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Betrieb zum Nulltarif

Betrieb zum Nulltarif

ROW, der größte Brillenhersteller Europas, wurde 1990 von Bundesregierung und Treuhand zerlegt und ausgeweidet.

Meist haben Pressesprecher schöne Gründe, wenn sie die Medien einladen. Doch Randolph Götze war im Januar 1991 kein angenehmer Grund vergönnt. Der Pressesprecher der Rathenower Optischen Werke (ROW) musste die große Medienkonferenz organisieren, auf der die von der Treuhand angeordnete Entlassung von 1.200 ROW-Mitarbeitern bekanntgegeben wurde. Mit der Veranstaltung sollte sogar noch Hoffnung verbreitet werden. „So etwas kriegt man nicht aus dem Kopf“, sagt Götze heute, 28 Jahre später. „Das war und bleibt eine frustrierende Sache.“

Jemand habe ihn danach für die Organisation gelobt und gesagt, es sei eine gelungene Veranstaltung gewesen, erinnert sich Götze. Organisatorisch vielleicht. Aber menschlich? „Das war alles andere als gelungen.“

Es war der 24. Januar 1991 und die Massenentlassung war der Anfang des Schlusskapitels der ROW. Die Hoffnung wurde aufrechterhalten, doch eine zweite Kündigungswelle folgte. Laut Treuhandkonzept sollten von den rund 4.800 Menschen, die in dem Betrieb insgesamt arbeiteten, nur 560 bleiben. Das Werk sollte aufgespalten und privatisiert werden. Und so kam es auch. Die Geschichte der ROW nach der Wende ist eine Geschichte, wie sie in der ostdeutschen Wirtschaft, so oder so ähnlich, tausendfach ablief.

Wiege der optischen Industrie

Rathenow wird als „Wiege der optischen Industrie“ bezeichnet. Rückblende: In der Kleinstadt westlich von Berlin tüftelte der Pastor Johann Heinrich August Duncker Ende des 18. Jahrhunderts an der Produktion augenoptischer Geräte. Er baute selbst Mikroskope und Brillen, schließlich erfand er eine revolutionäre Vielschleifmaschine (1), die gleichmäßig geschliffene Gläser etwa für Lupen, Ferngläser und Brillen lieferte und relativ leicht durch Drehen einer Handkurbel zu bedienen war.

Tatsächlich war er es, der erstmals Brillen produzierte, die Menschen mit Sehproblemen wirklich halfen. Die Brillen, die es bis dahin in den deutschen Ländern gab, waren Billigprodukte von äußerst miserabler Qualität. Duncker gründete eine optische Industrie-Anstalt — die erste in Preußen —, um die herum in den folgenden 150 Jahren in Rathenow eine differenzierte augenoptische Industrie mit hunderten kleinen und mittleren Firmen entstand.

Europas größte Brillenfabrik

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die größeren Optikfirmen in der schwer zerstörten Stadt an der Havel nach und nach enteignet und ab 1948 im Volkseigenen Betrieb (VEB) Rathenower Optische Werke zusammengefasst. Die kleineren Firmen schlossen sich zu einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) zusammen. Der VEB wuchs immer weiter an und wurde 1966 dem Kombinat Carl Zeiss Jena unterstellt. Jena stellte die eigene Brillenproduktion ein, womit sich die ROW zum einzigen Brillenproduzenten in der DDR und zum Hauptversorger mit Sehhilfen für den gesamten Ostblock entwickelten.

1988 produzierte der Betrieb mit seinen verschiedenen Fertigungsstandorten in Rathenow 7,8 Millionen Brillengläser und 5,1 Millionen Fassungen. Gebaut wurden in den ROW aber noch viele andere optische Produkte wie Mikroskope, Ferngläser, Kinoprojektoren oder Schleif- und Poliermaschinen für Optiker. Auch die bekannte Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz wurde 1969 in Rathenow geplant und gebaut.

