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Vernunft und Empörung

Vernunft und Empörung

Rainer Mausfeld möchte die aus Wutgefühlen geborenen Corona-Proteste mit rationaler Analyse versöhnen.

In seinem Rubikon-Interview beschreibt Rainer Mausfeld Mechanismen und Muster, die er in seinen Vorträgen und seinen zwei Büchern „Das Schweigen der Lämmer“ und „Angst und Macht“ entwickelt beziehungsweise auf kongeniale Art und Weise herausstellt. Dabei fokussiert er auf zentrale Mechanismen, mit welchen die herrschende globale Elite ihre Interessen durchsetzt und letzte demokratische Ansätze beseitigt. Corona erwähnt er dabei zunächst nur am Rande. Unter den als Ablenkpraktiken bereits in seinen früheren Arbeiten beschriebenen Aspekten Empörung und Personalisierung nimmt Mausfeld ein erstes Mal Bezug auf die sogenannte Pandemie. Etwas ausführlicher geht er darauf im letzten Fünftel des Interviews ein.

Im Folgenden werden Mausfelds Aussagen sowohl im Hinblick auf seine bisherige Theorie oder Analyse als auch auf Formen des Widerstands beleuchtet, wie sie in der Coronazeit sowohl manifest geworden als auch unterblieben sind. Ergänzend werden Passagen aus dem zweiten Interview, das Mausfeld DWN gegeben hat, mit einbezogen.

Gerechtfertigt, ja notwendig scheint mir die genaue Lektüre der beiden Interviews auch deshalb, weil es Mausfelds Analysen gelungen ist, die Machtmechanismen in ihrem totalitären Charakter nahezu vollkommen abzubilden und für das Bewusstsein freizulegen. Seine Arbeit — bezogen auf die letzten drei, vier Jahre — ist meines Erachtens einmalig (1).

Ablenkthemen

Die erste Stelle, die sich auf Corona bezieht, ist folgende:

„Ablenkthemen, die in der Coronakrise aus Sicht der Herrschenden gut geeignet sind, emanzipatorische Bewegungen zu spalten und Veränderungsenergien zu neutralisieren, sind beispielsweise technische virologische und statistische Probleme oder Fragen nach der Rolle von Bill Gates, so berechtigt diese Themen als solche in der Sache auch sein können. Auch hier sollten wir uns also wieder vor Blickverengungen durch Konkretismus und Personalisierung hüten und stattdessen strukturell denken, denn Manipulation gehört wesenhaft als Stabilisierungsinstrument zur Organisationsform von Macht.“

Der erste Bezug zum Corona-Komplex wird über Ablenkthemen geschaffen. Das mag zunächst die Frage aufwerfen: Warum nicht über Themen? Ist Corona selbst ein Ablenkthema? Wird hier eine Art Distanzierung zum Thema selbst vorgenommen? Wir stellen die Fragen vorerst zurück und lesen genauer: Aus dem Corona-Komplex werden beispielhaft für Ablenkung zwei Themen — virologische und statistische Fragen beziehungsweise die Rolle von Bill Gates — genannt, die geeignet seien „aus der Sicht der Herrschenden“ emanzipatorische Bewegungen zu spalten und zu neutralisieren. Dass diese Spaltungsthese nicht nur die Sicht der Herrschenden ist, sondern auch die der formulierten Analyse selbst, zeigt sich in der Forderung:

„Auch hier sollten wir uns also hüten und stattdessen strukturell denken.“

Das ist eine moralische Forderung: „Hütet euch!“ Diese schließt argumentationslogisch an die vorangegangene Feststellung an, dass diese Themen aus Sicht der Herrschenden für Spaltungszwecke geeignet seien. Das wiederum führt zur Aufforderung, diese Themen nicht auf diese Weise anzugehen oder in den Diskurs einzubringen, um — so die implizite Logik — den Herrschenden nicht zuzudienen.

Bemerkenswert dabei ist auch das Paradox, dass man die Sicht der Herrschenden (x und y = Ablenkungsthemen) übernehmen soll, um die Interessen der Herrschenden nicht zu bedienen.

Im Diskurs zu vermeiden sind also virologische und statistische Probleme einerseits sowie die Rolle von Bill Gates andererseits. Weshalb darum einen Bogen machen? Weil sie „stattdessen“ nicht strukturell, sondern eine Form von „Konkretismus und Personalisierung“ seien. Allerdings folgt die Aussage: „...so berechtigt diese Themen als solche in der Sache auch sein können“. Sie sind möglicherweise also sogar in der Sache berechtigt und gleichzeitig schädigen sie die emanzipatorische Bewegung.

Das ist schon verwirrend und wirft Fragen auf:

  • Was an virologischen Problemen, was an Statistiken genau hemmt die emanzipatorische Bewegung?
  • Ist es nicht eher so, dass eine emanzipatorische Bewegung einen kritischen Blick auf diese expertokratischen Instrumente richten müsste, um allfälligen Missbrauch und allfällige Manipulation, also Machtmechanismen aufzudecken?
  • Wenn aber virologische Sachverhalte und Statistiken Ablenkthemen wären, was wären dann die Nicht-Ablenkungsthemen, die jetzt und in diesen Monaten hätten gesetzt sein müssen, um die emanzipatorische Bewegung nicht zu neutralisieren und nicht zu spalten, sondern diese in Bewegung zu setzen oder zu halten? Ich selbst übrigens neige zur Ansicht, dass im Hinblick auf den totalitären Charakter, den (auch) die Corona-Maßnahmen offenbart haben, virologische Fragen und Statistiken nur von sekundärer Bedeutung sind. Eine solche Position bedingt allerdings, dass man sich auf virologische Fragen und Statistiken eingelassen hat.
  • Wären emanzipatorische Bewegungen per se anfällig für „Konkretismus und Personalisierung“, müsste es nicht eher das Ziel sein, diese Anfälligkeit abzubauen, statt konkrete Themen, die in der Sache berechtigt sein können, zu meiden? Was ist das für eine Emanzipation, die nur unter Ausblendung von Konkretion emanzipatorisch bleiben kann?
  • Ist die Formulierung, die „Rolle von Bill Gates“ sei eine Personalisierung, nicht ein Widerspruch in sich? Rolle bedeutet: Funktion im Rahmen eines Gefüges. Wer auf Rollen fokussiert, fokussiert systemisch. Und in vielen Beiträgen, beispielhaft sei an Arbeiten von Norbert Häring erinnert, ist von Gates auch in diesem Sinne die Rede. Weshalb also diese Unterstellung der Personalisierung?
  • Wenn — wie schon erwähnt — die in der Sache berechtigten Themen zu meiden sind, müsste sodann nach Themen Ausschau gehalten werden, die in der Sache nicht berechtigt sind? Wäre das der emanzipatorische Weg? Oder wir kommt man zu diesen berechtigten Themen?
  • Der Hinweis auf die Berechtigung von Themen schließt eine Instanz mit ein, welche die Berechtigung zu- oder eben abspricht. Wer soll diese Instanz sein? Die Herrschenden? Diese Theorie? Die Protestierenden?

