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Begegnung mit dem Feind

Begegnung mit dem Feind

Eine Pilgerreise durch Israel und Palästina zeigt, wie Frieden möglich wird. Exklusivabdruck aus „Grace — Pilgerschaft für eine Zukunft ohne Krieg“. Teil 2/3.

Kontrolle der Soldaten

Am nächsten Morgen folgt ein langer Weg durch die typischen Olivenhaine dieser Gegend. Dazwischen führen unsere Organisatoren am laufenden Band viele Telefonate. Immer wollen neue Personen zu uns stoßen oder auch gehen. Sie werden an den Checkpoints festgehalten, nicht rein- oder rausgelassen. Unser Organisationsteam ist bis an die Grenzen gefordert. Ich bin sehr dankbar, dass sie trotz allem nie die spirituelle Frequenz der Pilgerschaft von GRACE vergessen. Das ist wohl eines der tiefsten Geheimnisse für das Gelingen. Möge die Göttin in jedes Telefonat einziehen.

Wir sind unterwegs durch einen Olivenhain. Die Sonne lässt die Welt in einem farblosen Licht erscheinen, das gibt allen Dingen einen Glanz, als wären sie eingetaucht in die Welt der Ewigkeit. Wir sind noch nicht lange unterwegs, da kommt uns ein Jeep mit drei Soldaten entgegen.

Das folgende Erlebnis hat sich mir besonders prägnant ins Gedächtnis eingeschrieben. Es sitzt tief in meiner Seele und wird dort immer wieder auftauchen und mich erinnern an eine elementare Erfahrung.

Ich wurde Zeugin davon, dass Menschen alte Verhaltensmuster instantan ablegen und sich für Neues öffnen können. Dadurch leuchtet eine neue Vision und mögliche Realität in unser Leben hinein.

Die Soldaten wollen uns kontrollieren. Mit kühlen Dienstgesichtern fragen sie uns, warum wir hier entlanglaufen, es sei verboten, die Sicherheitszone zu betreten.

Als wir erzählen, was wir machen, bekommen ihre formalen Dienstgesichter Risse. Etwas ungläubig schauen sie uns an. Sie sind gewohnt, dass immer mal wieder internationale, politisch engagierte Gruppen in der Westbank auftauchen, aber dass wir ernsthaft, im Namen von GRACE, zu Fuß unterwegs sind durch das ganze Land, so etwas ist ihnen noch nie begegnet.

Sie werden immer neugieriger, und das Gespräch nimmt fast menschliche Züge an. Schließlich lassen sie uns weiterlaufen.

Die Göttin und der Granatapfel

Nach einer Weile kommen wir an einen Brunnen. Glücklich zeigt uns Feyez, wie die Bauern in diesen Oasen das Wasser schöpfen. Wir machen Pause im Schatten eines Olivenbaumes. Er ist das Wahrzeichen des Friedens für die palästinensische Welt.

Es ist mir danach, eine Gesprächsrunde einzuleiten, die sich im Angesicht der silbergrauen, farblosen Lichtspiele der Olivenbäume und der gesamten sakralen Frequenz dieses Ortes als würdig erweist und eine lebendige Schau auf ein menschenwürdiges Morgen in allen Beteiligten zu wecken vermag.

Schon lange ist es mir ein Anliegen, eine Runde für die Aussprache einzuleiten, wo die Teilnehmer die Möglichkeit haben, darüber zu sprechen, was sie bewegt. Es gab ja bis jetzt immer noch keine wirkliche Gelegenheit dafür, sich auszusprechen. Was bewegt die jungen Menschen? Was geht in den deutschen Mitpilgernden vor, die ja wissen, wie sehr das Schicksal dieses Landes mit den Nachwehen des Holocaust verbunden ist? Wann werden die Israelis erzählen, wie ihnen zumute ist?

Joel reicht mir einen Granatapfel. Er soll von Hand zu Hand gehen und das Wahrzeichen dafür sein, dass wir uns gegenseitig achten und respektieren und dass wir bereit sind, demjenigen zuzuhören, der den Granatapfel in der Hand hält.

