Tilo Gräser: Herr Professor van der Pijl, vor sechs Jahren, am 17. Juli 2014 stürzte die malaysische Passagiermaschine mit der Kennung MH17 über der Ostukraine ab. Sie wurde vermutlich abgeschossen. Sie haben ein Buch darüber geschrieben, das 2018 auch auf Deutsch erschienen ist. Was ist bis zum heutigen Zeitpunkt über das Ereignis bekannt, soweit sich das kurz zusammenfassen lässt?
Kees van der Pijl: Es gibt zwei Seiten der Sache: Das Eine ist, was die offiziellen Untersuchungen hervorgebracht haben. Das ist der holländische Sicherheitsrat und das JIT, das Joint Investigation Team. Beide sind sehr beschränkte Untersuchungen gewesen, die nicht wirklich zu Fakten geführt haben, die ausschlagend sind. Zum Beispiel die Geschichte, das von Russland aus ein Buk-Raketensystem in die Ostukraine gebracht wurde und von dort aus das Flugzeug abgeschossen hat. Das ist zweitens eigentlich eine unmögliche Sache, denn alle Experten haben das verneint, dass das möglich wäre.
Nun ist dieses Untersuchergebnis, das, was das JIT angeblich herausgefunden hat, die Grundlage für einen Prozess, der in Den Haag gegen vier Angeklagte geführt wird: drei Russen und einen Ukrainer. Der läuft seit 9. März dieses Jahres und wurde durch die Corona-Krise unterbrochen, aber wird inzwischen mit beschränkter Öffentlichkeit fortgesetzt. Was haben Sie selber als niederländischer Politikwissenschaftler von dem Prozess mitbekommen? Wie kann der in den Niederlanden selber verfolgt werden?
Er ist gut über den Livestream aus dem Gericht zu verfolgen. Er wird direkt übertragen. Aber wie gesagt, die Erkenntnisse des JIT, auf die sich die Anklage stützt, sind sehr beschränkt. Teilweise ist auch klar geworden, dass das unhaltbare Ideen sind. Der Prozess ist eine kleine Schlacht zwischen den offiziellen Instanzen, die die Anklage unterstützen, eine Anklage, die wesentlich unhaltbar ist, und der Verteidigung, die nur eine Person, Oleg Pulatow, vertritt. Das ist eine Verteidigung, die nicht aggressiv ist. Sie haben zum Beispiel nicht einmal gesagt, dass ihr Mandant unschuldig ist. Sie verfolgt aber dennoch eine etwas rätselhafte Strategie. Sie haben gefordert, russische Zeugen zu hören, um die andere Seite zu hören. Sie haben sogar vorgebracht, dass es möglich ist, dass ukrainische Kampfflugzeuge dabei im Spiel waren — was ich auch glaube. Das ist die Verteidigungsseite.
Und dann hat man auch noch die Richter. Die Richter haben eine eigene Strategie verfolgt. Wobei Strategie dabei nicht das richtige Wort ist. Die haben sehr verschiedene Manöver gemacht. Eines davon war eine wiederholte Frage an die US-Amerikaner, um an die Satellitenbilder zu kommen, von denen man vom ersten Tag an geredet hat. Wenn man auf den Prozess schaut, sieht man drei nicht immer miteinander verbundene Elemente: Die Anklage, die Richter und die Verteidigung reden nebeneinander her, aneinander vorbei.
Es gibt keinen wirklichen Dialog. Das hat damit zu tun, dass die juristische Basis der Anklage eigentlich unhaltbar ist und dass alle Leute, da die mit einbezogen sind, das eigentlich wissen müssen.
Sie haben sich schon vorher mit dem Prozess beschäftigt, nachdem er angekündigt wurde, und haben in einer Analyse befürchtet, dass es ein Schauprozess wird, und haben das mit ähnlichen Vorgängen verglichen. Warum haben Sie das so gesehen, und wie sehen Sie das heute?
Es ist kein Schauprozess geworden, wie ich es gedacht hatte und viele andere auch — wegen des Corona-Lockdowns. Die Familienangehörigen der MH17-Opfer, denen dort eine wichtige Rolle zugedacht war, sind nun nicht im Gerichtssaal wegen der Beschränkungen. In diesem Sinn ist es kein Schauprozess geworden. Man muss dabei bedenken, dass es hier eigentlich um eine völlig neue Form von Prozess geht. Es handelt sich um das Internationale Strafrecht, wie es sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 herausgebildet hat. Alles, was in dem Zusammenhang bekannt ist, kam danach: Jugoslawien, Ruanda, Lockerbie. Obwohl der Anschlag von Lockerbie selbst 1988 war, begann der Prozess später. Er ist auch in den Niederlanden geführt worden. Man hat 2002 auch noch den Internationalen Strafgerichtshof bekommen. Nun haben wir den MH17-Prozess.