Ich fasse die bisherige Lektüre in 4 Punkten zusammen:

  1. Der Text eröffnet die Thematik über Ablenkthemen. Weshalb virologische Fragen und Statistiken Ablenkthemen sind, bleibt offen. Die Tatsache, dass derzeit alles in Gang gesetzt, um Medizinerinnen und Mediziner, die nicht genehme virologische Thesen und nicht genehme statistische Aussagen formulieren, zu diskreditieren, stellvertretend sei Professor Sucharit Bhakdi genannt, stützt Mausfelds Postulat nicht. Abweichende Positionen in virologischer und statistischer Hinsicht eignen sich — offenbar auch aus Sicht der Herrschenden — gerade nicht für Ablenkung. Medien, Staat und Konzerne würden sonst nicht den Aufwand betreiben, ihre Äußerungen unsichtbar zu machen.
  2. Die zweite These von der Ablenkung referiert auf die angebliche Personalisierung von Bill Gates. Dass einige Aktivisten sich auf Gates im Sinne einer Soap-Figur bezogen haben, mag sein, und dass Personalisierungen Möglichkeiten bieten, Personen als Projektionsflächen zu benutzen und sie daraufhin zu opfern, auf dass die Machtverhältnisse stabil bleiben, ist ebenso bekannt. Der Widerstand der letzten Monate referierte aber ganz offensichtlich weitgehend nicht in diesem Sinne auf Gates, sondern auf das System. In welchem Interesse erfolgt diese Verzerrung? Wird etwa Widerstand dahin verschoben, wo ein Fernbleiben moralisch zu rechtfertigen ist?
  3. Ablenkthemen, wie Mausfeld sie einführt, be- oder verhindern emanzipatorische Bewegungen beziehungsweise deren Handeln. Wir fragen uns: Sind es tatsächlich die aktiven Lämmer, die spalten? Bringen die aktiven Lämmer und nicht etwa, wie wir vielleicht zumindest gefühlsmäßig vermuten, die große Mehrheit der schweigenden und Masken tragenden Lämmer die Emanzipation über falsche, weil personalisierte, aber in der Sache berechtigte Themen zu Fall? Im Umkehrschluss zumindest lassen sich die Aussagen Mausfelds so lesen, dass die Nicht-Thematisierung virologischer Fakten und Statistiken sowie die Nicht-Thematisierung der Rolle von Bill Gates der Emanzipation nicht oder weniger schadet. Wäre also Schweigen das angepeilte emanzipatorische Verhalten? Wird Schweigen systemimmanent gerechtfertigt? Ist Schweigen die letzte emanzipatorische Geste, die geblieben ist? Oder: Braucht die Theorie beziehungsweise die Analyse schweigende Lämmer, um zu funktionieren?
  4. Mit der Handlungsaufforderung, „man sollte sich hüten“, wird der Text moralisch. Das erstaunt zunächst einmal, weil Mausfeld damit die rein analytische Ebene verlässt. Dadurch aber, dass der, zu verhütenden Blickverengung durch Konkretismus und Personalisierung nichts Positives entgegengestellt wird, verharrt die angesprochene moralische Aufforderung in einer Art Schweigen. Dadurch wiederum rücken die Aussagen an dieser Stelle in eine gewisse Nähe zu Mechanismen, die Mausfeld in Vorträgen und Büchern messerscharf dekonstruiert. Konkret geht es um die Unsichtbarmachung von Macht. Zu postulieren, man sollte die Blickverengung der Konkretion und der Personalisierung vermeiden und insofern abstrakt bleiben — was immer das heißt —, kann nur allzu leicht die Macht selbst verschleiern, zumal eine Moral, die dergestalt an der Abstraktion festhält und vor Konkretion warnt, die Erkenntnischancen vieler Menschen schmälert, nämlich all jener, die nicht in universitären Systemen zu denken und formulieren gelernt haben, jener, die Wirklichkeit anschaulich und nicht unbedingt über Begriffe konstruieren.

Die Kernstelle zu Corona

Mausfeld lässt Corona dann erst einmal ruhen und kommt am Ende darauf zurück. Wir lesen:

„Hier stoßen wir — gegenwärtig noch mehr als sonst — auf ein sehr folgenschweres Problem, das sich aus der weit verbreiteten Vorstellung gleichsam absoluter individueller Freiheitsrechte ergibt. Schon dem klassischen Liberalismus lag ein hochgradig individualistischer und damit entpolitisierter Freiheitsbegriff zugrunde. Die neoliberale Ideologie hat diesen Freiheitsbegriff noch einmal ins Extrem gesteigert. Dem entpolitisierten Freiheitsbegriff des klassischen Liberalismus zufolge besteht Freiheit gerade in den staatlichen Rechtsgarantien, die eine — wie es bei einem der Begründer des Liberalismus hieß — „Sicherheit im privaten Genuss” gewährleisten. Dieser heute tief in den Köpfen verankerte Freiheitsbegriff könnte vielleicht zu einem Teil die Heftigkeit der öffentlichen Reaktion erklären, mit der in der Corona-Krise nun die eigene, individuelle Freiheit gegen Einschränkungen verteidigt wird. Im Netz brachte jemand seine Ablehnung der Maskenpflicht mit der erhellenden Bemerkung zum Ausdruck, dass er sich durch die Maskenpflicht in seiner Würde verletzt fühle und endlich wieder in Würde Shopping gehen möchte.

Dieser stillschweigend zugrunde gelegte tief neoliberal geprägte Freiheitsbegriff könnte auch erklären, dass die für die jeweils eigene Situation weniger konsum- und genussrelevanten massiven Einschränken von Freiheitsrechten, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten erfolgt sind, keine vergleichbare Empörungswelle auslösten — sei es gegen die exekutivischen Selbstermächtigungen durch Sicherheits- und Überwachungsgesetze, sei es bei der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, sei es im Fall von Hartz IV oder dem wachsenden Sektor prekärer Arbeitsverhältnisse, alles übrigens mit massiven und klar erkennbaren körperlichen wie psychischen Kollateralschäden. Durch den mittlerweile tief in den Köpfen — auch im sich kritisch fühlenden Milieu — verankerten extrem individualistischen Freiheitsbegriff wird also das Problem einer „Synthese zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung“ noch schwerer zu bewältigen sein, als es ohnehin immer schon war — keine besonders optimistisch stimmende Ausgangslage für eine Entstehung stabiler und politisch kraftvoller emanzipatorischer Bewegungen.“

Freiheit als Konsum

Der Freiheitsbegriff dieser Argumentation entstammt explizit aus einem engen Spektrum liberaler Freiheitskonzeptionen. Weshalb diese Verengung? In seinen Vorträgen und Büchern zeigt Mausfeld, dass ein solcher Freiheitsbegriff wirkmächtig ist, keine Frage, vor allem in Bezug auf die Freiheit des Kapitals. An dieser Stelle des Interviews geht es aber um den Freiheitsbegriff, der dem Widerstand gegen Corona zugrunde gelegt wird. Dieser wird „neoliberal“ ins Extrem gesteigert und über die Satzeinleitung „Schon dem...“ beziehungsweise die Gleichsetzung „individualistisch = entpolitisiert“ ins Apolitische gesetzt.

Wir fragen uns: Weshalb den Widerstand quasi a priori entpolitisieren und ihn auf einem „ins Extrem gesteigerten Freiheitsbegriff“ gründen lassen? Werden hier Voraussetzungen geschaffen, um (das eigene) Verhalten während der Coronazeit zu legitimieren?

Eine Geschichte verkürzt erzählen?

Wo hat der Text die entpolitisierte Wirklichkeit her? Er gibt Auskunft darüber:

„Im Netz brachte jemand seine Ablehnung der Maskenpflicht mit der erhellenden Bemerkung zum Ausdruck, dass er sich durch die Maskenpflicht in seiner Würde verletzt fühle und endlich wieder in Würde Shopping gehen möchte.“

Eine beispielhafte Referenz anzuführen, ist legitim. Erschöpfend ist eine solche oft und ganz bestimmt auch hier nicht, und so wird die Leserin, wird der Leser wie von selbst ausgeschickt, eigenständig nach weiteren Anhaltspunkten für die entpolitisierte Wirklichkeit des Corona-Widerstands zu suchen. Und er oder sie wird vielleicht selbst auf dem Rosa-Luxemburg-Platz gewesen sein, wird ebenso im Netz zig Statements von Menschen gesehen und gelesen haben, die da vor Ort gewesen sind, sie oder er wird Texte gelesen haben von Anselm Lenz und Uli Gellermann, beispielsweise, wird sich an Aussagen von Frauen und Männern erinnern, die an Protesten dabei waren, wird sich erinnern, dass einige ihren Protest mit dem Zusammenbruch ihrer wirtschaftlichen Existenz, mit nicht mehr bezahlbaren Mieten, mit dem Ende des Daseins als freischaffender Künstlerin, mit einer immensen Kinderfeindlichkeit und bestimmt immer wieder mit dem Entzug der Grundrechte, der Demonstrationsfreiheit, mit dem Gefühl, von staatlichen und/oder globalen Stellen fremdgesteuert und überwacht zu sein, und überhaupt mit Freiheitsdrang und Würde in Zusammenhang gebracht haben, und er oder sie wird sich an etwas kaum erinnern, weil es kaum genannt wurde: Konsum.

