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Beobachtungsfall Verfassungsschutz

Beobachtungsfall Verfassungsschutz

Mithilfe des schwammigen Begriffs „freiheitliche demokratische Grundordnung“ können Herrschende beliebig gegen oppositionelle Kräfte vorgehen, die ihnen nicht passen.

Zweifel sind berechtigt, wenn es um die demokratische Basis des Dienstes geht. Rolf Gössner, der über Jahrzehnte widerrechtlich vom VS beobachtet wurde, spricht von „Lizenz zur Gesinnungskontrolle“ und von „Definitionsmacht“ des BRD-Inlandsgeheimdienstes, der seit seinen Anfängen als Bollwerk gegen Kommunisten und zur Absicherung der Wiederbewaffnung und der Westintegration installiert wurde. Dieser Intention entsprechend sorgte der Nazi Hubert Schrübbers als VS-Präsident von 1955 bis 1972 dafür, dass das Amt von zahlreichen alten Kameraden aus Zeiten des Faschismus geprägt wurde. Und auch der letzte VS-Präsident, Hans-Georg Maaßen, bekleidete den Posten bekanntlich nicht als vorbildlicher Demokrat, sondern als Sympathisant und Förderer rechtsextremer Gruppen.

Die Liste krimineller Aktionen und unaufgeklärter Machenschaften des VS ist lang. Einige Beispiele zur Erinnerung: Sprengstoffanschlag auf ein Gefängnis, um die Tat Linksextremisten in die Schuhe schieben zu können („Celler Loch“), Aktenschreddern aller Unterlagen, die die VS-Beteiligung an Verbrechen belegen könnten, intime Verbindung mit Terroristen des NSU über V-Leute und Mord an Halit Yozgat in Anwesenheit eines Verfassungsschützers. Wie soll man einer solchen Organisation mit Vergangenheit und mit krimineller Energie vertrauen können?

Aktuell klagt die linke Tageszeitung junge Welt (jW) dagegen, der Beobachtung des VS ausgesetzt zu sein und seit 1998 im Verfassungsschutzbericht aufgeführt zu werden. Sie gilt dem Geheimdienst als „Personenzusammenschluss“ mit extremistischen Bestrebungen zum Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man beachte die Wortwahl: Zeitung, Verlag und Genossenschaft werden als „Personenzusammenschluss“ bezeichnet, um nicht der Verletzung des Grundrechts der Pressefreiheit bezichtigt werden zu können.

In aller Klarheit gab die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zu, der marxistischen Tageszeitung wirtschaftlich schaden zu wollen. Die jW beschreibt die Folgeprobleme beim Anmieten von Werbeflächen, bei der Ausstrahlung von Werbespots oder bei der Behinderung redaktioneller Arbeit. Ziel erreicht, könnte die Bundesregierung verkünden, denn die „Wirkmächtigkeit“ der Zeitung soll ja eingeschränkt werden — egal, was das Grundgesetz dazu sagt. Gerade deshalb wird ja die linke Tageszeitung im VS-Bericht immer wieder aufgeführt, um „verfassungsfeindliche(n) Bestrebungen (…) den weiteren Nährboden entziehen zu können“.

Dass kritischen Medien und Organisationen wie Attac, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) oder den NachDenkSeiten durch wirtschaftlichen Druck der Nährboden entzogen werden soll, ist bekannt. Besonders klar formuliert die Bundesregierung im Fall junge Welt, dass diese durch Themenauswahl und Intensität der Berichterstattung, die auf Darstellung linker und „linksextremistischer“ Politikvorstellungen ziele, eine „Gegenöffentlichkeit“ schaffen wolle.