In all diesen Fällen war es anders organisiert, waren die nationalen und internationalen Elemente von verschiedenem Gewicht. Man hat eigentlich noch keine Form gefunden, die etwas anderes produziert als eine Art Vorjustiz. Denken Sie nur an den Fakt, dass Slobodan Milosevic, der Hauptangeklagte im Jugoslawien-Prozess, in seiner Zelle gestorben. Im Ruanda-Prozess, der in Afrika abgehalten wurde, gab es auch Leute, die in der Zelle gestorben sind. Ein Verurteilter im Lockerbie-Prozess wäre auch in seiner Zelle gestorben, wäre er nicht aus gesundheitlichen Gründen nach Libyen zurückgeschickt worden. Alle diese Prozesse sind also sehr bunt — um es so zu sagen — und dramatisch gewesen, aber sind niemals in einer klaren Verurteilung geendet.
Das müssen wir beachten, wenn wir den MH17-Prozess ansehen. Auch hier ist es eine unmögliche Klage. Hier gibt es nicht einmal Leute, die verhaftet und angeklagt worden sind. Man kann sich hier auch nicht gut vorstellen, dass es zu einer Verurteilung kommt. Die wichtigsten Zeugen dafür sind unser Ministerpräsident und unser Außenminister. Sie haben vor einigen Tagen eine Klage gegen Russland beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eingereicht. Das heißt, dass unsere Regierung den Strafprozess gar nicht abwarten will. Man muss dabei auch noch bedenken, dass der Strafprozess gar nicht Russland als Staat anklagt. Das ist auch gar nicht möglich im Internationalen Strafrecht.
Wie geht das weiter? Was ist von dem Prozess noch zu erwarten? Wie lange wird der dauern und kommt da am Ende was raus?
Er wird noch Jahre dauern, denke ich. Nur wenn er zusammenbrechen würde, würde er früher enden.
Aber wenn es alles normal weitergeht, wird es noch Jahre dauern. Viele Leute, die darin einbezogen sind, werden große Einkünfte genießen.
Aber daneben ist nun eine zweite Stoßrichtung eröffnet worden und das ist diese holländische Klage gegen Russland. Ich kann nicht sehen, wie hier eine klare Verurteilung herauskommen kann, denn die Angeklagten sind nur sehr indirekt bei dem angeblichen Abschuss einbezogen gewesen. Man kann nicht einmal zeigen, dass es diesen Abschuss auch wirklich gegeben hat.
Wie kann es dann aber sein, dass der Staat Niederlande gegen den Staat Russland klagt, wenn es dafür keine Beweise gibt? Warum passiert das?
Ich denke, das hat mit den Wahlen zu tun. Wir haben im März 2021 Wahlen. Es kann sein, dass unser Premierminister schon über die Wahlen hinaus nach einem internationalen Job schaut, zum Beispiel als NATO-Generalsekretär. Aber das ist reine Spekulation von mir. Es ist nicht klar gemacht, warum diese Klage jetzt von Holland gegen Russland eingereicht worden ist. Man sagt nur, das sei geschehen, um den Opferangehörigen zur Seite zu stehen. Aber so wirkt es gar nicht, denn verschiedene Angehörige haben auch individuelle Klagen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eingereicht. Aber der Gerichtshof sagt: Nur, wenn alle nationalen Gerichtsprozesse und -ebenen ganz ausgeschöpft sind, dann kann es von dem Europäischen Gericht auch noch einmal behandelt werden. Doch das ist gar nicht geschehen. Und dieser Strafprozess, auch wenn er unabhängig davon ist, hat erst begonnen und wird noch Jahre dauern.
Kees van der Pijl, Jahrgang 1947, ist emeritierter Professor der University of Sussex/Großbritannien. Er hat umfassende Studien über transnationale Klassen und globale politische Ökonomie veröffentlicht. Er ist im niederländischen „Wachsamkeitskomitee gegen die Wiederkehr des Faschismus“ aktiv und Antikriegsaktivist. 2018 erschien sein Buch über MH17 auf Deutsch: „Der Abschuss — Flug MH17, die Ukraine und der neue Kalte Krieg“.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „MH17-Prozess: ‚Anklage ist unhaltbar‘ — Politikwissenschaftler van der Pijl“ auf Sputnik.
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