Emran Feroz: Trotzdem machen Sie sich große Sorgen um die Zukunft unseres Planeten. Wie nahe am Abgrund stehen wir wirklich?
Noam Chomsky: Ich denke, dass das menschliche Überleben auf dem Spiel steht. Die ersten Opfer sind — wie so oft — die Schwächsten und Verletzlichsten. Das wird auf den Klimagipfeln immer wieder deutlich. Die Aussichten diesbezüglich sind schlecht. In der Zukunft — falls es eine geben wird — werden sich Historiker erstaunt fragen, was hier los gewesen ist.
Jene, die etwas gegen die Katastrophe unternehmen wollen, gelten als „primitive“ Gesellschaften: Es sind die indigenen Bevölkerungen Kanadas und Südamerikas und andere Völker der Welt. Wir sehen den Kampf für die Umwelt und deren Schutz, wenn wir nach Griechenland blicken, wo die Einwohner von Skouries in Chalkidiki heroischen Widerstand leisten gegen Eldorado Gold, einem typischen multinationalen Megakonzern, und die Polizeikräfte, die vom Konzern mobilisiert werden.
Jene, die unermüdlich damit beschäftigt sind, uns in den Abgrund zu stürzen, sind die reichsten und mächtigsten Gesellschaften der Welt, und sie haben unvergleichbare Vorteile gegenüber den Schwachen, wie man am Beispiel der Vereinigten Staaten und Kanada sieht. Sie handeln nicht rational, sondern tun das Gegenteil. Es hat am ehesten mit der verrückten Rationalität in einer „wahrhaftig existierenden kapitalistischen Demokratie“ zu tun.
Dass Sie selbst in diesen dunklen Tagen einen derartigen Optimismus an den Tag bringen, ist für viele Menschen erstaunlich. Woher nehmen Sie diese Haltung?
Ich bin fast 90 Jahre alt. Während meiner Kindheit fanden die große Depression sowie der Aufstieg des Faschismus statt. Als ich zehn Jahre alt war, schrieb ich meinen ersten Artikel für eine Schülerzeitung. Es ging darin um den Aufstieg des Faschismus in Europa. So sah die Welt damals aus. Ich erinnere mich an Hitlers Reden, die im Radio gesendet wurden. Ich verstand sie nicht, doch die Reaktion des Publikums konnte man nicht missverstehen. Es war erschreckend.
In meiner Nachbarschaft waren wir die einzige jüdische Familie. Die Gegend war typisch katholisch, voll mit Iren und Deutschen. Sie waren keine radikalen Antisemiten, doch sie waren offene Unterstützer der Nazis. Das war die Welt der 1930er-Jahre. Der Faschismus und die Nazi-Ideologie waren kein Witz.
Was gegenwärtig passiert, ist in vielerlei Hinsicht hässlich, doch es ist kein Vergleich zur damaligen Zeit. Was seitdem geschah, ist eine komplizierte Geschichte. Es gab Höhen und Tiefen. Es gab den zivilisierenden Effekt des Aktivismus und die neoliberale Regression. Doch wenn man in Betracht zieht, was durch die Anstrengungen des Aktivismus in Anlauf gebracht und erreicht wurde, gibt es Grund genug, optimistisch zu sein.
Warum Optimismus angebracht ist
In den letzten fünfzig Jahren sind die Gesellschaften der Gegenwart — unsere Gesellschaften — um einiges zivilisierter und fortschrittlicher geworden. Dies betrifft verschiedene Bereiche und lässt sich nicht von der Hand weisen.
Das beste Beispiel hierfür sind Frauenrechte, die sich in den letzten Jahrzehnten weltweit verbessert haben. Dies betrifft vor allem westliche Gesellschaften wie die Vereinigten Staaten. Als die Gründungsväter die Unabhängigkeit der USA von den Briten erkämpften, übernahmen sie auch die britische Gesetzgebung. Laut dieser wurden Frauen in erster Linie als Besitz und nicht als Individuen betrachtet.
Eine Frau gehörte dem Vater und wurde dann dem Ehemann übergeben. Das änderte sich mit der Zeit, doch es geschah sehr langsam. Erst im Jahr 1975 wurde Frauen in den USA das Recht garantiert, in Geschworenengerichten als gleichwertige Personen zu agieren. Das liegt nur einige wenige Jahre zurück, und das ist nur eine von vielen Veränderungen.