Die Sprechstabrunde oder das sogenannte „Deep Listening“ ist eine der einfachsten Methoden, die ich kenne, aus dem Pingpong der Diskussion auszutreten und sich gegenseitig den Respekt und die Achtsamkeit zu schenken, die es braucht, um sich wirklich zuzuhören in einer Runde von Personen, die sich noch relativ fremd sind.

Ich spreche ein einführendes Gebet und fühle mich an die Göttin mit dem Granatapfel erinnert, was der gesamten Situation ein feierliches Strahlen schenkt. Wie sehr verlangt die Seele nach diesen Momenten, wo sie sich erheben kann über Leid und Schmerz und Ausweglosigkeit, um neue Kraft zu tanken für die Kräfte der Selbstheilung. Einfache schlichte Rituale, die von keiner bestimmten Religion oder Ideologie durchtränkt sind, können einer Gruppe immer helfen, sich zu finden und eine gemeinsame Schwingung aufzubauen. Solch tiefes Zuhören kann Wunder bewirken.

Ich weiß, dass die Herzen aller Beteiligten übervoll sind und dass es höchste Zeit wird, dass sie sprechen können, damit es nicht zu unnötigen Gefühlsausbrüchen kommt.

Besuch der Soldaten und erste Aussprache

Das Leben spielt allerdings meistens etwas anders als erwartet. Wir sind gerade eingestiegen, höchste Spannung, Neugierde und Interesse aneinander spiegeln sich in den Gesichtern aller Beteiligten, da kommt der Jeep mit den gleichen Soldaten vorgefahren, die uns schon vor einer Weile gestoppt hatten.

Ich bin sehr entschieden, diesen Gesprächskreis zu schützen, und gehe entschlossen zum Fenster des Fahrers. Ich erkläre ihnen unsere Situation und dass es sehr wichtig sei, dass wir jetzt nicht gestört werden. Sie fragen, ob sie zuschauen dürfen. „Zuschauen ist schwierig, ihr könnt aber die Gruppe fragen, ob ihr mitmachen dürft”, antworte ich überrascht. Bereitwillig steigen sie aus dem Wagen und bitten um Teilnahme an unserem Kreis.

Einer der Teilnehmenden gibt zu bedenken: „Wie soll man die Wahrheit sagen, wenn Menschen mit Uniform dabei sitzen. Sie vertreten ja genau das, was wir überwinden wollen.“ „Lasst uns beschließen, hinter der Uniform den Menschen zu sehen“, schlage ich vor. Die Gruppe willigt ein. Die Soldaten lassen sich nieder.

Jetzt wandert der Granatapfel von Hand zu Hand, und die Einzelnen beginnen, bewegt zu erzählen, was sich in ihren Herzen regt, seit sie die Westbank betreten haben. Israelis drücken ihre Ängste aus, die sie durchgemacht haben, seit sie auf dieser Seite der Mauer sind, aber auch ihre tiefe Berührtheit von der palästinensischen Gastfreundschaft, die sie erfahren haben. Einige haben schon so viel gesehen und erlebt, dass sie sich einen Tag Pause wünschen.

Viele geben in die Runde, dass sie sich noch nie vom Elend dieser Welt so haben berühren lassen. Neben dem Schmerz fühlen sie einen Kraftzuwachs und eine neue Verantwortung. Manche reichen den Apfel einfach weiter, ohne zu sprechen. Nach einer Weile des Schweigens durchbricht einer der Soldaten seine innere Grenze, mit der er offensichtlich für einige Zeit gerungen hatte. Er wusste nicht, was er von uns halten sollte.

„Soll ich hier wirklich einsteigen? Was denken die von mir? Sie werden mich verschmähen, weil ich Soldat bin. Sie machen mit den Palästinensern gemeinsame Sache, damit die antijüdische Front Verstärkung bekommt.“

Solche oder ähnliche Gedanken sind auf seinem Gesicht zu lesen. Aber jetzt ist der Augenblick gekommen, er durchbricht das innere Tabu, nimmt den Apfel und beginnt von seiner Situation zu erzählen.

