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Alle oder keiner

Alle oder keiner

Vor 25 Jahren verstarb der ostdeutsche Arbeiterpoet Gerhard Gundermann, doch das Echo seiner Worte erklingt bis in die Jetztzeit.

Wenn die Sonne den höchsten Punkt erreicht hat und sich zurück auf den Weg nach Süden macht, jährt sich der Todestag von Gerhard Gundermann, dieses Jahr zum 25. Mal. Viele Menschen, vor allem in Westdeutschland, werden von dem Liedermacher, Poeten, Klassenkämpfer und Baggerfahrer aus der Lausitz bis heute noch nie etwas gehört haben. Das ist schade, denn sein Werk ist nicht nur unglaublich gehaltvoll, sondern ausnahmslos den „kleinen Leuten“ gewidmet.

Gundermann blieb bis zu seinem frühen Tod mit nur 43 Jahren am 21. Juni 1998 immer einer von ihnen: erst Baggerfahrer im Schichtsystem im Braunkohlerevier bis über das Ende der DDR hinaus, später arbeitslos wie seine Kollegen, dann Umschüler zum Tischler ― und zwischendurch auf der Bühne, eher abseits vom ganz großen Trubel. Er war „ein komischer Vogel im Fleischerhemd“, der einst wie kein anderer die Wirren vom November 1989 schon im Februar vorausahnte und sie in Liedtexten für die Band Silly, damals mit der ebenfalls früh verstorbenen Sängerin Tamara Danz, verarbeitete.

Er schrieb und sang, was das Volk fühlte, in den Vorwendewirren über die „verlor’nen Kinder in den Straßen von Berlin“ und ein „Gespenst“, das umgeht. In der DDR galt er als Widerspenstiger, der vom Stasi-Informanten in jungen Jahren selbst zum Überwachten der Stasi wurde, weil er keine Bonzen anzinken durfte. Er musste für seinen Ungehorsam eine Offizierslaufbahn plus Studium mit einem Hilfsarbeiterjob im Tagebau eintauschen. Die Wendezeit verbrachte er zwischen Kohlestaub, Singeklub, Plattenbauten in Hoyerswerda und Hinterhofbühnen.

Die DDR-Führung versuchte vergeblich, den Widerspenstigen zu zähmen. Gleichwohl erlaubte sie die Publikation eines eindrücklichen Films über den jungen Gundermann 1982. Schon dieser Beitrag war eine seltsame Mischung aus Verachtung und Ehrfurcht, wobei Letzteres überwog. In den Westen schaffte er es nie, aber das war irgendwie auch nicht sein Ding.

Gefallen in eine neue Zeit, blieb Gundermann der kritische Sozialist samt seinem Wunsch, Bonzen anzuzinken. Wie er einst der DDR-Führung die Leviten gelesen hatte, besang er nun die Heuchelei der Führungsriege des neuen Deutschlands in der trügerischen Glitzerpackung des Westens, was er am Beispiel des „nagelneuen Kraftwerks“ auf der „Straße nach Norden“ beschrieb: Ein Bau wie ein „Ufo“, das „glänzt wie gelogen“. Heute, so Gundermann „verheizen sie den Giftmüll und das Gift, das sieht man nicht“.

Seine Lieder gehen tiefer, als die meisten Rezensenten graben.

Sie waren nicht einfach nur, wie es der MDR einmal beschrieb, geschaffen aus „der Melancholie der Lausitz“. Überall in seinen Texten versteckt sich Systemkritik und -analyse, auch in so wunderschönen Zeilen wie „Schlaf kleine Frau, mach’ die Augen zu, der Silberkäfer braucht keine Ruh’, er nimmt uns gerne mit, für’n bisschen Sprit. Tausend Mann haben dran gebaut, ein Dieb hat ihn für uns geklaut, es ist warm und laut unter seiner Eisenhaut“. Jeder VW-Fließbandarbeiter, der in sich geht, wird wohl irgendwo tief im Inneren fühlen, was Gundermann meint: die ökonomische Eigentumsfrage. Wem gehört die Fabrik? Eine Frage, die nach wie vor aktuell ist.

Wir, das Proletariat hier unten, und da oben die Bonzen: Dieser rote Faden zieht sich in der einen oder anderen Weise durch seine Lieder. Da sind die Tagebauer und Eisenbahner, „die haben harte Hände und ein hartes Herz, die streiten ohne Ende und die sterben früh, die suchen ein Vergnügen und finden nur den Schmerz, die können lügen, aber leben könn’ die nie“. Da sind die Arbeiterviertel, wo die Wecker „alle früh um vier klingeln“ und die Kohlekumpel, die ihren Job an den technologischen Fortschritt verlieren, der „die Bagger still in der Heide sterben“ lässt ― und dann „hört das Erdbeben endlich auf“.

