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Verwandlung als Rettungsversuch

Verwandlung als Rettungsversuch

Die Poetik-Ecke XVI skizziert am Beispiel von Franz Kafka, Peter Handke und Gertrud Kolmar, wie Menschen Auswege aus ihren Miseren suchen, indem sie eine Gegenwelt auffächern.

Franz Kafka: Die Verwandlung

Ein Mensch wacht eines Morgens auf und ist ein Käfer, ein Ungeziefer. Eine berühmte Erzählung Kafkas. Gregor Samsa fragt: „Was ist mit mir geschehen.“ Dann diese Ruhe, wenn er vor sich hinsagt: „Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße.“ Heutzutage eine Unmöglichkeit. Jeder, der heute als ein Ungeziefer aufwachte, würde entweder Influencer oder Talkmaster werden. Also Ruhe, die Veränderung wahrnehmen und dann zuerst einmal weiterschlafen.

Nur die Menschen um ihn herum erschrecken über seine Verwandlung, aber sie fragen sich nie, so mein Eindruck, wie es möglich ist, sich in einen Käfer, in ein Ungeziefer zu verwandeln. Für sie ist die körperliche Veränderung der ausschlaggebende Moment. Gregor nimmt es hin. Gerade die Überhöhung ins Groteske, wie Kafka es erzählt, kann besänftigend oder ausgleichend wirken. Das Unglaubliche schafft Freiheit. Nicht im medial, bildlichen Sinn, das wäre Unterhaltung, sondern als eine Ausweichbewegung vor den inneren Konflikten.

Der Konflikt zwischen der Arbeit als Angestellter und Privatmensch ist, neben der Auseinandersetzung mit dem Vater, ein Grundthema dieser Erzählung. Und alles ironisch verbrämt. Welcher Angestellter träumt nicht von einem Leben in völliger Freiheit? Hier der Ausschnitt:

„Ach Gott, dachte er, was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt. Tag aus Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch die Plage des Reisens auferlegt, die Sorge um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr.“

Eher eine larmoyante Traurigkeit als ein widerständiger Frust, zumal er, wir wissen es als Angestellte, irgendwie an der Firma hängt.

Ein kurzer Blick auf den Konflikt Gregors mit seinem Vater: Dieser fügt dem Sohn, mit einem Apfelwurf eine tödliche Wunde zu. Der Vater verwandelt sich davor zu einem Militär, oder zu einem Bänker, mit Uniformrock. Zitat:

„Über dem hohen steifen Kragen des Rockes entwickelte sich ein starkes Doppelkinn; unter den buschigen Augenbrauen drang der Blick der schwarzen Augen frisch und aufmerksam hervor; dass sonst zerzauste weiße Haar war zu einer peinlich genauen, leuchtenden Scheitelfrisur niedergekämmt.“

Einer der Äpfel streift ihn, ein anderer trifft ihn tödlich am Rücken. Viele andere verfehlen ihr Ziel.

Der Vater beschießt den Sohn eher aus einem Impuls heraus. Gregor hat nicht damit gerechnet. Doch kein Geschrei, keine Gegenwehr. Alles wird wie selbstverständlich hingenommen. Zitat:

„So machten sie mehrmals die Runde um das Zimmer, ohne dass sich etwas Entscheidendes ereignete, ja ohne dass das Ganze infolge seines (des Vaters) langsamen Tempos den Anschein einer Verfolgung gehabt hätte.“

Keine Aufgeregtheit, kein Sensationsreport, sondern „Normalität des Tragischen“, die Ruhe der Selbstgewissheit, nämlich des menschlich, allzu menschlichen. So müsste man den Leiden der Menschen begegnen — wenn es auch für Gregor tödlich endet.

Peter Handke Journale

Handke ist vielen bekannt durch den Jugoslawienkrieg, wo er beispiellos seine eigene Wahrnehmung beschrieb und starken Angriffen ausgesetzt war. Doch das soll hier nicht das Thema sein, obwohl ich ihn dafür sehr bewundere, zumal ich selber private Beziehungen zu dem damaligen Jugoslawien hatte. Gerade lese ich seine Journale, so eine Art Tagebuch. Seine Wahrnehmungen, seine Eindrücke, seine Einfälle. Hier ein Zitat aus dem Vorwort:

„Soll ich die Eigenheit des Ganzen hier andeuten, so vielleicht folgend: Maximen und Reflexionen? Nein, eher Reflexe; Reflexe, die aus einer Bedachtsamkeit kommen, einer grundsätzlichen und in deren Folge hin und wieder ausschwingen, auch ausschwingen wollen, über den bloßen Reflex, so weit der Atem reicht.“

Handke hat immer wieder betont, dass er die Schärfe der Beobachtung ablehnt, er ein Schauernder sei. Einer der den Blick hat für das normale, alltägliche, aber diesen Blick dann in eine eigene Sprache verwandelt. Natürlich darf man das nicht mit Idylle verwechseln, im Gegenteil, so eine Sprache kann, in ihrer Einfachheit und Schlichtheit provozieren. Aber das wäre sicher nicht im Sinne von Handke.