Heißt das im Umkehrschluss, dass nur die regierungsamtliche Sicht in Medien verbreitet werden darf? Dass große, meinungsprägende Zeitungen dieser Linie in freiwilliger Selbstgleichschaltung folgen, muss hier nicht erörtert werden.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Begründung der Bundesregierung, warum die marxistische Sicht auf die Klassenstruktur der Gesellschaft gegen das Grundgesetz verstoße:

„Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ‚bloßen Objekt‘ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der Einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“

Hier werden in offensichtlicher Verkehrung nicht die faktisch bestehende Klassengesellschaft und die Behandlung des Menschen als Objekt, als Kostenfaktor oder Kunde als Verletzung der Menschenwürde bezeichnet, sondern die Kritik an diesen Verhältnissen und die Absicht, sie zu ändern. Dass Menschen in der Arbeitswelt oder im System der globalen Ausbeutung ihrer Würde durch Armut, krasse soziale Ungleichheit und durchaus auch ihrer Gesundheit und ihres Lebens beraubt werden, ist der Bundesregierung anscheinend kein Problem; gegen das Grundgesetz verstoßen nach ihr die Person oder die Zeitung, die diese Verhältnisse anprangert und sie ändern will. Merke: Du bist ein Verfassungsfeind, wenn du Kritik daran äußerst, dass das Grundgesetz nicht verwirklicht wird.

Der Verfassungsschutz bemüht sich nach Kräften, die Illusion einer funktionierenden Demokratie zu konstruieren und aufrechtzuerhalten, die nur von Feinden von außen und innen bedroht wird. Je deutlicher die Kluft zwischen staatlichem Narrativ und den alltäglichen Erfahrungen voller Krisen und Kriege spürbar wird, umso mehr verlegt sich der Geheimdienst auf den Kampf gegen „Desinformation“.

Die FAZ meldete im Mai letzten Jahres, dass der aktuelle Präsident des VS, Thomas Haldenwang, die Demokratie in Deutschland durch russische Einflussnahme in Gefahr sehe: „Über alle Ebenen hinweg ist Russland da aktiv und verbreitet seine Desinformation, Propaganda und Narrative.“ Haldenwangs Beispiel: die Erzählung, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine auch deshalb führe, weil seine Sicherheitsinteressen durch den Westen verletzt worden seien. Hier werden vielfach belegte historische Fakten als russische Desinformation bezeichnet — und zwar nicht von irgendeinem verblendeten Ignoranten, sondern vom Präsidenten des VS — was sich anscheinend nicht widerspricht.

Logische Folge einer solchen systematischen Verdrehung der Realität ist dann die neue Extremismus-Kategorie „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Diese Begriffsschöpfung ist eines autoritären Staates würdig. Beliebig interpretierbare Worthülsen liefern den Grund dafür, als Verfassungsfeind gebrandmarkt zu werden. Ein Insider warnte kürzlich als Whistleblower, dass der VS den Rechtsstaat aushöhlt; der Geheimdienst geht gegen ihn rechtlich vor. Der Verfassungsschützer, der diese Bezeichnung anscheinend ernst nimmt, sagte, diese neue Kategorie schaffe es „durch eine Umdeutung und Pervertierung der Sprache“, Menschen zum Verdachtsfall zu machen. „Was gestern legale Kritik war, kann heute ein Grund sein, ins Visier des Verfassungsschutzes zu geraten“ („Plötzlich Staatsfeind: Verfassungsschutz nimmt Whistleblower ins Visier“, schwaebische.de, 3. Juni 2024).

Man könnte den Verdacht hegen, der Staat arbeite an der eigenen Delegitimation, durch wachsende Armut und soziale Ungleichheit, durch Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, Militarisierung und weit über Verteidigung hinausgehende Kriegseinsätze.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte Amnesty International einen „Report Deutschland 2023“. Er sollte uns und dem Staat zu denken geben. Die Menschenrechtsorganisation sieht die Versammlungsfreiheit in Deutschland durch pauschale Versammlungsverbote, Präventivhaft und gewaltsame Polizeitaktik eingeschränkt. Behörden wendeten zunehmend unrechtmäßig Gewalt an und erließen repressive Gesetze, um Proteste niederzuschlagen, Aktivisten seien für bis zu 30 Tage in Präventivhaft gehalten worden. Ein restriktives Versammlungsgesetz greife unverhältnismäßig weit ins Versammlungsrecht ein und könnte Menschen davon abschrecken zu demonstrieren. Proteste in Solidarität mit den Rechten von PalästinenserInnen seien präventiv verboten worden.

Der Schutz der Grundrechte gegen staatliche Eingriffe und die Verwirklichung der Demokratie, wonach alle staatliche Gewalt vom Volke auszugehen hat, können nicht dem Geheimdienst überlassen werden.


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