Damit stelle ich — zurück zum Text — nicht in Abrede, dass es diese Aussage gegeben hat. Ich frage mich aber: Wie kommt der Text dazu, bei der Referenz auf Beweggründe für die Teilnahme an Corona-Protesten sich dermaßen selektiv auf eine ganz bestimmt nicht paradigmatisch für den Widerstand stehende Aussage zu beschränken? Weshalb diese Verengung des öffentlichen Diskurses, um es mit Noam Chomsky zu sagen? Und diese Frage aufwerfend, sehe ich mich unversehens in Albrecht Müllers sehr anschauliches Werk über Manipulationstechniken (Glaube wenig, Hinterfrage alles, Denke selbst) versetzt: Eine Geschichte verkürzt erzählen. Gleichzeitig weiß ich, dass es das nicht sein kann. Es muss mehr noch folgen.

Wir lesen genau: „Dieser stillschweigend zugrunde gelegte tief neoliberal geprägte Freiheitsbegriff...“ und stoppen und legen das kurz aus:

Wer schweigt da? Wer legt wem was zugrunde? In einem stillen, schweigsamen Vorgang? Was oder wer genau generiert dieses Schweigen? Wie setzt sich dieses Schweigen zusammen? Und wer etikettiert — in diesem Schweigen — wen mit „neoliberal“?

So viele offene Fragen evozieren Lesarten. Eine davon: Ist die Vokabel „stillschweigend“ nicht selbstreferentiell, indem der Text kommentierte, was er soeben „täte“? Die Zuordnung des Begriffs „neoliberal“ zum Freiheitsbegriff, den wir auf dem Rosa-Luxemburg-Platz angetroffen haben sollen („Dieser heute tief in den Köpfen verankerte Freiheitsbegriff...“), wird jedenfalls ganz bestimmt nicht demokratisch und transparent vollzogen, vielmehr scheint eine bestimmte Freiheitskonzeption neoliberaler Prägung dem Corona-Widerstand kurzerhand überstülpt zu werden.

Heftig und extrem

Wir lesen weiter:

„Dieser heute tief in den Köpfen verankerte Freiheitsbegriff könnte vielleicht zu einem Teil die Heftigkeit der öffentlichen Reaktion erklären, mit der in der Corona-Krise nun die eigene, individuelle Freiheit gegen Einschränkungen verteidigt wird.“

Nachdem dem Widerstand ein neoliberal geprägter Freiheitsbegriff eingeschrieben worden ist, kann diese Aussage im Grunde nicht überraschen. Und steht da der Konjunktiv, so ist das rhetorische Höflichkeit, mehr nicht.

Denn außerhalb dieses vorgefertigten Freiheitsbegriffs sucht die Analyse nicht nach irgendwelchen weiteren Erklärungen beziehungsweise nach anderen Freiheitsbegriffen, die den Protest ausgelöst haben könnten.

Die Reaktion gegen die Grundrechtseinschränkungen als „heftig“ zu bezeichnen, ist gleichwohl bemerkenswert. Aus meiner Sicht war sie weder zahlenmäßig noch von den Mitteln her heftig. Und zieht man die Maßnahmen in Betracht, gegen die sie sich wendete, so spitzt sich die Asymmetrie weiter noch zu. Und so fragen wir uns: Welche Heftigkeit wird hier bemüht? Vielleicht weniger eine wirkliche, denn eine notwendige? „Heftig“, weil es sich von dem, was „heftig“ ist, leichter distanzieren lässt? Zumal die heftige Reaktion noch zusätzlich auf einem „ins Extrem gesteigerten neoliberalen Freiheitsbegriff“ basiert?

Wir vergewissern uns in einem historischen Kontext: Heftig und extrem waren und sind die Grundrechtseinschränkungen, das Durchregieren per Dekret, das selbstverständlichste Aushebeln der Legislative — dass die zuvor schon weitgehend bloße Kulisse gewesen ist, ändert daran auch dann nichts, wenn ein Teil der Protestierenden das nicht erkannt hat —, heftig und extrem waren und sind die Schulschließungen und was man damit den Kindern angetan hat, heftig und extrem war das Absondern von alten Menschen, heftig und extrem sind die sozialen Auswirkungen et cetera. Und nicht zuletzt: heftig und extrem war, zigfach dokumentiert, das Vorgehen der Polizei. Damit ist nichts über die Angemessenheit der Maßnahmen gesagt, aber historisch besehen — nicht emotional, nicht auf der Empörungsebene — waren die Maßnahmen heftig und extrem. Die Heftigkeit stattdessen in die vergleichsweise zurückhaltende Reaktion zu verlegen und gleichzeitig all diese Maßnahmen mit dem Begriff „Einschränkungen“ zu fassen: Ist das nicht manipulativ?

Im weiteren Verlauf spaltet Mausfeld das Verhalten des Widerstands sozusagen in ein Vorher und ein Nachher:

„Dieser stillschweigend zugrunde gelegte tief neoliberal geprägte Freiheitsbegriff könnte auch erklären, dass die für die jeweils eigene Situation weniger konsum- und genussrelevanten massiven Einschränken von Freiheitsrechten, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten erfolgt sind, keine vergleichbare Empörungswelle auslösten — sei es gegen die exekutivischen Selbstermächtigungen durch Sicherheits- und Überwachungsgesetze, sei es bei der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, sei es im Fall von Hartz IV oder dem wachsenden Sektor prekärer Arbeitsverhältnisse, alles übrigens mit massiven und klar erkennbaren körperlichen wie psychischen Kollateralschäden.“

Dass (auch) vor Corona eine große Ignoranz in Bezug auf den neoliberalen Totaldurchgriff zu beobachten war, steht außer Zweifel. Und der Text, wie wir ihn lesen, gibt zu verstehen, dass diese Nicht-Reaktion vor Corona und die Wertung des Corona-Widerstands, die hier vorgenommen wird, aneinander gekoppelt sind. Mehr noch: Die kritisch hinterfragte Nicht-Reaktion damals widerspiegelt sich offenbar in einer Nicht-Reaktion zu den Corona-Maßnahmen jetzt, eine Nicht-Reaktion, die man in den gelesenen Interviewpassagen implizit begründet sehen kann.

Das Schweigen der Lämmer eine Bestrafung dafür, dass früher schon zu Unrecht geschwiegen worden ist?

Und also weniger den Mechanismen der Herrschenden geschuldet, als eine sich aufkumulierende Nicht-Reaktion der Opfer, weil die emanzipatorische Bewegung schon früher ausgeblieben ist? Bestrafen sich die Lämmer also gegenseitig mit ihrem fortgesetzten Schweigen? Als wäre die ausgebliebene Bewegung gegen Polizeigewalt, gegen Repression, gegen Hartz-IV-Unmenschlichkeit, gegen die totale Überwachung und Digitalisierung und gegen die NATO und ihre Militarisierung die Schuld derjenigen, die nun gegen die Corona-Maßnahmen aufstünden...

