„Der ‚Spiegel‘ hat die Wahrheit nicht für sich gepachtet. Aber er sucht danach“, lässt sich Chefredakteur Klaus Brinkbäumer großformatig auf Werbeplakaten seines „Nachrichtenmagazins“ zitieren. Zu der Art und Weise, wie er und seine Journalisten nach der Wahrheit „suchen“, mochte sich der Spiegel-Boss aber zuletzt nicht äußern – als bei einem Artikel Zweifel am Erfolg der „Suche“ aufkamen.
Zweifel, wie sie bei Spiegel-Berichten schon früher hier oder da in ähnlicher Weise aufkamen: Schlagzeilenträchtig war einst eine ausnehmend privat anmutende Reportage über CSU-Mann Seehofer, die der Spiegel höchst selbstbewusst auch noch für einen Preis angemeldet hatte. Und die dann tatsächlich ausgezeichnet wurde. Noch bei der Preisverleihung stellte sich allerdings heraus, dass der Spiegel-Autor die von ihm penibel niedergeschriebenen Details nur vom Hörensagen kannte, selbst also nie am Ort des Geschehens war, dem Modellbahnkeller im Seehoferschen Eigenheim. Der Preis wurde aberkannt. Die Juroren fühlten sich getäuscht, das Hamburger Abendblatt diagnostizierte „Betrug an der Wahrheit“, die taz „Betrug am Leser“ – während ein Spiegel-Führender betonte, dass er seinen phantasievollen Reporter für „untadelig“ erachte.
Die Simulation von Exklusivität
Vielleicht erklärt solch demonstrative Bestärkung durch die Chefetage, dass Spiegel-Autoren zuweilen offenbar noch immer eine exklusive Nähe zu prominenten Protagonisten simulieren!? Kürzlich suggerierte ein ausweislich der Artikelkennung zehnköpfiges Team des Spiegel, beim Hamburg-Besuch der ehemaligen italienischen Senatorin Haidi Giuliani beim G20 ganz dicht dran gewesen zu sein. „Sie sah den Rauch, den Tumult, die Einsatzwagen aus sicherer Entfernung von ihrem Hotelzimmer am Hamburger Hauptbahnhof aus“, schreibt der Spiegel. Zudem wissen die Spiegel-Leute über die Demos gegen G20 zu berichten: „Sie (Giuliani) selbst marschierte nicht mit.“ Ist ausgerechnet Haidi Giuliani also quasi als Voyeurin der Gewaltexzesse nach Hamburg gekommen?
Kein „Tumult“, kein „Rauch“ – aber auch kein Spiegel-Reporter
Tatsächlich war Giuliani in den Tagen der Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gar nicht in Hamburg – als Aktivisten brennende Barrikaden errichtet hatten, deren „Rauch“-Säulen weithin über der Stadt sichtbar waren. Das trug sich unstreitig am Abend des 7. Juli zu, gegen 20 Uhr. Giuliani: „Zu diesem Zeitpunkt bin ich mit meinem Hund Gassi gegangen, in Genua. Während meines Aufenthalts in Hamburg habe ich zu keinem Zeitpunkt Tumult oder Rauch gesehen, schon gar nicht von meinem Hotelzimmer aus. Und ich habe weder in meinem Zimmer noch sonst in Hamburg jemanden vom ‚Spiegel‘ getroffen.“
Giuliani hielt sich vom Abend des 4. Juli bis zum frühen Morgen des 6. Juli in Hamburg auf. In dieser Zeit gab es nachweislich keine größeren Konfrontationen, keine Straßenschlachten. Keinen „Tumult“, keinen „Rauch“. Und in den gerade mal vierzig Stunden ihrer Stippvisite an der Alster verschanzte sich „Italiens Mutter Courage“, so die Frankfurter Rundschau, auch nicht in ihrer Herberge, sondern war fortwährend in der Stadt unterwegs: Die 73-jährige gab Interviews. Sie traf Anti-G20-Aktivisten. Und sie trat hier bei einer konzertanten Lesung des Literaturfestivals „Lesen ohne Atomstrom – Die erneuerbaren Lesetage“ auf. Diese Einladung war der Grund dafür, dass Giuliani überhaupt nach Hamburg kam. Sie las dabei mit mehr als einem Dutzend Künstlern und Autoren wie Auma Obama, Vandana Shiva, Renan Demirkan, Günter Wallraff, Urban Priol, Mathieu Carrière, Thomas Thieme, Konstantin Wecker, Samy Deluxe und Jan Delay (von der Hip-Hop-Truppe „Beginner“) mehrsprachig Stephane Hessels „Empört Euch!“.
Was sind Nachrichten für das „Nachrichtenmagazin“?