Ein weiteres Beispiel ist der Widerstand gegen außenpolitische Aggressionen. Das, was man in diesen Tagen sieht und erlebt, gab es in den 1960er-Jahren in dieser Form noch nicht. Wenn man den Vietnamkrieg mit der Invasion des Iraks vergleicht, wird das besonders deutlich. In der Geschichte des westlichen Imperialismus war es im Fall des Irakkriegs das erste Mal, dass es massenhafte Demonstrationen gab, bevor mit der Invasion überhaupt begonnen wurde.
Als die USA in den Süden Vietnams einmarschierte, geschah dies ohne nennenswerte Proteste. Natürlich war der Irakkrieg schlimm genug, doch der Widerstand der Bevölkerung hatte auch eine gewisse Wirkung. Bush, Blair und ihre Komplizen dachten nicht einmal im Traum daran, jene Verbrechen zu begehen, die Kennedy und Johnson in Vietnam verübten, ohne jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit Atomwaffen. Es gibt weltweit eine große Opposition gegen den Gebrauch und die Entwicklung von Atomwaffen. Die Bedrohung eines Atomkriegs ist meiner Meinung nach realer, als es sich viele Menschen vorstellen können, doch es gibt auch den Widerstand dagegen, und dieser könnte weiterhin wachsen und einflussreiche Formen annehmen.
Ähnlich verhält es sich auch mit der Umweltkatastrophe, von der wir nun permanent sprechen. Vor vierzig Jahren wurde dies nicht einmal als Problem wahrgenommen. Doch nun hat sich die Wahrnehmung vollkommen geändert. Viele Menschen wissen, dass der Klimawandel ein Problem ist und dass dagegen etwas unternommen werden muss. Natürlich ist all dies noch nicht genug, doch das könnte sich ändern.
Wie der Wandel zu schaffen ist
Der Grund, warum sich Dinge verändern, hat mit der Tatsache zu tun, dass es Menschen gibt, die ständig daran arbeiten. Sie arbeiten innerhalb ihrer Gemeinschaften, an ihren Arbeitsplätzen oder anderswo. Damit schaffen sie die Basis für Bewegungen, die mittels ihres Aktivismus letztendlich Veränderungen herbeiführen.
Auf diese Weise nahm so ziemlich alles, was im Laufe der Geschichte geschehen ist, seinen Anfang. Egal, ob dies das Ende der Sklaverei oder demokratische Revolten betraf. In den meisten Geschichtsbüchern wird uns das auch so vermittelt. Doch in diesen Büchern gibt es immer gewisse Führer, die hervorgehoben werden, wie etwa George Washington oder Martin Luther King. Ich will nicht behaupten, dass derartige Persönlichkeiten nicht wichtig gewesen sind. Natürlich spielte King in der Geschichte eine wichtige Rolle. Doch die Bürgerrechtsbewegung war weitaus mehr als eine Person.
Der Name Martin Luther King steht in den Geschichtsbüchern, weil viele Menschen, deren Namen nie erwähnt oder vergessen wurden, die Voraussetzungen für den Wandel geschaffen hatten. Jene Menschen, die in den Südstaaten teils gefoltert oder getötet wurden, waren das Fundament der Bürgerrechtsbewegung.
Erst wenn es Aktivisten gibt, Menschen, die eine soziale und politische Veränderung herbeiführen wollen und sich dafür einsetzen, können Menschen wie ich in Erscheinung treten. Wir können prominent werden, weil jemand anderes die Arbeit macht und die Grundsteine legt. Meine Arbeit richtet sich nicht in erster Linie an Intellektuelle oder Politiker, sondern an jene, die man als das einfache Volk bezeichnet.
Das, was ich von diesen Menschen erwarte, erfüllen sie bereits, indem sie versuchen, die Welt zu verstehen und so handeln, wie sie es als richtig empfinden. Nur so kann der Wandel zu einer besseren Welt gelingen.
Ich versuche lediglich, eine Art der intellektuellen Selbstverteidigung näherzubringen. Ich meine damit gewiss kein akademisches Studium an der Universität. Dort wird so etwas nämlich nicht gelehrt. Es geht mir vielmehr um die Entwicklung unabhängigen Denkens, und das ist gar nicht so einfach, wenn man alleine ist.
Unser vorherrschendes System ist nämlich besonders gut darin, die Menschen voneinander zu isolieren. Jeder ist allein, man ist wie ein Hamster im Rad. Diese Umstände erschweren es, eigene Ideen zu entwickeln und kreativ zu sein.
Man kann die Welt nicht alleine ändern. Jene, die diesen Weg beschreiten, tun das, indem sie sich organisieren und zusammenarbeiten. Die intellektuelle Selbstverteidigung, die ich meine, findet stets in einem sozialpolitischen Kontext statt, der für positive Veränderungen absolut notwendig ist.
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