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Bild 1: ROW-Produktionsgebäude in der Nachwendezeit 1992. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

Besonders groß war die Vielfalt der Brillenmodelle verglichen mit westlichen Verhältnissen in den 1980er Jahren nicht. „Wir hatten keine Chance auf modische und medizinische Aspekte Rücksicht zu nehmen“, erinnert sich Randolph Götze. Dies habe für Konfliktpotenzial zwischen den ROW und der Kombinatsleitung in Jena gesorgt. Dort ging es nur um Stückzahlen. Kombinatsdirektor Wolfgang Biermann habe den Spruch geprägt: „Jedem eine Brille — aber nicht jedem seine Brille.“

Überlebenskampf statt Charme-Offensive

Den Kundenärger bekamen jedoch nicht Biermann und Jena ab, sondern die ROW. Hier musste Direktor Albrecht Todte eine Mitarbeiterin abstellen, die sich ausschließlich mit der Bearbeitung von Eingaben — also Kundenbeschwerden — beschäftigte. Eigens um den ROW in der Bevölkerung ein besseres Image zu verpassen, wurde Randolph Götze im September 1989 als Pressesprecher eingestellt. Doch seine Aufgabendefinition änderte sich sehr schnell. Statt um Charme-Offensive ging es bald um wirtschaftlichen Überlebenskampf.

Die äußerst turbulente Wendezeit brach über die ROW herein. Ein sozialistisches Ehrenbanner, das der Betrieb noch am 7. Oktober zum 40. Jahrestag der DDR erhielt, musste Götze schon vier Wochen später ins Rathenower Museum tragen. „Was sich in dieser kurzen Zeit alles gedreht hat, war irre.“

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Bild 2: Der frühere ROW-Pressesprecher Randolph Götze erläutert im Optik Industrie Museum in Rathenow verschiedene ROW-Brillenmodelle der 1970er und 80er Jahre. Foto: Stefan Korinth

1990 versuchte die Betriebsleitung eine Menge, um bei Brillen den Anschluss an den westlichen Standard zu schaffen, betont der heute 66-Jährige. Um die Qualität zu verbessern, hatte die Betriebsleitung bereits in den letzten Jahren der DDR für 35 Millionen D-Mark in moderne Produktionstechnik aus dem Westen investiert — dazu gleich mehr.

Eine neue Kollektion in Windeseile geschaffen

Die Betriebsleitung hatte bereits im Wendeherbst erkannt, dass nun sehr schnell Veränderungen nötig sein werden. Mit Managementkursen durch westdeutsche Anbieter wurden die ROW-Verantwortlichen an Wochenenden geschult. In Windeseile stampfte das Werk mit „Concept 90“ ein völlig neues Angebot aus dem Boden. Im Frühling 1990 präsentierten Götze und Kollegen die neue Kollektion bei verschiedenen Veranstaltungen, darunter der Leipziger Fachmesse — da schaute sogar SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine am Stand vorbei.

„Die Präsentation war gut, die Produkte wettbewerbsfähig, die Gäste beeindruckt“, erinnert sich Götze. Es gab viele Liefervertragsabschlüsse vor allem mit osteuropäischen Abnehmern. Doch plötzlich traten zwei schier unlösbare Probleme für die nun als GmbH firmierenden ROW auf den Plan. Die Einführung der D-Mark in der noch existierenden DDR am 1. Juli 1990 und die Ablehnung der ROW-Produkte durch ostdeutsche Optiker. Ersteres ließ den bisherigen osteuropäischen Absatzmarkt für ROW-Brillen einbrechen, Letzteres den bisherigen Absatzmarkt in der DDR.

Die gescheiterte Kollektion

Günter Schwolow war 27 Jahre bei den ROW beschäftigt. Von seiner Berufsausbildung zum Werkzeugmacher ab 1964 über sein Studium der Werkzeugtechnik in Jena und Rathenow arbeitete sich der Ingenieur bis zum Abteilungsleiter Brillenfassungen hoch. „Die Wende war eine ganz schwierige Phase, in der wir schnell lernen mussten, bedarfsgerecht zu produzieren und offensiv zu verkaufen“, erläutert der heute 71-Jährige.

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Bild 3: Günter Schwolow, einst ROW-Abteilungsleiter für Brillenfassungen, zeigt auf Lupenbrillen, die in seiner Firma Obrira produziert werden. Das kleine Unternehmen wird heute von seinem Sohn geführt. Foto: Stefan Korinth

1990 seien den ROW-Verantwortlichen durch die Treuhand westdeutsche Manager an die Seite gestellt worden, um den Rathenowern bei Entwicklung und Vertrieb wettbewerbsfähiger Produkte zu helfen. Schwolow arbeitete eng mit einem Manager der Holsten-Brauerei aus Hamburg zusammen. Der hatte zwar keine Ahnung von Augenoptik, aber er engagierte sich für das Überleben des Betriebs.