Wohl niemand besang den Widerspruch der Leben der einfachen Leute dort, wo auch er selbst „seine Haut zu Markte“ trug, obwohl er eigentlich dafür „keine Zeit mehr“ hatte, so eindrücklich wie er.

In den Plattenbau-Siedlungen „hörte“ er nach der sogenannten Wende „die Wölfe heulen“ und beschrieb die bleierne Schwere in den Gemütern als Wale, die „wie Tränen auf die Strände fallen“. Er besang die gefallenen Kämpfer für Gerechtigkeit, die sich, grauhaarig inzwischen und voll Zorn auf den anderen, ihrem Los trotzdem nicht ergeben und nach dem Motto „alle oder keiner“ zusammenhalten sollten.

Denn irgendwo in seiner Fantasie traf der gestrauchelte Baggerfahrer und spätere Tischlerlehrling „eine Frau mit ’nem Kind an der Hand, und die hatte kein Haus, und die hatte kein Land. Die hatte kein Bett, sich auszuruh’n, kein Dach überm Kopf und schlief in ihren Schuh’n“. Und er „traf einen Mann, der hatte kein’ Job, kein Geld in der Hand, aber ’n Vogel im Kopp“. Die Frau sah er als seine Schwester, und so war auch dieser Mann ohne Job und Geld „mein Bruder und wir sind uns gleich wie ein Ei dem andern, aber der ist noch weich. Und ich bin innen schon hart gekocht, ich kann nicht mehr, aber der will immer noch.“

Gundermann war nicht der berühmte Star, dem 18-Jährige um die Welt hinterher reisten. Er war keiner, der sich vordrängelte. Aber bei seinen Konzerten auf den kleinen Bühnen trafen Punks auf Skinheads und Möchtegernaussteiger auf Spießer ― und trotzdem blieb alles friedlich. Da waren dort alle irgendwie nur Arbeiter, das Proletariat, das wohl oder übel miteinander klar kommen muss, weil es dasselbe Los eint. In den 1990er-Jahren, als Neonazis ganze Dörfer zu „national befreiten Zonen“ erklärten, jeden, der irgendwie nur links wirkte, mit Baseballschlägern vertrieben, manche sogar töteten, war das keineswegs normal.

So ist er auch für ostdeutsche Journalisten und Filmemacher bis heute interessant geblieben, trotz aller Häme für seine Stasi-Tätigkeit in seiner Jugend. Doch obwohl Letzteres im 2018 veröffentlichten Film „Gundermann“ von Andreas Dresen im Vordergrund stand, ist der Streifen alles andere als eine langweilige Darstellung von gut und böse, schwarz und weiß. Der wenig später für den MDR produzierte Film „Gundermann Revier“ beleuchtet wieder andere Seiten des Künstlers mit realen Filmdokumenten aus der Sicht von heute. Ein einziger Beitrag könnte dem Liedermacher wohl nicht gerecht werden.

Dass seine kleine, aber standfeste Fangemeinde vor allem in Ostdeutschland heute noch wächst, liegt nicht nur an nostalgisch vernagelten Ossis, wie zuweilen behauptet wird. Es ist viel eher der bleibenden Aktualität seiner Songs, verbunden mit einer berührenden Nähe zu jedem Schichtarbeiter und jedem Arbeitslosen, geschuldet.

Sein Werk hält für jede politische Lage und persönliche Befindlichkeit etwas bereit.

„Wer oder was legte den Menschen den Krieg in die Wiege“, fragt er in einem seiner Lieder. Er nennt den Feind seinen „Bruder“, zwei Gleiche, die sich für Machtinteressen Dritter gegenseitig „Bomben schicken“. Und am Ende, wenn das Morden vorbei ist, macht einer die Arbeit und der andere lässt sie machen, so Gundermann. „Und da weiß ich wieder, warum, darum Bruder, darum wird Krieg.“

In der Identifikation der „kleinen Leute“ mit den Herrschenden sah Gundermann einen Grund dafür, dass sich Verhältnisse gegen die Interessen der Massen, aber doch mit ihrer Hilfe manifestieren. Er wollte nicht, dass das Volk gehorcht und kriecht. Die Sprache der Herrschenden war nicht seine. Er unterteilte nicht in Punk oder Nazi, sondern in oben und unten. Seine Lieder ― es sind Hunderte ― sind ein Werk für seine Klasse, der er sich zugehörig fühlte: „denen da unten“. So widersprüchlich Gundermann gewesen sein mag: In dieser Haltung war er bis zu seinem frühen Tod vor 25 Jahren stabil. Und das ist mehr, als die meisten von sich behaupten können.


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