Das Apolitische als Problem der Empörung

Wir kommen zur letzten Passage des Rubikon-Interviews, die wir hier diskutieren:

„Auch sind breite emanzipatorische Bewegungen, die einen wirksamen politischen Impetus entfalten könnten, gegenwärtig nicht in Sicht. Und bloße Protestbewegungen sind, wie die Geschichte lehrt, häufig weitgehend apolitisch. Sie bleiben in ihrer begriffslosen Empörung flüchtig und zerfallen rasch, wenn individualistische Bedürfnisse nach einer Rückkehr zur ‚Normalität‘ erfüllt sind. Sie haben also große Schwierigkeiten zu erkennen, dass die gegenwärtige Form eines Ausnahmezustandes schon seit Langem — wenn auch oftmals in einer weniger sinnlich-konkret erfassbaren Weise — Teil des Normalzustandes ist und dass die eigentlichen Probleme gerade in diesem Normalzustand einer Lebensform liegen, die sich längst mit massiven Freiheitseinschränkungen, mit kapitalistischer Ausbeutung oder mit der Zerstörung gesellschaftlicher und ökologischer Substanz konsumistisch versöhnt hat. Gerade diese Normalität unserer Lebensweise ist also das eigentliche Problem. Der aus individualistischen Freiheitsbedürfnissen gespeiste Wunsch, in einer ‚Nach-Corona-Zeit‘ endlich wieder zu dieser Normalität zurückkehren zu können, mag psychologisch verstehbar sein — er ist jedoch ein zutiefst anti-emanzipatorischer Wunsch.“

Das ist der Mausfeld — ich rede nie von einer Person, stets von einem Text, auch wenn ich auf „Mausfeld“ referiere —, den wir aus den Vorträgen und Büchern kennen und der Einzelerscheinungen schlagend in ihrem Zusammenspiel auf den Punkt bringt. Auch fallen uns nur allzu leicht Beispiele von Bewegungen ein, die, getragen von Empörung, im Affekt versanden oder gar Teil der Empörungsbewirtschaftung werden. Zu erkennen, dass Muster und Mechanismen, die in den drastischen Corona-Maßnahmen manifest werden, zuvor schon vorhanden gewesen sind, läge gerade deshalb im Interesse eines Corona-Widerstands. So gesehen böte die Drastik — aufgrund ihrer Eigenschaft als Drastik auch bislang Schlafende zu wecken — die Möglichkeit, ein System in seinen Grundzügen zu durchschauen. Und daher würde die Drastik viel drastischer noch, weil die totalitären und/oder faschistoid-neoliberalen Züge eben nicht mehr als der Drastik, sondern als dem System geschuldet erkannt würden.

Hierbei wäre der Begriff des „begriffslosen Bewusstseins“ allerdings zu überdenken, damit kein elitäres Ausschlusselement die Emanzipation hintertriebe. Vielmehr wäre nach den Begriffen zu fragen, die beispielsweise auf dem Rosa-Luxemburg-Platz — vielleicht auch nur im Ansatz oder in einem „Vorstadium“ — anzutreffen gewesen sind, und danach, wie diese Begriffe für ein emanzipatives Bewusstsein sich entwickeln ließen. Gerade dem Corona-Widerstand Begriffslosigkeit vorneweg zu unterstellen, scheint mir dagegen kein geeigneter Weg, eine emanzipatorische Bewegung zu generieren oder aufrechtzuerhalten, zumal aus dem schweigsamen Schlucken der Corona-Pillen ganz bestimmt kein schärferes begriffliches Bewusstsein hervorgeht.

Ich fasse zusammen:

  1. Als heftig werden die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen bezeichnet. Weitgehendes Demonstrationsverbot — mit der Auflösung etwelcher Protestbewegungen weltweit wie etwa der Gelbwesten in Frankreich als Folge —, die Ausgangssperren oder -einschränkungen, das Aussetzen der Kinderrechte mit der Sperrung von Spielplätzen und der Verunmöglichung von altersgerechten Kontakten, mehr noch als in Kriegen: Das alles wird als „Einschränkung“ gefasst.
  2. Die Steigerung ins Extreme durch den Neoliberalismus wird dem individualistischen Freiheitsbegriff zugeschrieben, welchen die Analyse auch in den Köpfen des Widerstands gegen die Corona-Maßnahmen verankert sieht. Über diese Verschränkung rückt der Widerstand ins Extremistische. Die Maßnahmen selbst dagegen bleiben ohne Wertung, das Wort „extrem“ taucht kein weiteres Mal auf. Die Muster, wie aus der Mitte heraus alles Störende als extrem eingestuft, wie weiter über diesen Mechanismus die Verengung des öffentlich Sagbaren herbeigeführt und wie schließlich der Extremismus der Mitte gerade auf diese Weise unsichtbar gemacht wird, zeigt Mausfeld in seinen Vorträgen mit höchster Präzision auf. In Bezug auf Corona setzt sich der Text aber der Gefahr aus, selber als Anwendung dieses Musters — im Sinne einer „Mitte“, die sich gegen das Extreme wendet — gelesen zu werden.
  3. Auf der Basis eines „ins Extrem gesteigerten Freiheitsbegriff“ wird der Widerstand gegen die Macht entpolitisiert, das Schweigen der Lämmer auf den Balkonen dagegen bleibt eigenartig unbeleuchtet. Weltweit ist die Macht der Machthabenden und ihrer Hirten gestärkt worden — nicht zuletzt durch die weiterhin schweigenden Lämmer — und im Fokus der Kritik steht ein ins Extrem gesteigerter Freiheitsbegriff auf Seiten des Protests gegen die Macht. Das irritiert. Wenn dem Individuum der Raum geschnitten wird, sich Gehör gegen die Mächtigen zu verschaffen, wenn es polizeistaatlich verräumt wird, dann sitzt die Macht im Sattel. Dieser Aspekt bleibt in den Ausführungen, wie wir sie lesen, zu sehr außen vor.
  4. Dass gravierender Freiheits- und Demokratieabbau, dass gravierende soziale Maßnahmen vor Corona geduldet worden sind, ist evident. Dass die Nicht-Reaktion dagegen und die Reaktion auf die Corona-Maßnahmen gegeneinander ausgespielt werden, ist es weniger. Findet man unter Protestierenden auf dem Rosa-Luxemburg-Platz oder in Stuttgart prozentual nicht eher mehr Menschen, die schon zuvor „kritisch“ eingestellt waren, als unter denjenigen, die das Corona-Regime — das personell und strukturell in der Tat weitgehend das gleiche ist wie zuvor — von den Balkonen aus erdulden? Dass es Menschen gibt, die erst jetzt bemerkt haben, in welchem System sie leben und gelebt haben, ist allein aufgrund der Drastik der Corona-Maßnahmen nicht überraschend. Besser jetzt als nie.
  5. Dass Menschen reagieren, die früher nicht reagiert haben, und solche, die auch auf das Recht referieren, sich in einer Kneipe treffen zu dürfen — Beate Bahner beispielsweise hat sowohl vom Cafébesuch wie vom Recht auf Meinungsfreiheit und vom Demonstrationsrecht gesprochen und sich dafür in die Psychiatrie sperren lassen —, das könnte gerade die Chance sein für eine emanzipatorische Bewegung, allerdings eine, die nicht erst prüft, ob die Teilnehmenden die richtige Ideologie mitbringen. Vieles deutet jedenfalls daraufhin, dass die, die nun ein erstes Mal widerständig geworden sind aufgrund dessen, dass sie die Corona-Maßnahmen als Einbruch in eine mehr oder weniger heile Welt wahrgenommen und darob ein erstes Mal auch ein Bewusstsein für Grundrechte — die immer auch für die anderen gelten, also zum Beispiel für Hartz-IV-EmpfängerInnen! — entwickelt haben, einer emanzipatorischen Bewegung näher stehen als solche, die sich aufgrund einer von Experten medial vermittelten Gefahr kommentarlos einsperren lassen. Und das gilt selbst dann, wenn Wahrnehmung und Verarbeitungsprozesse bei diesen erstmalig hellsichtig Gewordenen durchaus noch in der Konkretion verbleiben. Nicht nur diese übrigens, auch die Abstraktion birgt Gefahren. Daran erinnert Chomsky, wenn er auf die Systemkonformwerdung durch universitäre Bildung und Begriffe verweist.