„Ich tue meinen Dienst nicht gern. Ich denke auch nicht, dass die Palästinenser unsere Feinde sind. Aber solange die Terrorakte geschehen, müssen wir unser Volk schützen. Ich versuche, mich hier freundlich zu verhalten. Manchmal gebe ich sogar den Kindern etwas zu essen. Aber ich habe es erlebt, dass sie kurz danach Steine nach mir geworfen haben. Warum werfen die Kinder Steine nach mir, nachdem ich ihnen zu essen gegeben habe?“, beendet er seine etwas unsicher suchenden Worte.

Bereitschaft zur Versöhnung

Anschließend wandert der Apfel wieder durch den Kreis, niemand spricht für eine ganze Weile. Jetzt nimmt Feyez den Apfel. Er rollt ihn in seinen Händen hin und her, sichtlich nach Worten ringend. Seine Augen leuchten so mächtig, als könne man die ganze Geschichte dieses Landes darin lesen.

Feyez, ein palästinensischer Mann mit einer eigenen Geschichte, dazu angehalten, keine Gefühlsregungen zu zeigen, Marxist, Widerstandskämpfer der palästinensischen Bewegung „Stop the occupation“, ist offensichtlich sehr berührt. Seine Gesichtsmuskeln beben.

Vermutlich ist es für ihn das erste Mal in seiner Lebensgeschichte, dass er in einem so spirituell anmutenden Kreis sitzt und sich in aller Ruhe, ohne Unterbrechung, die Sichtweise anderer anhört, dazu noch in Gegenwart israelischer Soldaten in Uniform. Einige seiner Genossen würden ihn vielleicht als Kollaborateur verurteilen und verschmähen, wenn sie ihn in diesem Kreis sehen würden. Aber Feyez ist zu sehr ein Wahrheitssucher, als dass er sich durch solche Gedanken von seiner unbeirrbaren Suche nach einer Lösung abhalten lassen würde. Er schaut unverwandt zu den jungen Soldaten. Die Runde ist absolut still, jeder hängt erwartungsvoll an seinen Lippen. Langsam und eindringlich beginnt er, zu den Soldaten zu sprechen.

Sehr gründlich erklärt er, warum die Kinder Steine werfen. Er bemüht sich, beherrscht zu sprechen, aber dann sieht man, wie eine Gefühlswelle ihn einholt. Er bricht in Tränen aus und ringt um jedes Wort.

„Hört zu, ihr seid jung, ihr habt noch keine Frau und keine Kinder. Aber ich bin sicher, dass eure Mütter und Väter das Gleiche fühlen, wie ich es fühle, wenn meine Söhne oder meine Tochter das Haus verlassen. Sie beginnen, mit der Hamas zu sympathisieren, weil sie etwas tun wollen für ihr Land. Könnt ihr euch vorstellen, wie mir zumute ist, wenn ich das mit ansehen muss? Könnt ihr euch vorstellen, wie wir fühlen? Vor Generationen lebten wir hier friedlich nebeneinander. Warum das alles? Und schon so lang? Wir könnten doch langsam begreifen, dass es so nicht weitergeht, dass dieses ewige Morden auf diese Weise kein Ende hat. Warum machen wir nicht endlich Schluss? Wir könnten es einfach beenden, just now.“

Seine Worte wirken stark und eindringlich. Fast die ganze Gruppe lässt jetzt den Tränen einfach ihren Lauf. Man ist still geworden. Es könnte so einfach sein. Und doch scheint der Ausweg so unerreichbar. Dazwischen steht die Mauer, eine Mauer von Urteilen und Vorurteilen, eine Mauer, die gebaut wurde aus unzähligen Verletztheiten, eine Mauer aus Weltanschauung, Religion und Ideologie, eine Mauer von politischen Parolen und Reglementierungen.

Eine Mauer, durch die alles Menschliche, Schöne und Wahre in die privaten Nischen verdrängt wurde. Nur manchmal verschafft ein Riss eine kleine Öffnung, wirft Licht auf alle, die in seiner Nähe verweilen, und lässt das große Leuchten hervortreten. Es ist ein Riss, der die Bereitschaft zur Versöhnung mit sich bringt, die Bereitschaft zu einem absoluten Neuanfang.