In Zusammenarbeit mit einem Brillen-Designer entwickelten die ROW 1990 eine neue Brillenkollektion. Schwolow fuhr nach Italien, kaufte dort die nötigen Bauteile in großen Stückzahlen ein und ließ sie galvanisch und farblich entsprechend bearbeiten. Mit zehntausend Brillen im Kofferraum fuhr er zurück. Der Zusammenbau erfolgte bei den ROW. „Wir haben in sehr kurzer Zeit eine moderne, anspruchsvolle Kollektion erstellt“, erinnert sich der Rathenower.

Ost-Optiker wollten nur West-Brillen

Doch dann kam der Knackpunkt. Schwolow, sein westdeutscher Kollege und andere fuhren die Brillengeschäfte quer durch Ostdeutschland an, um den Optikern dort die neue Kollektion anzubieten. Doch sie erlebten eine Abfuhr nach der anderen.

„Ihr habt uns 40 Jahre lang verarscht. Bleibt uns weg mit ROW. Wir nehmen die Brillen aus dem Westen.“

Das waren zugespitzt die Reaktionen der erhofften ostdeutschen Abnehmer. „Die meisten von denen haben uns nicht mal reingelassen“, sagt Schwolow. „Die wollten Westware. Wir waren chancenlos.“

Sobald die deutsch-deutsche Grenze im November 1989 offen war, waren westdeutsche Vertreter großer Marken zu ostdeutschen Augenoptikern geströmt. Sie konnten dort mit ihren Waren protzen. Teilweise boten sie den Optikern an, sie könnten die Ware sofort übernehmen, müssten aber erst nach der Währungsunion zahlen, erklärt Randolph Götze. Diese hätten begeistert zugegriffen. So seien die Vertreter auch viele Brillen losgeworden, die im Westen Ladenhüter waren.

Moderne Technik rettet den Betrieb nicht

Die ROW hatten in den 1980er Jahren hunderte Millionen DDR-Mark in westliche Produktionstechnik investiert. Am Rathenower Stadthof wurde 1984 ein neues Gebäude zur Rezeptglasfertigung fertiggestellt, in dem moderne Schleifautomaten aus dem Westen benutzt wurden. Die ROW kauften neue programmierbare Fräsmaschinen aus der BRD und vom damaligen Weltmarktführer Italien. Die Maschinen ermöglichten neue Designs. Aus Pforzheim, dem Zentrum der westdeutschen Brillenfertigung, wurde ein Ränderwickelautomat eingekauft.

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Bild 4: Neue Brillenglas-Randschleifmaschinen im ROW-Fräszentrum 1992. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

In der ROW-Zweigstelle Osterburg bei Stendal wurde im Oktober 1989 eine neue Fertigungshalle mit einer Großanlage für gespritzte Brillenfassungen übergeben. Noch im Frühling 1990 konnte in einem ganz neu errichteten Gebäude am Rathenower Standort Hasenweg eine Kunststofflinsenfertigung in Betrieb gehen. Die Technik darin kam aus Frankreich. Das war die größte Investition in der Geschichte der ROW, sagt Günter Schwolow.

Doch die neue Technik rettete den Betrieb nicht. „Das waren alles punktuelle Lösungen, um wettbewerbsfähiger zu werden“, ergänzt er. Aber in anderen Bereichen wären noch enorme Investitionen nötig gewesen. Und die Abnehmer fehlten ja sowieso.

Devisenbringer Mikroskope

Viele Abnehmer im Westen hatte der Rathenower Betrieb noch zu DDR-Zeiten für seine Mikroskope. Ralf-Peter Lautenschläger kann viel darüber erzählen — er war ab 1983 in der ROW-Entwicklungsabteilung für wissenschaftlichen Gerätebau tätig. Auch er hatte zuvor seine Werkzeugmacherausbildung in Rathenow gemacht und anschließend in Jena Feinwerktechnik studiert. Die ROW-Mikroskope gingen — unter einem anderen Namen — über den Exportvertrieb von Carl Zeiss Jena in die Bundesrepublik, in die Niederlande, aber auch nach Australien und Afrika.

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Bild 5: Mikroskopfachmann Ralf-Peter Lautenschläger blättert im Archiv des Optik Industrie Museums in Rathenow durch Zeitungsartikel aus der Wendezeit. Foto: Stefan Korinth

„Unsere Produkte waren von internationaler Qualität und gut am Weltmarkt positioniert, weil Zeiss-West sie gar nicht im Angebot hatte“, erläutert Lautenschläger (2). Labor- und Stereomikroskope der ROW waren gute Devisenbringer. Pro eingesetzter DDR-Mark brachten sie einen Erlös von 48 Pfennig-West. Also etwa 2:1. Das war gut, auch wenn die Mikroskope nicht an die begehrten Teleskope aus Jena herankamen — die brachten pro DDR-Mark sogar sieben D-Mark ein. Der Umsatz allein des wissenschaftlichen Gerätebaus in den ROW lag Ende der 1980er Jahre bei 64 Millionen DDR-Mark pro Jahr.