Deutliche Verschiebung

Im Interview mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten DWN differenziert Mausfeld in einigen Hinsichten recht deutlich. So findet er viel prägnantere Wort zu den Maßnahmen der Regierung, wenn er festhält:

„Wenig Spielraum gibt es bei der Beurteilung der chaotischen, höchst intransparenten und autoritären Weise, in der unter Umgehung einer wirklichen Gewaltenteilung und unter Ausschaltung jeder demokratischen Öffentlichkeit und damit jeder demokratischen Kontrolle und demokratischen Rechenschaftspflicht diese Maßnahmen verordnet wurden.“

Weiter stellt er die Berechtigung für die autoritären Maßnahmen insofern in Frage, als er die Begründung dafür als Vorwand entlarvt:

„Ginge es also wirklich vorrangig um Gesundheit, würden wir schon lange über die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, über die gesundheitlichen Folgen von Hartz IV oder die Einführung prekärer Arbeitsverhältnisse diskutieren. Oder über Krankenhauskeime, über Glyphosat in der Landwirtschaft, über die Verwendung von Antibiotika in der Massentierhaltung oder über die Tausenden von Toten, die jedes Jahr an multiresistenten Keimen sterben. Oder über die Umweltbelastungen durch Militärmanöver. Vor allem aber über die Entschlossenheit der Bundesregierung, nicht nur die Lagerung, sondern auch die einsatzbereite Aufstellung von Atomwaffen in Deutschland zu gewährleisten, wohlwissend, dass bei einem Angriff der USA auf Russland die deutsche Bevölkerung das atomare Schlachtopfer wäre.

Es gibt also wenig Grund für die Annahme, dass es dem Staat bei den Corona-Maßnahmen vorrangig um einen Gesundheitsschutz für die Bevölkerung geht. Letztlich geht es, wie stets, um die Sicherung der Stabilität von Machtverhältnissen. Dabei kann eine systematische Angsterzeugung durch eine massenmediale Propagierung tatsächlicher oder vermeintlicher Gefahren sehr nützlich sein, um die eigentlichen Probleme und Ziele zu verdecken.“

Über das Anzweifeln des vorgegebenen Grundes für die autoritären Maßnahmen hinaus greift Mausfeld in dieser sehr konkret argumentierenden Passage auch die Art und Weise der Vermittlung der Krise auf und kennzeichnet diese als massenmediale Propaganda mit explizitem Verweis auf deren Funktion, die er in seinen Schriften und Vorträgen exemplarisch herausgestellt hat. Nämlich eben jene, tatsächliche Ziele und Interessen unsichtbar zu machen. Diesbezüglich deckt sich Mausfelds Analyse nun — ich lese das mit Bezug auf das Rubikon-Interview als deutliche Verschiebung — weitgehend mit Erkenntnissen, die etwa auch im Umfeld des Widerstands gegen die Corona-Maßnahmen formuliert worden sind. Noch weitreichender werden Positionen übereinander geschoben, wenn Mausfeld festhält:

„Machen wir uns zunächst klar, dass die Corona-Krise eine Multi-Krise ist, in der sich sehr unterschiedliche Krisen kreuzen und miteinander verbinden. Sie alle wurden bereits länger erwartet: Zunächst ein Naturereignis in Form einer Pandemie. Zweitens eine Systemkrise des Finanzkapitalismus, der ohnehin erneut kurz vor einer schweren Krise stand und der nun die Corona-Krise nutzt, um seine eigenen Krisenkosten wieder einmal der Gemeinschaft aufzubürden. Und drittens eine schon sehr lange schwelende Krise der kapitalistischen Demokratie — übrigens schon konzeptuell ein Widerspruch in sich —, die nun durch eine seit Jahrzehnten betriebene Transformation zu einem autoritären Überwachungs- und Sicherheitsstaat deutlicher hervortritt. Das Corona-Virus bringt lediglich wie ein Katalysator sehr grundlegende Probleme der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zum Vorschein.“

Begriff versus Empörung

Der Verweis darauf, dass sich das Corona-Ereignis aus der Verschränkung von verschiedenen, je in sich schon kapitalen Themenfeldern speist, ist mehrfach und von mehreren Personen aus dem Umkreis des Widerstands ebenso erfolgt. Der Unterschied, der bestehen bleibt, bezieht sich nicht auf die Wertung beziehungsweise die Kennzeichnung des Handelns der Herrschenden und ihrer Hirten (Kapital, Konzerne, Staat), sondern darauf, wie diesen Mechanismen, die einerseits schon vor Corona gegeben waren, andererseits sich aber auch anlässlich von Corona gezeigt haben, emanzipativ zu begegnen sei. Mausfeld formuliert im DWN-Interview:

„Umso wichtiger ist es, sich davor zu hüten (Hervorhebung durch den Autor), durch einen konkretistischen Fokus auf Nebenaspekte ein tiefer gehendes Verständnis zu blockieren, wie beispielsweise durch eine in der Sache unsinnige Fixierung auf Indikatoren, Tabellen und Graphiken zur epidemiologischen Gefährlichkeit des Virus. Oder durch eine personalisierende Fixierung auf einzelne Akteure, die an einem Verständnis der tatsächlichen Machtstrukturen völlig vorbei geht. Oder durch Fixierung auf die im Moment für den Einzelnen sehr konkret erlebbaren Einschränkungen elementarer Freiheitsrechte, sei es Maskenpflicht oder Versammlungsfreiheit. Denn dies birgt die große Gefahr, an den sehr viel schwerwiegenderen grundsätzlichen politischen Problemen vorbeizugehen und sich in Ablenkthemen zu erschöpfen.“

Bekräftigt wird die Gefahr, die mit einem konkretivistischen und personalisierten Zugriff einhergeht. Dabei bleibt vorerst offen, wie ein Widerstand agieren müsste, um nicht an den Problemen vorbeizugehen und die grundlegenderen und schwerwiegenderen Probleme eben zu erkennen. Die Forderung, sich von begriffloser Empörung abzusetzen, ist ja bestenfalls eine ungefähre Richtungsangabe, wobei paradoxerweise die Formulierung „sich hüten vor“ darauf hindeutet, dass gerade dieser Absetzungsbewegung auch eine moralische und damit letzten Endes affektive Komponente eingeschrieben ist, denn „sich hüten vor“ ist keine rein intellektuelle, keine abstrakte Angelegenheit.

Zu bedenken ist weiter auch, dass sich ein Widerstand gerade auch als Kollektiv naturgemäß nicht artikulieren kann wie ein einzelnes Individuum mit einer langen, vielleicht universitären Bildungsbiografie.

In diesem Sinne wäre auch kritisch zu prüfen, inwieweit begrifflichem Denken und also begrifflichem Widerstand am Ende nicht per se Komponenten eines individualistischen Privilegs mit eingeschrieben wären.

Mit dem Verweis auf die grundlegenderen und schwerwiegenderen Probleme, die nicht erkannt würden, greift Mausfeld im DWN-Interview auch das Muster vorher / danach wieder auf, um das Vorher als drastischer herauszustellen. Wenn indes — nach Mausfeld selbst — die Lage sowohl vor als auch mit Corona den gleichen Mechanismen beziehungsweise den gleichen Herrschaftsstrukturen geschuldet ist, so erscheint dieses Gegeneinander-Ausspielen weitgehend obsolet.

Wesentlicher — damit wird ein zentraler Punkt politischen Widerstands aufgegriffen und die weitgehend noch unfassbare Überführung der Empörung in die Begrifflichkeit zumindest etwas konkretisiert — ist die Aufgabe, „...die begriffslose Empörung in den begrifflichen Rahmen zu integrieren, der in der langen Tradition emanzipatorischer Bemühungen gewonnen wurde, und ihr so eine Stabilität und politische Wirksamkeit zu verleihen. Nur auf diese Weise lassen sich die tieferen Ursachen gesellschaftlicher Missstände verstehen. Ein solches Verständnis wird heute leider besonders erschwert durch die Art und Weise, wie im globalisierten Kapitalismus Macht organisiert ist — nämlich extrem abstrakt und jeder demokratischen Kontrolle und Verantwortlichkeit entzogen.“

Reichen Begriffe aus?

