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Zeit der Verleumder

Zeit der Verleumder

Zeit für Analyse und Widerstand. Gespräch mit dem Philosophen Moshe Zuckermann.

Herr Zuckermann, Sie werden um den 10. Februar in Berlin auf einer Konferenz sprechen, die sich nach einem Gedicht von Erich Fried nennt: „Zur Zeit der Verleumder“. Der Lyriker schrieb dieses Gedicht in den 1980er-Jahren und fasst darin mit seiner typischen und wunderschönen Melancholie zusammen, wie man ihn als „jüdischen Antisemiten“ benennt, weil er sich gegen die Unterdrückung der Palästinenser durch den israelischen Staat und dessen Militär ausspricht.

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Zur Zeit von Fried war noch eine offene Debatte über den israelischen Militärapparat möglich. Sie haben die 1980er-Jahre damals erlebt und sind jetzt auch noch als Intellektueller im öffentlichen Diskurs zugegen. Können Sie aus Ihrer Sicht festhalten und auch erklären, was sich so radikal, vor allem innerhalb der politischen Linken und hier insbesondere im deutschsprachigen Raum, verändert hat?

Es hat sich in dieser Hinsicht in der Tat einiges seit den 1980er-Jahren geändert. Die Gründe dafür mögen unterschiedlich sein, aber ein zentraler scheint mir zu sein, dass mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus der westlichen Linken insgesamt eine zentrale Gesinnungskoordinate abhanden gekommen war: Sozialismus war nicht mehr en vogue; der Gesellschaftsbegriff der Sozialwissenschaften brach nach und nach weg und wurde durch "Kultur" ersetzt, System- und Strukturanalysen machten identitären Diskursen und ressentimentgeladener Identitätspolitik Platz.

In Deutschland und mutatis mutandis auch in Österreich zeitigte diese linke Lakune eine besondere Erscheinung: Aus dem Bewusstsein heraus, die Vereinigung beider deutscher Staaten nicht hinnehmen zu können, formierte sich eine linke "antideutsche" Gesinnungsbewegung. Das ursprüngliche "Nie wieder Deutschland" suchte nach einem neuen Halt, den man in "den Juden" fand:

Weil Deutsche an Juden Monströses verbrochen hatten, avancierte die Solidarität mit "Juden" zur neuen "linken" Identität. Und weil sich Juden nach 1945 in Israel nationalstaatlich konsolidiert hatten, gerann Israel samt seiner nationalstaatlichen Ideologie des Zionismus zur Matrix des Selbstverständnisses der ehemaligen sozialistischen, gar kommunistischen Linken.

Positiv wurden somit Juden, Zionismus und Israel gleichgestellt bzw. als gleichwertig wahrgenommen. Negativ gewendet hieß es, Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik gleichzustellen. Und weil es für aufgeklärte Deutsche nach 1945 galt, den Antisemitismus wo auch immer zu bekämpfen, fetischisierte man den Kampf gegen den Antisemitismus als Grundpfeiler des eigenen Selbstverständnisses und projizierte diese Verdinglichung — die bald genug mit Juden und Antisemitismus nichts mehr zu tun hatte — auf den Diskurs über Zionismus und den Nahostkonflikt.

Je mehr man sich nun aber von der ursprünglichen Intention entfernte, verselbstständigte sich der Antisemitismus-Vorwurf und verkam zur ideologischen Kampfparole. Jene, die heute Juden als Antisemiten bzw. als "sich selbst hassende Juden" beschimpfen, haben von Israels Realität keine Ahnung und scheren sich einen feuchten Kehrricht um Juden.

An der gegenwärtigen Diffamierung von israelischen Intellektuellen, aber auch von Aktivisten und Journalisten aus dem deutschsprachigen und internationalen Raum, beteiligen sich Menschen, die sich selbst wohl dem politischen Spektrum von links bis rechts und auch konservativ bis liberal zuordnen. Einig sind sie sich in ihrem Kanon, nämlich in der Glorifizierung der westlichen Wertegemeinschaft und im kompletten Negieren und Umdeuten historischer Fakten und Ereignisse. Israel wird hier gerne, wie es auch Premierminister Benjamin Netanjahu nicht müde wird zu betonen, als Speerspitze dieser Gemeinschaft glorifiziert. Handelt es sich dabei um eine Art „Querfront“, oder wie würden Sie diese Interessensgruppe mit ihren Überschneidungen betiteln? Und wie erklären Sie diesen gemeinsamen Fanatismus?