Und mehr noch: Giuliani „marschierte“ in Hamburg. Am Abend des 5. Juli führte sie eine Demonstration an, die vor den G20-Tagungsort zog. In der ersten Reihe trug die schmale Frau gemeinsam mit den Künstlern das Banner der Demonstranten: „Empört Euch gegen G20!“ Mehr als 3000 Menschen folgten, der „Marsch“ wurde live im Internet übertragen. Auch bei einem Public Viewing in der City verfolgten viele den Zug Giulianis und ihrer Mitstreiter, bundesweit berichteten Medien. Zudem filmte ausgerechnet ein Kamerateam von Spiegel TV die „marschierende“ Giuliani, minutenlang. Doch laut Spiegel „marschierte sie nicht mit“, blickte vielmehr aus dem „sicheren“ Hotel auf das „rauchende“ Hamburg.
Derweil war der ganz reale, für den Deutschlandfunk „berührende“ Auftritt Giulianis bei der Lesung keine Nachricht für das „Nachrichtenmagazin“. Ebenso hatte der ganz reale Offene Brief der Genueser Ex-Senatorin an den Hamburger Bürgermeister, der mehrfach auf den Titelseiten der lokalen Zeitungen veröffentlicht war und den Konstantin Wecker bei der Lesung auf deutsch vortrug, für den Spiegel keinen Newswert. Darin warnte die Italienierin mit Hinweis auf die dramatischen Genua-Ereignisse: „Herr Bürgermeister, schützen Sie bitte Ihr schönes Hamburg. Dafür reicht es, klar Nein zu G20 zu sagen!“ Bekanntlich kam es anders.
„Fake News“ und „wilde Phantasie“
„Die Wahrheit von Haidi Giulianis Hamburg-Besuch, zu dem unser Literaturfestival sie eingeladen hatte, ist etwas völlig anderes als das, was der ‚Spiegel‘ sich ausgedacht hat“, sagt Frank Otto für die „Lesen ohne Atomstrom“-Organisatoren. Der Medienunternehmer ist seit mehr als 20 Jahren im Vorstand des Hamburger Presseclubs – und konsterniert über den Spiegel-Stil: „Mindestens zwei der Darstellungen zu Haidi Giuliani sind frei erfunden, entsprechen nachweislich nicht der Wahrheit. Warum ergeht sich der ‚Spiegel‘ in wilder Phantasie, während die grad vom ‚Spiegel‘ unablässig beschworene ‚Wahrheit‘ doch in diesem Fall so unendlich viel spannender war?“ Diese Frage wollten Otto und seine Festival-Mitstreiter mit Chefredakteur Brinkbäumer, dessen Magazin ausweislich einer weiteren Werbebotschaft „keine Angst vor der Wahrheit“ hat, besprechen – vergeblich.
Die Stuttgarter Zeitung sah beim Spiegel schon früher eine „fragwürdige Art des Geschichtenerzählens“. Was für den langjährigen Deutschlandfunk-Chefredakteur, Rainer Burchardt, im aktuellen Fall allerdings eine zu milde Wertung ist: Die Darstellungen des ‚Spiegel‘ zu Giuliani seien „nach Lage der Dinge Fake News“, so der Kieler Medienprofessor:
„Diese systematischen Erfindungen des ‚Spiegel‘ sind handwerklich desaströs. Und sie sind auch heikel, weil solche Inszenierung von Journalismus das Vertrauen in die Medien untergräbt.“
Und Burchardt scheint mit der Einschätzung richtig zu liegen, dass es sich um eine Systematik des Spiegel handeln könnte: Denn auch der Hamburger Buchhändler Peter Haß spricht von „Erfindungen des Spiegel“. Er war wie Haidi Giuliani Bestandteil des G20-Berichts der Hamburger Zeitschrift.
Haß ist Kenner der Autonomen-Szene, bewertet die militanten Auseinandersetzungen um den G20 differenziert. Für den Spiegel aber ist klar: „Apo-Rentner wie der 70-jährige Peter Haß (…) haben Verständnis für den radikalen Nachwuchs.“ Dazu Haß: „Das habe ich nie gesagt.“ Und weiter:
„Um Missverständnisse zu vermeiden, hatte ich mit der Redakteurin des ‚Spiegel‘, die mich befragt hat, vereinbart, dass ich den zur Veröffentlichung vorgesehenen Text vor dem Druck sehen kann. Der mir vorgelegte Text war korrekt, und ich habe ihn so freigegeben. Allerdings stand da der Satz mit dem ‚Verständnis für den radikalen Nachwuchs‘ nicht drin. Der Satz ist ja auch nicht von mir. Der wurde vom ‚Spiegel‘ später hinzugedichtet.“
Haß verlangte anschließend vom Spiegel eine Erklärung:
„Die ‚Spiegel‘-Redakteurin, die mit mir gesprochen hatte, sagte mir, dass es immer sein kann, dass die Chefredaktion nachträglich etwas verändert.“
Für Haß nicht nachvollziehbar:
„Die Chefredaktion kann doch nicht in der Folge von Interviews ihrer Redakteure Aussagen von Gesprächspartnern einfach neu erfinden – nur weil sich das vielleicht in der Story besser anhört. Ich rate dringend ab, mit dem ‚Spiegel‘ überhaupt zu sprechen.“