Zunächst ergeben sich eine ganze Reihe von Fragen in Bezug auf den Vorgang selbst:

Wie integriert man begriffslose Empörung in einen begrifflichen Rahmen? Welcher begriffliche Rahmen soll gelten? Welcher wird dieser Integration zugrunde gelegt? Und wie vermeidet man dabei ein Diktat? Auch ein Diktat der Begrifflichkeit selbst? Und ihrer Beherrscher? Wie kann sich eine „in der Sache berechtigte“ Empörung nach der Integration in den Begriffen wiedererkennen? Und also sich selbst darin erkennen? Ist eine Selbstentfremdung dadurch nicht in der Sache angelegt?

Muss grundsätzlich eine Instanz vorausgehen, um eine Bewegung beziehungsweise deren Empörung zu integrieren? Oder könnte die Empörung die Begriffe nicht auch selbst schaffen beziehungsweise mitbringen und wäre dann die Gefahr nicht kleiner, dass sie universitär und also systemkonform würde? Und wie ist das, wo hinein der Protest zu integrieren wäre, eigentlich beschaffen und entstanden? Woraus? Sind hier nicht Muster der Vereinnahmung am Werk, der Sicherstellung, dass „keine neue Sprache, keine neuen Begriffe“ entstehen? Also Machtinstrumente? Reicht, um das zu beantworten, der Verweis auf die Tradition emanzipativer Bewegungen aus? Werden dadurch nicht auch potentielle, vielleicht augenblicklich durch die Begrifflichkeit nicht erkennbare, weil neue Wege des Widerstands vorzeitig ausgeschlossen? Und zuletzt: Was hat die bestehende Begrifflichkeit an sich, das sie — im Gegensatz zur Empörung — vor der Ent-Politisierung bewahrt? Ist es einfach die Abstraktion?

Diese letzte Frage bejaht der Text, indem er auf die im globalen Kapitalismus organisierte Macht verweist, die „extrem abstrakt“ ist. Sollen diese sich der Anschaulichkeit entziehenden Strukturen durchschaut werden, braucht es die Fähigkeit zur Abstraktion. Und das bedingt eine Begrifflichkeit als Werkzeug. Das leuchtet ein. Allerdings bleibt die Frage, ob beim Bestreben, die abstrakte Macht des globalen Kapitals der Sichtbarkeit zugänglich zu machen, Wahrnehmungen, Eindrücke, Anschauungen, die der Konkretion oder gar der Empörung entstammen, initial ausgelöst durch Affekte, nicht eine wichtige Funktion übernehmen können und gar müssen? Und weiter: Ob der ganze Aufdeckungsprozess ausschließlich auf einer abstrakten Ebene verbleiben muss? Ob nicht konkrete Elemente eine zusätzliche Schärfe einbrächten? Kurz: Ob Abstraktion wirklich ausreicht?

Ohne auf solche Fragen einzutreten — es wäre aber unfair und naiv, an dieser Stelle all diese Antworten zu erwarten — verweist Mausfeld neben der abstrakten „Organisiertheit“ von Macht auf ein weiteres, ein besonderes Instrument, das die Sichtbarmachung von realen Verhältnissen erschwert: die „Diskursverluderung“. Sie betreibt die „Vernebelung“ des ganzen gesellschaftlichen Umfelds, auf dass Verhältnisse sich dem rationalen Diskurs entziehen. Er führt aus:

„Das war schon in der Aufklärung ein wichtiges Thema, denn man war sich sehr bewusst, dass durch eine Diskursverluderung Machtverhältnisse einer rationalen Verstehbarkeit entzogen werden und sie somit kognitiv unsichtbar werden. In den vergangenen Jahren haben Techniken zur Erzeugung eines ‚Nebels der Verwirrung‘ noch einmal eine besondere Bedeutung gewonnen, weil man erkannt hat, dass sie gegenüber traditionellen Techniken der Indoktrination und Propaganda sehr viel wirksamer und kostengünstiger sind.

Eine Diskursverluderung ergibt sich auch aus einem konsequenten Rückwärtsargumentieren: Dabei wird sichergestellt, dass sich unterm Strich stets die gewünschte Schlussfolgerung, also die eigene Meinung, ergibt; dazu sucht man sich hochgradig selektiert alles an Informationsbruchstücken so zusammen, dass die eigene Meinung dann als rationale Schlussfolgerung erscheint. Argumentative Bemühungen sind dabei völlig irrelevant. Was alleine zählt, ist, in möglichst reflexionsentlastender Weise einen raschen Zustimmungseffekt bei den Adressaten zu erzielen. Damit ist jedem rationalen Diskurs der Boden entzogen. Zum Rückwärtsargumentieren gehört auch, wenn ein ernsthaftes Argumentieren ersetzt wird durch ein flächendeckendes Ergoogeln von allem, was irgendwie die eigene Position zu bestätigen scheint. Auch dies entzieht jedem rationalen Diskurs den Boden, denn eine noch so große Quantität von Informationen, die hochgradig danach herausgefiltert wird, wie gut sie mit der eigenen Position verträglich sind, kann sich niemals durch eine wundersame Wandlung in die Qualität eines Argumentes verwandeln.“

Empörung als Verhinderung der Entfremdung?

Die Stelle führt exemplarisch vor, worauf unsere Lektüre zielt. Einerseits wird hier etwas zur Kenntnis gebracht, sichtbar gemacht, auch beispielhaft belegt (Ergooglen als Glättung von Erkenntnis). Messerscharf in meinem Urteil. Andererseits baut die Stelle auf einen Begriff, der erstens konzeptuell nicht ganz klar ist — geht es um „Verluderungstechniken“ auf Seiten der Macht oder liegt der Fokus bei den Auswirkungen, also den Lämmern, die sich „verludern“ lassen? — und zweitens affektive Anteile hat.

Dass Empörung allein die gewollte, systematisch vorangetriebene, marketingmäßig erzeugte Diskursunschärfe nicht aufdecken kann, ist nachvollziehbar. Gleichwohl sind den Ausführungen Mausfelds aber doch Elemente der Empörung eingeschrieben. Und achtet man auf die Metaphorik des Begriffs der „Verluderung“, sexistisch ohne Zweifel, so ist auch die Problematik der Empörung, die Mausfeld mehrfach herausstreicht und mindestens indirekt auch für den Widerstand ausmacht, hier im Zusammenspiel mit Erkenntnis als Problem des Textes und also der Begrifflichkeit selbst mit gegeben.

Und doch hat die Schärfe der Erkenntnis an dieser Stelle auch mit dem Affekt zu tun. Es liegt also eine Art Verschränkung von Abstraktion und Konkretion, das heißt: beispielhaftem Argumentieren, mehr noch aber auch von Abstraktion und Affekt vor. Spürt man das nicht auch: eine Empörung über das Ausmaß der Nivellierung des Diskurses, wenn von „Verluderung“ die Rede ist? Und ist es nicht gar diese Empörung, welche die Erkenntnis auslöst? Und der Text, obgleich begrifflich geworden, löscht sie nicht aus?

Das, was mit „Verluderung“ nicht nur als Begriff, sondern ebenso als Bild evoziert wird, lässt das Recht einer der Erkenntnis allenfalls zugrunde liegenden Empörung jedenfalls bestehen und verhindert so eine Selbstentfremdung, während zugleich auch die problematische Seite des Affekts, hier im Hinblick auf die sexistische Komponente von „Luder“, deutlich anklingt.

Die Verhinderung der Selbstentfremdung beziehungsweise der vollkommenen Integration — die Partei Die Linke wäre ein Musterbeispiel für die vollkommene Zähmung — bewahrt, so die These, die daraus abgeleitet werden kann, eine Schlagkraft, die wesentlich von der Empörung, nicht vom Begriff herkommt, und die ansonsten schwindet. Insofern hätte es, um es auf Corona zu wenden, vielleicht durchaus mehr Empörung und Heftigkeit gebraucht.