Obwohl seine Tiraden, die in der Prosa auch vorkommen, unglaublich emotional sind und mich deshalb sehr bewegt haben, ist das wohl nur ein Seitenthema seiner Kunst.

Wichtig bleibt für mich seine Schreibhaltung, die Bedingungslosigkeit und Durchsetzungskraft. In den Journalen kann man die Leichtigkeit seiner Reflexionen und Anschauungen wunderbar nachverfolgen.

Darunter Sätze, wie ich sie liebe:

„Das Leuchten der ersten Wegerichblätter gestern Abend in der Dämmerung — tatsächlich eine Art Wundblättern, Blättern, die den Schmerz, laut Volksmund, aus der Wunde ‚ziehen‘.“ Oder: „Etwas weit weg von sich legen: das Messer; etwas nah zu sich: den Bleistift“, oder: „kleiner dunkler Nachtfalter sitzt im Hahnenfuß, klein genug, käferklein, für dessen Blüte“.

Auch bei ihm, so scheint es mir, ist die Sprache kein Suchen, sondern ein Finden.

Der Blick ist auf die nächste Umgebung gerichtet, schaut, erkennt, ohne Zwang und wollen. Die Umgebung fällt ihm zu, wie einem Kind die Tätigkeit seiner Mutter oder seines Vaters. Das finde ich wohltuend, so als gäbe es mir Anleitung genauso zu schauen, wobei das verlorene Liebesmühe ist. Man sollte nicht nachahmen, sondern selber den Blick heben, und eine Sprache dafür finden. Also an ihm lernen, ohne ihn zu kopieren. Für mich hat Peter Handke eine Welt erschaffen, etwas Eigenes und Beschützenswertes, etwas, dass die Lebendigkeit auf eine sehr schöne Weise beschreibt.

Natürlich werden in seinen Erzählungen auch Konflikte ausgetragen, Morde begangen und so weiter. Aber sie sind, so mein Eindruck, unaufgeregt erzählt, wie ich es auch bei Kafka gefunden habe. Gerade weil sie eine eigene Welt darstellen und sich deshalb dem alltäglichen Diskurs entziehen. Eben nicht zuerst einen Reiz setzen, wo man zuerst piksen muss, um eine Reaktion zu erhalten, sondern einen Umweg findet, ein Gedicht, eine Erzählung, ein Roman. Das kann nur die Literatur.

Gertrud Kolmar, die Dichterin

Gertrud Kolmar, mit bürgerlichem Namen Chodziesner, ist eine jüdische Dichterin und wurde in Berlin am 10. Dezember 1894 geboren. Ort und Datum ihres Todes sind unbekannt. Sie wurde 1943 in ein Konzentrationslager deportiert.

Gertrud Kolmar ist meine Lieblingsdichterin, das sagt zunächst nichts aus. Bei ihr ist die Sublimierung ihrer Lebensnot durch Gedichte, zumindest für mich, am offensichtlichtesten. In früher Kindheit vernachlässigt, einen starken Vater, eine leidende, aber lebendige Mutter. Später dann eine enttäuschte Liebe und eine Abtreibung. Danach ein Selbstmordversuch. Sie fand für sich einen Ausweg, eben in der Kunst. Der Kunst wundervolle Gedichte und Erzählungen zu schreiben.

Der Zustand des Fabulierens ist eine starke menschliche Ausdruckskraft, so wie der Hang zu Kontrolle, oder das Bezirzen eines potenziellen Liebespartners.

Zeitlebens gab sich die jüdische Dichterin Gertrud Kollmar unscheinbar. Es gibt ein Familienfoto, auf dem man sie am Rande stehen sieht. Keine Körperspannung, ihre Kleidung einfach, das Gesicht ausdruckslos. Oft erzeugt eine lebendige Innenwelt ein Desinteresse darüber, wie man in der Umgebung wirkt.

Sie sah sich als schöpferischen Menschen. Ihr war bewusst, dass sie ein außerordentliches Talent besaß, doch war sie wahrscheinlich nicht darauf aus, Erfolg zu haben. Weil wohl der Erfolg zwiespältige Gefühl auslöste.

Im letzten Brief an ihre Schwester gibt sie Einblick in ihre Dichterwerkstatt. Hier ein kleiner Ausschnitt.

