun schon her. Nach der Wende konzentrierte man sich auf den sogenannten Aufbau Ost — und dabei wurde kaum geschaut, was im Osten vielleicht gut war und was zu bewahren sich gelohnt hätte. Zu den Fehlern der Wiedervereinigung gehört sicherlich die Frauen- und Familienpolitik. Denn flächendeckende Kinderbetreuung von der Krippe an, warmes Mittagessen in der Schule, frauenpolitische Maßnahmen zur Ausbildungsförderung oder Haushaltstage waren in der DDR lange etabliert. Heute, in der wiedervereinigten Bundesrepublik sind es Schlagworte, die für viele Frauen (und Männer), die Beruf und Familie verbinden möchten, noch immer nicht Wirklichkeit sind.

Anderes galt für diejenigen, die in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren in der DDR lebten. Viel selbstverständlicher als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen haben die Ostfrauen gleichzeitig das Kind geschaukelt und im Beruf ihre Frau gestanden. Mit der Wende erschien es einigen, als seien sie in Sachen Gleichberechtigung ins Mittelalter zurückgefallen.

So berichten es die 37 Frauen, die wir, selbst Ostfrauen, für unser Buch „Unerhörte Ostfrauen. Lebensspuren in zwei Systemen“ interviewt haben. Unerhört sind unsere Protagonistinnen in zweifacher Hinsicht: Authentisch sind sie, emanzipiert und tatkräftig; sie nehmen kein Blatt vor den Mund.

Unerhört sind sie aber auch, weil sie in den vergangenen 30 Jahren nach der Wende so wenig zu Wort kamen, weil sie viele der Errungenschaften, die in der DDR schon erreicht waren, aufgeben mussten und ihre Erfahrungen auf einmal nichts mehr wert sein sollten.

Wir wollten das ändern. Das Buchprojekt war uns ein persönliches Anliegen — und so sind auch die Zugänge und Einblicke, die uns die Frauen gewährt haben, ganz persönlich. Alle hatten etwas zu sagen.

Da ist Marianne, die die Wende buchstäblich verschlafen hat. Am nächsten Morgen ist sie verwundert über all die Menschen, die in ihrem Supermarkt mit Sekt anstoßen. Einige Tage später macht sie sich auf zu ihrem ersten Besuch in das unbekannte Westberlin — und wird fast erschlagen von der Fülle an Waren und Angeboten. Von ihren fünfzehn Mark Begrüßungsgeld, darüber lacht sie noch heute, kauft sie eine Stricknadel in einer Stärke, die es in der DDR nicht gegeben habe. Heute hat die Stricknadel einen Ehrenplatz in ihrer Wohnung.

Oder Hanne, die der Wiedervereinigung zunächst mit großer Euphorie begegnete: „Wir erwarteten das Paradies“, sagt sie. Aber schon bald hält die Wirklichkeit Einzug in Hannes Leben. Zwei Jahre dauert es, bis sie ihre plötzliche Entlassung, den damit verbundenen Druck und die Angst meistert. Aber sie beißt sich, wie so viele Ostfrauen, durch und schafft einen Neuanfang. Im Westen wird auch nur mit Wasser gekocht, resümiert sie ihr Arbeitsleben.

Alle Frauen sind zurecht stolz auf ihre Lebensleistungen. Nach der Wende wurde sie ihnen jedoch häufig abgesprochen, ihnen mit Klischees über die DDR-Frauen begegnet: Kittelheldinnen, Rabenmütter, multitaskende Viertaktweiber oder gebärfreudige Arbeitsbienen sollten sie gewesen sein, die sich in einem System, in dem Berufsautomatismus herrschte, kaum individuell entwickeln hätten können — kollektivistische Gleichmacherei statt Gleichberechtigung, so der Vorwurf, den man noch in diesem Jahrzehnt in einigen Zeitungen lesen konnte.

Die von uns interviewten Frauen wehren sich engagiert und selbstbewusst. Entwaffnend offen ziehen sie persönliche Bilanz, berichten über fehlende Anerkennung und Vorurteile, die ihnen im Westen begegnet sind, über ihren Neuanfang nach der Wende und über ihren Erfahrungsvorsprung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, den sie in den Westen eingebracht haben.