„Systemfrommer Stimmungsjournalismus“
Unterdessen bestärkt Konstantin Wecker die Medienmacher Burchardt und Otto. Wobei der Hinter den Schlagzeilen-Gründer auch die Machart der gesamten Spiegel-Analyse zu G20 würdigt:
„Die Frage des Umgangs der Linken mit Gewalt sei ‚aktueller denn je‘, schreibt der Spiegel in dem besagten Artikel – wie absurd! Als hätten wir gerade eine linksterroristische Mordserie erlebt, und nicht die Verbrechen des NSU sowie in großer Zahl brennende Flüchtlingsheime. Ein derartig systemfrommer Stimmungsjournalismus ist schlimm – und so durchschaubar. Fast noch schlimmer aber, dass eine Privatperson wie Haidi Giuliani mit Lügen bloßgestellt und quasi als Voyeurin der Gewalt öffentlich angeprangert wird. Eine derartige Hexenjagd erinnert an dunkle Zeiten, in denen etwa Heinrich Böll seinen medienkritischen Roman ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘ veröffentlichte.“
Und der ‚Spiegel‘? Nur bedingt dialogbereit
In der Folge des Spiegel-Berichts hatte der Kultur für alle e.V., Veranstalter des Festivals „Lesen ohne Atomstrom“ und Gastgeber Haidi Giulianis in Hamburg, Chefredakteur Klaus Brinkbäumer, ausführlich in einem Schreiben über die fragwürdigen Darstellungen informiert – und ein Gespräch angeboten. Eine Antwort blieb aus. Nach acht Wochen Geduld bat der Kultur für alle e. V. Brinkbäumer in einem zweiten Schreiben knapp um schriftliche Information zu seinen „Recherchen“. Wieder sind zwei Wochen vergangen, als eine E-Mail der Verlags-Rechtsabteilung eingeht, „auf Bitte der Chefredaktion“ – mit dem Hinweis, dass daraus nicht zitiert werden dürfe. Weitere vier Tage später übersendet die Abteilung „Kommunikation und Werbung“ eine offizielle Stellungnahme: Demnach ist das erste Schreiben an Brinkbäumer „der Chefredaktion nicht bekannt“, möglicherweise „in unserem Hause verloren gegangen“.
Und weiter: Bei der Beschreibung des vermeintlichen Giuliani-Blicks aus dem „sicheren“ Hotelzimmer handele es sich um ein „Missverständnis“, „bedauerlich“ – entstanden angeblich im Rahmen eines Telefonats des Spiegel mit Giuliani eine Woche nach deren Hamburg-Besuch. Man habe „nie den Eindruck erweckt, gemeinsam mit ihr am Ort des Geschehens gewesen zu sein“. Aber: Wo das Geschehen war – Hamburg oder Genua – ist für den Spiegel ohnehin nicht entscheidend:
„Ob die sichere Entfernung nun ein Hotel (in Hamburg, d. Red.) oder ihr Zuhause (in Genua, d. Red.) war, scheint für den Inhalt des Textes zweitrangig.“
Auch die falsche Darstellung des angeblichen Nicht-Demonstrierens sei „bedauerlich“, diese Angabe beruht angeblich auf einer Aussage von Guiliani selbst – weshalb, so der Spiegel, in dem Artikel auch „folgerichtig indirekte Rede“ verwendet worden sei. Was wiederum zweifelsfrei ein „Missverständnis“ der Grammatik ist, beim Spiegel: Der Satz „Sie selbst marschierte nicht mit“ ist gerade nicht indirekte Rede, fehlt doch der Konjunktiv. Überdies bestreitet Giuliani die ihr zugeordnete Aussage:
„Ich weiß sehr wohl, was ich in Hamburg getan habe. Unter anderem durfte ich mit beeindruckend engagierten Künstlern, die ich nicht jeden Tag treffe, demonstrieren.“
Als eine weitere Erklärung gibt der Spiegel an, dass Informationen „redaktionellen Kürzungen beim Zusammenschreiben zum Opfer“ gefallen seien. Dessen ungeachtet ist der Spiegel aber überzeugt:
„Im Gesamtzusammenhang werden keine relevanten Handlungen oder Haltungen von Frau Giuliani unterschlagen.“
Und eine mögliche Parallele zur Seehofer-Reportage wird zurückgewiesen, denn:
„Wir haben aus dieser Debatte gelernt, wann immer möglich, kenntlich zu machen oder Hinweise zu geben, in welcher Situation man den Gesprächspartner interviewt hat.“
Das hat bei Haidi Giuliani offenkundig noch nicht funktioniert.
Heiko Böttner, Vorstand des Kultur für alle e.V.: „Unser Gast Haidi Giuliani und wir hatten bewusst auf eine hier leicht durchsetzbare Gegendarstellung und Anzeige beim Presserat verzichtet. Wir erachteten einen Dialog mit dem ‚Spiegel‘ für sinnvoller. Viele Medienleute hatten uns gleich gesagt, dass wir naiv seien, der ‚Spiegel‘ stelle sich niemals der Diskussion. Sie haben Recht behalten.“
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