Der gemeinsame Nenner dieser sich überschneidenen Lager ist die grassierende Islamophobie und der virulente Fremdenhass. Da Juden nun zumindest in Deutschland tabu sind, auch für Rechte und Rechtsradikale, hat man einen kommoden Ersatz für sie gefunden: Alle Lager weisen ein gewisses Ressentiment gegenüber dem Islam und seinen fundamentalistischen Auswüchsen auf; alle wissen sich in guter Gesellschaft, wenn sie gegen Flüchtlinge bzw. Zugezogene wettern.

Die "Querfront", wenn es denn eine ist, richtet sich nicht gegen eine authentische linke Gesinnung, sondern ist lediglich das ursprüngliche antisemitische Ressentiment — auch unter den israelsolidarischen "Linken" —, das nun ein neues, legitimeres und konsensuell abgesegnetes Objekt gefunden hat. Mit jedem islamistischen Terrorvorfall sieht man sich in seiner Ideologie bestätigt, ohne Rechenschaft darüber abzulegen, dass sich das Ressentiment aus derselben Quelle speist, die zu anderen Zeiten den Antisemitismus salonfähig gemacht hatte.

In den letzten Jahren wird auch der Zionismus selbst immer mehr in die öffentliche Debatte mit einbezogen, dem herrschenden Zeitgeist entsprechend entweder als nur gut oder nur böse wahrgenommen. In Europa wird in der öffentlichen Wahrnehmung Zionismus mit dem Judentum gleichgesetzt; dass gerade religiöse Menschen, die doch eher dem Christentum zuzuordnen sind, sich auch für den revisionistischen Zionismus stark machen, wird komplett ausgeblendet. Im Gegenteil: Emanuel Macron ließ sich zu der Aussage hinreißen, dass Antizionismus Antisemitismus sei, und auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz ließ es sich in seiner Antrittsrede nicht nehmen, Kritik am israelischen Staat und der Besatzung mit Antisemitismus gleichzusetzen. Hier hat sich aktuell ein spannender "NewSpeak" etabliert, es handelt sich nämlich um den „importierten Antisemitismus“ oder eben den „muslimischen Antisemitismus“, und diese reihen sich ohne großes Aufsehen an den auch relativ neuen „linken Antisemitismus“. Kann Antisemitismus überhaupt ein derart breit gefächertes Spektrum haben, oder ist dieses New Speech nicht einfach nur billigste Instrumentalisierung?

Der Antisemitismus qua "Antisemitismus" ist und war stets vielfältig verwendbar. Er konnte sich im 19. und 20. Jahrhundert gegen jüdische Kapitalisten und gleichermaßen gegen jüdische Sozialisten richten.

Er konnte sich philosemitisch gerieren; die Evangelikaner in den USA wären ein Beispiel dafür. Er konnte sich auch prozionistisch geben; die Nazis sahen zu Beginn ihrer Bewegung den Zionismus als eine mögliche Lösung an, Deutschland "judenrein" werden zu lassen. Er konnte vom Zionismus instrumentalisiert werden; der Zionismus wollte ja nie den Antisemitismus ausrotten, sondern ganz im Gegenteil als Antrieb für die Emigration von Juden in der Welt nach Israel am Leben erhalten. Es ließen sich noch Dutzende Facetten der instrumentalisierenden Inanspruchnahme des Antisemitismusvorwurfs aufzeigen.

Das Bemerkenswerte an diesem Phänomen ist, dass die Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs zumeist herzlich wenig mit dem Antisemitismus per se bzw. mit seiner vorgeblichen Bekämpfung zu tun hat, sondern schlicht mit heteronomen Interessen. Den Evangelikanern in den USA etwa geht es ja nicht um die Juden als solche, sondern um die Versammlung aller Juden in Zion, damit sie im apokalyptischen Endkampf als Juden untergehen und als Christen aus diesem endzeitlichen Ereignis hervorgehen.

Man muss immer den Verwendungszweck des Antisemitismusvorwurfs bzw. der vermeintlichen Judenliebe mit ins Auge fassen.

Der FPÖ-Obmann und österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache wird nicht müde, immer wieder seine Wertschätzung des Zionismus zu verkünden. Im Juni 2017, noch vor der Nationalratswahl in Österreich, hat Heinz-Christian Strache einen Brief an Benjamin Netanjahu geschrieben, in dem er sich für die Anerkennung von Jerusalem als israelische Hauptstadt aussprach. Große Teile der politischen Rechten, von den USA bis nach Europa, und leider auch Teile der politischen und intellektuellen Linken unterstützen diesen Schritt entweder offen oder durch beschämendes Schweigen. Warum liegt diesen Gruppen eine weitere, religiös begründete Eskalation so am Herzen?