Mausfeld selbst sieht das Verhältnis folgendermaßen:

„Entscheidend für die Möglichkeiten, unsere geistigen Abwehrkräfte zu stärken, ist es also, ob wir die jeweils konkreten Empörungen von einer begriffslosen affektiven Ebene auf eine Ebene der Reflektion heben können und sie dann in zuvor gewonnene Einsichten einbinden und auf diese Weise gedanklich stabilisieren können.“

Diese Stelle lässt sich nun sowohl als Bestätigung der zuvor entwickelten Symbiose lesen, als auch als deutliches Primat, wenn nicht gar als Diktat des Begriffs. Das Ganze hängt vom Verständnis der Begriffe „heben“, „einbinden“, „stabilisieren“ ab. Beziehungsweise davon, wie sehr man annimmt, dass in solchen Vorgängen das begriffslose Affektive zu seinem Recht im Rahmen angepeilter gesellschaftlicher Umwälzungen kommen kann oder ob man davon ausgeht, dass das Affektive beim Heben, Einbinden, Stabilisieren gänzlich verloren geht.

Stabilität als Lesbarkeit

Der Hinweis auf eine anzupeilende Stabilisierung einer emanzipativen Bewegung indes schiebt dann doch die Affekte — die per se nicht Stabilität als Eigenschaft haben — deutlich beiseite. Nun kennen wir aber — auch aus Mausfelds Arbeit — das Ziel der Macht sehr genau: Stabilität. Und wir fragen uns deshalb?

Erhöht sich die Schlagkraft einer Bewegung gegen diese Macht nun dadurch, dass sie selbst stabil wird? Man ist geneigt, das zu bejahen, um dann festzustellen: Stabilität bedeutet auch Berechenbarkeit. Was stabil ist, ist gut lesbar. Auch für die Macht.

Und wieder das Beispiel der Partei Die Linke: Die hat eine gewisse Stabilität erreicht, zweifelsohne, und es war dies auch ihr Ziel. Und besser als die Linke ist kaum eine andere Partei zu lesen. Und also austricksbar. Eine ungemein angenehme Gegenmacht zur Macht für die Macht.

Dass Affekte und Empörung schnell verpuffen, dass sie leicht ins Apolitische fallen, dass sie selbst Teil von dem werden, wogegen sie sich initial richten, das betont Mausfeld mehrfach. Und wir kennen wohl auch konkrete Beispiele hierfür. Ob es hingegen einer begrifflich konzipierten Emanzipation nicht ähnlich ergehen kann, sie also trotz oder vielleicht gar über den Begriff beziehungsweise die Begrifflichkeit „scheinpolitisch“ und/oder Teil des Systems wird: Diese Frage wäre erst noch zu stellen. Vielleicht wäre für eine wirkmächtige Gegenbewegung zur Macht eine ganz neuartige Symbiose von beidem anzupeilen statt Primat oder Integration des einen im anderen.

Alternative Medien und Verstümmelung

Mausfeld indes bleibt vorerst bei der Gefahr, die von der Empörung, also von der Affektseite für die Emanzipation ausgeht, wenn er — er muss das so wahrgenommen haben, es gäbe sonst den Anlass, das zu formulieren, nicht — darauf verweist, dass alternative Medien, welche die Aufgabe hätten, Empörung in einen begrifflichen Rahmen zu integrieren beziehungsweise grundsätzlich „...in der Lage wären, politisches Handeln wieder in die Kontinuität emanzipatorischer Einsichten und Erfahrungen einzubetten“, dabei eben versagen. Wie versagen sie? Die „Formen einer Diskursverluderung können — vor allem in einer Zeit die von einer extremen Aufmerksamkeitsökonomie geprägt ist — auch für alternative Medien verführerische Mittel sein, um eine breite Resonanz zu erzielen. Sie führen jedoch stets zu einer Entpolitisierung und entziehen emanzipatorischen Anliegen die Grundlage. Eine Diskursverluderung fördert also eine Entpolitisierung und trägt zudem zu einer Infantilisierung der Bevölkerung bei.“

Dass alternative Medien, die an den Mechanismen der „Verluderung“ partizipieren, dem Widerstand schaden, ist evident. Die entscheidende Frage ist aber: Betreibt ein Medium tatsächlich Diskursverstümmelung — ich würde diesen ebenso affektiven Begriff vorziehen —, wenn sich in seinen Beiträgen Mittel der Konkretion beziehungsweise der angeblichen Personalisierung finden? Wenn also — wir erinnern uns — „technisch virologische und statistische Probleme“ beziehungsweise „die Rolle von Bill Gates“ zum Thema werden? Und dergestalt wieder auf die ungelöste Beziehung von Begriff und Affekt oder Begriff und Emotion geworfen, gerade auch hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, fragen wir uns weiter: Schimmert hier erneut eine geradezu rigide Vorstellung durch? Mit einem weitgehenden Primat der Abstraktion beziehungsweise einem weitgehenden Ausschluss aller Affekte und Emotionen aus der Emanzipation — in gewisser Weise paradox zum Begriff der „Verluderung“ selbst, an dem das Muster sich zeigt? Will der Text — ausgerechnet — über den Begriff der „Verluderung“ generell Empörung und Affekte aus dem Widerstand ausschließen?

Ohne zu behaupten, es ließe sich von den Ergoogeln-Verstümmelungs-Mechanismen, die Mausfeld herausstreicht, rein gar nichts finden in alternativen Medien, stellt sich aufgrund einer genauen Lektüre doch die Frage, ob der Text „Verluderung“ nicht auch mit Unberechenbarkeit verwechselt? Ob Muster, die Mausfeld unter „Verluderung“ in den alternativen Medien gesehen haben will (Empörung, Konkretion, Personalisierung, Affekte womöglich), nicht auch Widerstandsformen sind, die sich nicht oder weniger berechnen lassen und deshalb Angst erzeugen? In der Umkehrung: Hätte nicht gerade eine unberechenbare, chaotisch erscheinende Widerstandkonstellation die Potentiale für eine reale Machtverschiebung, die eine nach Stabilität verlangende Abstraktion verspielte? Auch für die Theorie verspielte? Womöglich, weil in einer chaotischen Konstellation noch keine fixierte Sprache vorliegt, die die Analyse kennt und die sie womöglich selber spricht und womit sie die Empörung zähmen könnte? Mehr noch:

Müsste ein Widerstand gegen das totalitäre Gebilde, wie es gegeben ist, nicht in der Tat neue Wege beschreiten? Linke Theoriestabilität jedenfalls konnte in den letzten Jahrzehnten nichts in Gang setzen, das dem Kapital auch nur ein bisschen zu Halse gerückt wäre, im Gegenteil.

Fazit

Weshalb scheitern linke Theorien und Ideal-Ideologien immer wieder? Etwa weil sie zwar die Gerechtigkeit hoch halten, die Freiheit aber vernachlässigen oder sie in eine liberale Schmuddelecke stellen? Etwa weil sie Empörung und weitere Affekte unterdrücken und damit auch deren Potential verspielen? Stabilität — wie von Mausfeld eingefordert — und klare begriffliche Konzepte drohen emanzipativen Bewegungen die affektive Seite zu rauben und dadurch einen Prozess der Entfremdung beziehungsweise Fremdbestimmung durch eine vorgegebene Begrifflichkeit einzuleiten. Darüber hinaus werden Bewegungen als stabile Größen auch für die Macht leicht les- und also kontrollierbar.

Linke Theorien — und das mag man in den gelesenen Passagen widerspiegelt sehen — haben Mühe, die rational-abstrakte-begriffliche Seite des Menschen mit der affektiven-empörten beziehungsweise individualistisch-freiheitlichen zu vereinen. Der Begriff „Verluderung“ mag gleichzeitig Gegenbeispiel und Bestätigung dafür sein.