Sie wollen die Deutungshoheit über ihr Leben nicht länger anderen überlassen, sondern ihre Wahrheit erzählen. Sie wollen auf die vielen frauenpolitischen Errungenschaften hinweisen, die in der DDR durchgesetzt waren und die auch heute noch ein Vorbild für die gesamte Republik sein könnten — traute man sich, aus der Vergangenheit zu lernen, die Ostfrauen und ihre Erfahrungen ernstzunehmen und als Bereicherung zu begreifen.

Und wenn nicht jetzt, wann dann? Dreißig Jahre nach der Wende muss es endlich an der Zeit sein, Mythen in Ost und West abzubauen und Illusionen zu begraben. Dabei geht es nicht um Beschönigungen: Auch in Sachen Gleichberechtigung war nicht alles gut im Osten. Die Frauen, heute zwischen sechzig und achtzig Jahre, berichten über schwere Zeiten vor und nach der Wende. Einige Narben spüren sie noch heute, wenn sie an gescheiterte Beziehungen und Scheidungen denken, oder an das Gefühl, nicht immer genug Zeit für die Kinder gehabt zu haben. Auch Doppelbelastung oder mangelnde Mithilfe der Männer im Alltag und bei der Kindererziehung kommen zur Sprache — Themen, die noch heute aktuell sind und Familien belasten.

Den meisten unserer Ostfrauen geht es heute gut, ein Zurück zur DDR ist für sie keine Option. Ihre Sicht ist nicht rückwärtsgewandt, Ostalgie oder die Verherrlichung des ewig Gestrigen hat in ihrem Leben keinen Platz.

Dazu haben sie zu viel erlebt, berichten auch von den Zwängen und Beschränkungen des Alltags in der DDR — und einige von ihrer Entscheidung zur Flucht in den Westen.

Unser Buch erschien am 8. März 2019. Seitdem lesen wir landauf und -ab aus den Lebenserinnerungen. In Graal-Müritz und Rostock, in Berlin und Erfurt, in der Uckermark, in Frankfurt am Main, in Lüneburg und München, selbst in Österreich fesseln die so unterschiedlichen Schicksale und Lebenseinstellungen Zuhörerinnen und Zuhörer aller Altersgruppen.

Jede Veranstaltung endet in interessanten und streitbaren Diskussionen. Da meinen schon Männer, immer für die Gleichberechtigung eingetreten zu sein: Schließlich hätten sie immer brav den Mülleimer geleert, wenn die Ehefrau es gewünscht habe. Weitere Ostfrauen berichten, wie ihnen nach der Wende die Anerkennung ihrer Selbstbestimmung und ihre ökonomische Unabhängigkeit ebenso abhandenkam wie das Recht auf Abtreibung. Oft sind die heutigen Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau Thema — denn gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das war in der DDR eine Selbstverständlichkeit. Westfrauen teilen ihre Erfahrungen, etwa dass die Gesetze in der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre eine Berufstätigkeit der Frauen von der Zustimmung des Ehemannes abhängig machten oder dass fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten vieles erschwerte.

Aufgefallen ist uns in den vielen Gesprächen nach unseren Lesungen, dass Ostfrauen sich vor allem über ihren Beruf definieren, bei vielen Westfrauen dagegen der Stolz über das Werden und die Karrieren ihrer Kinder im Vordergrund stehen. Ihre eigene, persönliche Entwicklung tritt dabei in den Hintergrund. Und dann enden viele dieser Gespräche doch wieder in Vergleichen. Wie war es im Osten, wie im Westen? Aber dieser Dialog ist es doch, der wichtig ist, der uns auf unseren Reisen bereichert und begeistert. Er ist es auch, der uns Hoffnung auf die Zukunft macht, auf künftige Generationen, die aus unseren Erfahrungen lernen können. Schließlich erleben wir auch, dass viele jüngere Frauen unser Buch ihren Müttern und Großmüttern schenken, um endlich mit ihnen, den unerhörten Frauen aus Ost und West, über die „alten Zeiten“ ins Gespräch zu kommen.



Quellen und Anmerkungen

Kontakt unter: kontakt@unerhörte-ostfrauen.de


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