„Wenn ich jedoch umgekehrt, aus einem Ohnmachtsgefühl heraus das neue Werk beginne, so bin ich wie einer, der von unten, aus der Tiefe heraus, zur Gipfelwanderung sich anschickt; zunächst ist das Ziel noch so fern, der Anblick versperrt, doch mit dem Fortschreiten wird die Aussicht immer schöner und weiter. Bei diesem allmählichen Aufsteigen ermatte ich nicht, wie mir es geschieht, wenn ich mich von einem raschen Aufschwunge der Fantasie hinreißen lasse.“

Es gibt ein bekanntes Gedicht von ihr, „Die Kröte“, dass einiges über sie selber und ihre Wahrnehmung aussagt. Die Ambivalenz des Konfliktes in ihr zeigt dies auf einzigartige Weise: Einerseits das Aushalten und Leiden, anderseits den eigenen Schmerz, nicht als Überhöhung, sondern durch Verwandlung zu etwas anderem, zu kompensieren. Es ist ein innerer Prozess in dem die Macht, die sie von außen spürt, keine Waffe wird, sondern Bild und Raum. Also Entspannung, vielleicht sogar Erlösung. Hier ein Ausschnitt:

Komm denn und töte!
Möge ich nur ekles Geziefer dir sein:
Ich bin die Kröte
Und trage den Edelstein ...

Einschneidend für sie war die Abtreibung ihres Kindes, das sie mit einem Offizier zeugte. Der Offizier wollte sie nicht heiraten. Das bewirkte natürlich eine unglaubliche innere Spannung, die nach Wegen der Auflösung, der Verwandlung drängte. Hier ein Beispiel aus der Sammlung „Tierträume“:

Ein Kind

Wo harrt, die dich geboren hat,
Wie lächelt, die dich wiegte,
Die schwebend ein betautes Blatt
Um deine Knospe schmiegte,
Die dich in Schmerz und Erde warf
Aus ihres Schoßes Falten,
Dich mit den Lippen trinken darf
Und mit den Augen halten?

Sie hängt der Garten, liebste Frucht,
An ihres Morgens Bäumen.
O Süßigkeit, O Eifersucht!
O blonder Bäche Schäumen
Um Rasengrund und Wurzelherd
Zur fernen finstren Grube!
O Kugelnetz und Steckenpferd
Auf einer Glockenstube

Wie willst du heißen: Nichts im All
Und Mensch aus Menschenrotte,
Ein Hüpfen deinem Gummiball
Ein Scherzen deinem Gotte?
Was bist du? Brauner Goldfasan.
Was bist du? Blumenwespe.
Was bist du? Sonne Löwenzahn.
Was bist du? junge Espe.

Dein Leben ist ein Kreiselpflock,
Hat rot und grüne Ränder,
Du schlägst ihn mit dem Peitschenstock
Durch hundert reiche Länder
An unserer Straße, mürrisch alt,
mit Fenstern, die erblinden;
Da springt er in den Pflasterspalt
Und lässt sich nie mehr finden.

Wenn man dieses Gedicht liest und den Verlust des Kindes mitdenkt, findet man immer wieder neue Zusammenhänge. Es ist keine Zumutung, so ein hermetisches Gedicht zu lesen, sondern ein Erkenntnisgewinn.

Die letzten Jahre in Nazideutschland war für Gertrud Kolmar ein Martyrium, das sie, so zumindest in den Briefen, mit einem unglaublichen Gleichmut hinnahm. Dies lesend überkommt einen eine ohnmächtige Wut. Wozu Menschen fähig sind, sollte uns aufmerksam machen, denn es braucht nur eine Atmosphäre, in der diese Schläfer, diese Mörder und Feiglinge wieder erwachen.

Wer mehr über Gertrud Kolmar wissen möchte, empfehle ich die Biografie von Johanna Woltmann: „Gertrud Kolmar Leben und Werk“, Suhrkamp Verlag, und einen literarischen Versuch von Dieter Kühn, der im Fischer Verlag erschienen ist: „Leben und Werk, Zeit und Tod“. Doch vor allem empfehle ich die Gedichte selber, die in vielfältigen Ausgaben erschienen sind.

Resümee

Kafka, Handke und Kolmar zeigen mit ihrem Schaffen auf, welche Kraft die Kunst hat, wenn sie als eine Möglichkeit der Verwandlung begriffen wird. Sie zeigen Auswege auf, auch Irrwege, natürlich.

Es geht darum, Kunst nicht als Freizeitvergnügen zu begreifen, als Unterhaltung, sondern als ein tiefes Muster menschlicher Wirklichkeit.


Quellen und Anmerkungen:

Literaturhinweise zu den Autoren:

  • Franz Kafka, Die Verwandlung. S. Fischer Verlag Die Erzählungen. Einmalige Sonderausgabe 2007.
  • Peter Handke, Journale. Suhrkamp Verlag 2018.
  • Gertrud Kolmar, Weibliches Bildnis. DTV München 1980.


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