Ich sagte es schon: Weil sie sich in keinster Weise um Juden und Israel, aber auch nicht um das Schicksal der Palästinenser scheren. Jeder politisch rational denkende Mensch kann einsehen, dass ein solcher Schritt schlimme gewaltdurchwirkte Folgen haben könnte.

Ein Strache kann sich ideologisierend zugute halten, Juden = Zionismus = Israel unterstützt zu haben, und mithin den Vorwurf, ein rechtsradikaler, tendenziell antisemitischer Politiker zu sein, von sich weisen. Ein Trump kann damit seine evangelikale Wählerschaft bedienen - Sie wiesen oben bereits darauf hin. "Linke" können ihrem antipalästinensischen Ressentiment bzw. ihrer "prozionistischen" Solidarität mit "Juden" performativen Ausdruck verschaffen.

Allen gemeinsam ist, dass sie Israel, Palästina, Juden und Moslems realiter herzlich wenig interessieren. Das ist das eigentlich Perfide dabei.

Die neue österreichische Außenministerin Karin Kneissl, interessanterweise von der FPÖ in das Ressort eingesetzt, schrieb in ihrem Buch „Mein Naher Osten“ davon, dass der Zionismus eine „Blut-und-Boden-Ideologie“ sei, die sich aus dem deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. Was halten Sie von dieser Aussage?

Die Aussage hört sich provokant an, und ich weiß offen gestanden nicht, was die Intention von Karin Kneissl ist. Aber objektiv lässt sich sagen, dass zumindest der zentraleuropäische Zionismus des deutschsprachigen Raums vieles von den Kategorien Volk, Nation, auch der Rasse, mithin von der organizistisch sich dünkenden völkischen Ideologie übernommen und sich an ihr orientiert hat.

Ob man nun gleich von "Blut und Boden", immerhin ein Nazi-Ideologem, reden muss, wage ich zu bezweifeln. Die Blut-Kategorie ist im Judentum, also auch im Zionismus anders begründet als in den modernen Rassenideologien, nämlich religiös. Ich wäre also vorsichtig mit solchen sloganhaft pauschalisierenden Urteilen.

So wie ich Sie kennen und schätzen gelernt habe, würde ich Sie unter anderem auch als liberalen Zionisten beschreiben. Wie geht für Sie eine adäquate Kritik am Zionismus, wo hört diese auf und wo fängt tatsächlich Antisemitismus an?

Sie irren, Herr Bartunek, ich bin Marxist und von daher kein "Liberaler". Und als ich noch Zionist war — und ich war es einmal —, war ich ein sozialistischer Zionist. Das hat mit dem heutigen Israel freilich nichts mehr zu tun. Der sozialistische Anteil am Zionismus ist längst untergegangen. Und Sie sollten nicht in die Falle hineintappen, die wir hier erörtert haben:

Kritik am Zionismus und ohnehin die an Israels Politik hat im Wesen nichts mit Antisemitismus zu tun.

Es gibt zionismuskritische Juden, und es gibt israelkritische Zionisten. Wenn Antisemiten sich des antizionistischen Arguments bedienen, müssen sie als solche, namentlich als Antisemiten, desavouiert und angegriffen werden.

So wie es scheint, stehen uns im besten Fall spannende, wenn nicht aber doch gefährliche Zeiten bevor. Die herrschenden oder kommenden Verhältnisse sind aber nicht vom Himmel gefallen, sie sind gemacht und können genauso auch wieder weggemacht werden. Abgesehen von der Konferenz in Berlin, was braucht es, um aus der Geschichte wieder eine andere Geschichte zu machen?

Ach, Herr Bartunek, Ihre Frage ist dermaßen gewichtig — philosophisch, soziologisch, ökonomisch und kulturell gewichtig —, dass es eines ganzen Buches bedürfte, um sie auch nur im Ansatz zu erörtern und zu beantworten. Ich lasse ihre oberflächliche Beantwortung lieber sein.

Danke für das Interview und alles Gute!


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Moshe Zuckermann, Jahrgang 1949, ist Professor am Cohn Institute for the History and Philosophy of the Sciences and Ideas der Universität Tel Aviv. 2000-2005 leitete er zudem das Minerva Institut für deutsche Geschichte in Tel Aviv. Schwerpunkte seiner zahlreichen Veröffentlichungen sind der Holocaustdiskurs in Deutschland und Israel, Probleme der politischen Kultur in Israel, Themen der Geschichte der Sozialwissenschaften sowie der Kultur- und Kunstsoziologie. Veröffentlichungen u.a.: »Das Trauma des ›Königsmordes‹. Französische Revolution und deutsche Geschichtsschreibung im Vormärz« (1989), »Gedenken und Kulturindustrie« (1999), »Zweierlei Israel« (2003).


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