Auf dem Weg weiter durch die Dörfer, zwischen laut hupenden Autos und vielen winkenden Palästinensern, erzählt mir Michal von ihren Gefühlen. „Ich sehe, du hast dich schon arrangiert hier. Du hältst das Hupen für eine freundliche Geste. Ich zucke jedes Mal zusammen“, sagt sie. Sie, die sehr mutig in der Friedensarbeit ist, drückt jetzt ihre vielen Fragen und Zweifel aus. „Wo liegt der Weg? Wenn wir von den Arabern als schwach eingeschätzt werden, werden sie uns vertreiben, und wir haben wieder die Situation, dass es keinen Ort für uns auf der Erde gibt.“

Sie versucht zu beschreiben, wie die Siedler fühlen, aber in allem was sie sagt, höre ich auch ihre eigene tiefe Suche nach einer neuen Identität. „Wir brauchen tiefe Heilung“, sagt sie in stillem Ernst.

Wir erreichen Tulkarem und kommen in einen Versammlungsort einer palästinensischen Behörde. In der Stadt sehen wir wieder überall die Plakate und Fahnen der Hamas. Michal sinkt in Ohnmacht. Es ist alles zusammen, die Angst, die Sonne, die vielen neuen Eindrücke.

Als ich zu ihr komme, lacht sie schon wieder.

Arabische Festnacht

Am Abend sind wir untergebracht in der Herberge von Feyez etwas außerhalb von Tulkarem. Er hat ein großes Fest vorbereitet. Schon jetzt, nach diesem einen Tag gemeinsamen Erlebens, empfinden wir Feyez als nahen Freund. Er ist in seinem Dorf „Vater“ eines riesigen Familienclans. Ursprünglich war er einmal ein reicher Mann. Zwischen unseren Jugendlichen und seinen Kindern kommt es zu bewegenden Kontakten. Seine 18-jährige Tochter hat einigen Frauen sehr überzeugend von ihrer Verzweiflung erzählt.

Sie will unbedingt etwas tun, um das Unrecht zu beenden, das ihrem Vater und ihrem ganzen Volk angetan wird, sieht aber keine Möglichkeit. Ursprünglich wollte sie Journalistin werden, aber dazu gibt es hier keine Ausbildung. Jetzt trägt sie das Bild des Hamas-Gründers an einer Kette um den Hals. Immer vertrauter wird das Gespräch zwischen unseren Frauen und ihr. Als sie von Tamera hört, einer Ausbildungsstätte für den Frieden, ist sie aus dem Häuschen. Ganz neue Perspektiven tun sich für sie auf. Sie blüht auf im Gespräch und fragt, ob sie uns besuchen dürfe. Auf einmal öffnete sich eine neue Lebensperspektive für sie.

Wir fühlen die große Verantwortung und Möglichkeit, die in unserer Arbeit liegt. Mögen wir die Kraft und auch die nötigen Gelder bekommen, damit das begonnene Werk bald von vielen in viel größerem Maßstab verwirklicht werden kann. Auf dass die Jugend dieser Welt wieder eine Chance bekommt.

Ich sehne mich nach Schlaf. Doch je später der Abend wird, desto munterer werden alle. Immer mehr Tanzgruppen werden vorgeführt. Feyez offenbart sich als geschulter Tänzer und Lehrer einer Jugendgruppe. Ein Tanz nach dem anderen wird vorgeführt, und schließlich werden auch unsere Leute in den typisch arabischen Tanz verführt. Ein echtes Fest der Begegnung. Draußen vor dem Tor gibt es noch ein bewegendes Treffen zwischen unserer Jugend und der Jugend des Dorfes. Viele unserer jungen Männer gehen mit den palästinensischen jungen Männern nach Hause.

Ich bekomme eine kleine „Suite“ angeboten für die Nacht. Das erste Mal seit Langem finde ich erholsamen Schlaf. Ich trinke ihn in großen Zügen.

Trotz all der Unruhen und Ängste fühle ich mich geschützt und geführt. Ich bin dankbar, dass die Ruhe bei mir bleibt. Bei all den Ängsten, Widerständen, Hoffnungen, Herzöffnungen, Ohnmächten, gebrochenem Arm und schwierigen Polizeikontrollen ist unser Schiff gut auf Kurs und segelt einem höheren Ziel entgegen.



Hier können Sie das Buch bestellen: Verlag Meiga.


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