Mausfelds Vorbehalte gegenüber den Corona-Protesten, viel deutlicher im Rubikon-Interview artikuliert, entzünden sich weniger an der Kennzeichnung beziehungsweise Bewertung der gegebenen Machtverhältnisse. Im DWN-Interview deckt sich diese Bewertung weitgehend mit derjenigen, die beispielsweise auch von Protagonistinnen und Protagonisten auf dem Rosa-Luxemburg-Platz vorgenommen worden ist. Sie entzündet sich vielmehr daran, dass er den Protesten beziehungsweise auch alternativen Medien, denen er die Aufgabe zuweist, den Protest begrifflich aufzufangen, vorwirft, Teil der Diskursverstümmelung geworden zu sein beziehungsweise Mechanismen dieser Verstümmelung anzuwenden.

In der Art und Weise — und das durchzieht die hier gelesenen Passagen insgesamt —, wie Mausfeld alles Nicht-Begriffliche, zum Affektiven Neigende für eine emanzipative Bewegung zähmen will, läuft die Analyse stellenweise Gefahr, selbst als Machtstabilisator beziehungsweise Herrschaftsinstrument gelesen zu werden. Wenn — in der impliziten Umkehrung des Vorgetragenen — aber Lämmer, die massivsten Grundrechtseingriffe und die Aushebelung des Demonstrationsrechts klatschend auf den Balkonen entgegennehmend, die emanzipatorische Bewegung wären mit den begrifflichen Standards und dem politischen Bewusstsein, dann darf man sich nicht wundern, wenn Macht so stabil ist wie nichts auf der Welt.

Und dann ist der Pessimismus, den Mausfeld eingesteht, und für den es nebenbei bemerkt selbst dann Gründe gäbe, sähe man die Emanzipation auf der Seite des Corona-Widerstands, noch eine euphemistische Umschreibung. Dann nämlich wäre die Analyse oder die Theorie selbst auf das Scheitern hin angelegt. Als Theorie würde sie trotzdem — oder gerade deswegen? — überleben. Und sogar begrifflich „stimmen“. Aber das sind Konjunktive und es wäre ganz bestimmt nicht im Sinne der Mausfeldschen Analyse.

Ansätze gegen den Pessimismus

Gegen diesen Pessimismus wäre zunächst ein ganz pragmatischer Ansatz möglich, ohne jede große Theorie, wie Ulrich Teusch ihn hier anspricht, wenn er darauf verweist, dass nun die Zeit der neuen Konstellationen angebrochen sei, da ja eben die Linken keine verlässlichen Partner im Kampf gegen den Polizeistaat mehr seien. Logisch, dass diese neuen Konstellationen kaum einen einheitlichen, klaren Begriffsrahmen hätten. Doch ließe das in der Tat sie sozusagen von allem Anfang an scheitern?

Für einen tiefergehenden Ausgleich — und der ist vielleicht tatsächlich vonnöten für die Beseitigung eines totalitären Systems, das auf nahezu unsichtbare Weise und unter massiv-zärtlichstem Einsatz von Technologie zu immer ganz nützlichen Zwecken die Menschheit durchseucht hat — wäre ein Rückgriff auf Konzeptionen fruchtbar, die Affekt und Vernunft nicht gegeneinander denken. Damit — um am Ende etwas Verheißungsvolles zu setzen — käme dem messerscharfen analytischen Ansatz Mausfelds zusätzlich auch das Potential des Affekts zu, das durch ein mit Vehemenz eingefordertes Primat des affektlosen, rationalen Begriffs womöglich verloren geht. Findet sich beides zusammen, so besteht vielleicht doch noch Hoffnung auf eine Wende.

Hannah Arendt schreibt:

„Um vernünftig (also begrifflich, Anmerkung des Autors) reagieren zu können, muss man zunächst einmal ansprechbar sein, „bewegt“ werden können; und das Gegenteil solcher Ansprechbarkeit des Gemüts ist nicht die sogenannte Vernunft, sondern entweder Gefühlskälte — gemeinhin ein pathologisches Phänomen — oder Sentimentalität, also eine Gefühlsperversion. Empörung und Gewaltsamkeit werden irrational nur, wenn sie zu Ersatzhandlungen führen oder auf Ersatzobjekte umorientiert werden.“ (2)

Dieser Einschub aus Arendts „Macht und Gewalt“ kann ein Ausgangspunkt sein, die Kluft zwischen weitgehend deckungsgleich erkannten Missständen in diesem mit Demokratie angeschriebenen Totalitarismus und auseinander klaffenden Reaktionen auf diese Missstände hin, wie wir sie bei Mausfelds — vielleicht als Angst vor dem Unkontrollierbaren zu deutender — Kritik am Corona-Widerstand und dem Widerstand gegen diese Maßnahmen in der vorgenommen Lektüre angetroffen haben, zu überwinden.

Auf diese Weise ließe sich der radikal erhellende Charakter der Mausfeldschen Analyse gerade für Menschen fruchtbar machen, die erst jetzt in der Corona-Zeit, durchaus empört, gegen das System zu protestieren begonnen haben. Und zwar auch dann, wenn sie offen zugeben, dass sie des Einkaufens mit Mundschutz leid seien.

Gespür

Ein Letztes: Ohne Instabilität wird keine Ordnung zu Ende gehen. Wer auf Stabilität setzt, kann sich für einen Job im Regierungssprecherteam der Merkel-Administration bewerben. Höhnisch ist das nicht gemeint. Faschismus ist überall, jede und jeder kann davon befallen sein, mehr noch als von Viren. Mag der Sinn für Gerechtigkeit vielleicht universal sein, der Hang, im Namen von Sicherheit und Schutz und, wenn es ums Überleben geht, jeden Ordnungsdurchgriff und überhaupt ALLES gutzuheißen, ist es ganz bestimmt. Am Regime jedenfalls sind wir immer auch beteiligt. Allerspätestens durch die Technologie. Solange man das erkennt, solange es ein Bewusstsein dafür gibt, wie konkret oder abstrakt auch immer, solange besteht Hoffnung. Ganz schwierig wird es indes, wenn man das nicht mehr erkennt. Für dieses Erkennen aber genügen abstrakte Begriffe wohl nicht. Es braucht Gespür.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Obgleich mit fast eiserner Disziplin, wie es scheint, zunächst versucht wurde (und wird), die Arbeiten Mausfelds vom Öffentlichkeitsraum der Leitmedien fernzuhalten, ließen (und lassen) sich aufgrund der überragenden Qualität seiner Analysen vereinzelte Einschläge seines Schaffens in diesen Raum nicht ganz vermeiden. Die Süddeutsche Zeitung, SZ, wählte nach Erscheinen von „Das Schweigen der Lämmer“ die Taktik, das Buch von einem Systemhund, der ganz offensichtlich kognitiv nicht in der Lage war, die Aussagen Mausfelds zu begreifen, durch nebulöse Allgemeinplätze („krude Bescheidwisserei“) diskreditieren zu lassen. Dabei gerät die „Besprechung“ zur eindrücklichen Bestätigung dessen, was Mausfeld durch seine Analysen auf den Punkt bringt. Beispielsweise hinsichtlich der Erzeugung eines „Nebels der Verwirrung“ mit dem Ziel, die Machtverhältnisse einer rationalen Debatte zu entziehen (vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/soziale-gerechtigkeit-die-da-oben-wir-da-unten-1.4203219). Dagegen wurde die herausragende Bedeutung der Analyse zum Beispiel in der Neuen Zürcher Zeitung, NZZ, erkannt, die, vielleicht aufgrund ihrer doch vereinzelt noch durchschimmernden liberalen Tradition und obgleich grundsätzlich mit Mausfelds Kapitalismus-Kritik ganz bestimmt nicht konform gehend, von einer „brillanten Endoskopie des gegenwärtigen politischen Systems“ spricht und ihn als „ein Volksaufklärer in der Denktradition Humboldts, Deweys und Chomskys“ bezeichnet, „der minuziös dechiffriert, was sonst viele Bürger nur als Grundgefühl hegen.“ https://www.nzz.ch/meinung/warum-schweigen-die-laemmer-ld.1432075
(2) Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 2005 16. Aufl., S. 65


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