Bruderbetrieb in Jena wird zum Konkurrenten

Doch auch für diese ROW-Sparte war die Wendezeit eine knüppelharte Phase. Denn die Währungsunion schlug hier ebenso ins Kontor. Kontrollmikroskope, die ein niederländischer Subunternehmer etwa für Phillips einkaufte, waren plötzlich mehr als doppelt so teuer. Zudem wurde der große Bruder in Jena, der ebenfalls Mikroskope fertigte, nun plötzlich zum Konkurrenten für den Rathenower wissenschaftlichen Gerätebau.

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Bild 6: Mitarbeiter justieren im Jahr 1992 Polarisationsmikroskope. Das Foto entstand in den Räumen des wissenschaftlichen Gerätebaus der ROW, der zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem Firmennamen „Askania“ abgespalten worden war. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

Ein schon zugesagter Rathenower Export von 300 Mikroskopen in die USA scheiterte beispielsweise, weil Jena die gleichen Mikroskope im Lager hatte und sie plötzlich verbilligt anbot. Hinzu kam: Da Jena die Namensrechte an den Mikroskopen besaß, mussten alle ROW-Geräte schnell und kreativ umbenannt werden. Und weil die Begriffe ROW oder Rathenow beim bisherigen DDR-Export über Jena immer geändert wurden, war die Marke im Westen praktisch unbekannt. Die Havelstädter mussten sich erst einmal mühsam internationale Bekanntheit verschaffen.

Objektive mit dem Hammer zerschlagen

Lautenschläger, der damals viel in Jena unterwegs war, sah, wie in der Nachwendezeit unzählige aus Rathenow gelieferte Objektive mit dem Hammer zerdroschen wurden. Man konnte diese bei Carl Zeiss nicht mehr gebrauchen. Einiges konnte er vor der Vernichtung retten.

„Als Rathenower geht man da wie in Trance durch. Unsere Arbeitsleistung flog in die Container. Das hat mich auch emotional getroffen.“

Die Rathenower Optischen Werke haben in der Wendezeit alles versucht, sie hätten wenig besser machen können, sagt Ralf-Peter Lautenschläger. Die äußeren Bedingungen seien unwirtlich und nun mal nicht zu beeinflussen gewesen. Einen zu großen Betrieb zu verkleinern, sei sehr schwierig. Zum Überleben, das heißt zur weiteren Modernisierung, zum Arbeitsplatzerhalt und zum Aufbau internationaler Vertriebskontakte wären große Summen von außen nötig gewesen.

Man hätte die ROW gleich schließen und ein ganz neues Produktionszentrum bauen können. Die Fachkräfte waren ja da. Hinter vorgehaltener Hand habe ihm ein von der Treuhand beauftragter Wirtschaftsberater das damals gesagt. Doch trotz besseren Wissens seien diese Berater damals mehr an ihrem Anteil an staatlichen Liquiditätssicherungskrediten interessiert gewesen, sagt Lautenschläger. Und die gab es nur, wenn alles so weiter lief.

Treuhand fehlte der Wille zum Erhalt

Und was tat nun die Treuhand? Ihre Rolle bei der folgenden Abwicklung der ROW ist bis heute nicht untersucht, sagen alle Gesprächspartner unisono. Während die Betriebsleitung versuchte, das Werk als Ganzes zu erhalten, beschloss die Treuhand, die bis dahin Eigentümer der ROW GmbH war, im November 1991 deren Aufspaltung und Privatisierung. „Der entsprechende politische Wille zum Erhalt fehlte“, schreibt die Historikerin Bettina Götze im neuen Buch „Rathenow — Wiege der optischen Industrie“.

„Das Ende für dieses große Unternehmen bedeutete in der Folge den Verlust von tausenden Arbeitsplätzen. Einige Produktionsstätten wurden verkauft. Die neuen Eigentümer übernahmen jedoch nur einen Bruchteil der Arbeitskräfte oder setzten auf andere Produktionsprofile.“

Tausende Arbeitslose in kurzer Zeit

Zum Jahresbeginn 1992 waren noch knapp 600 vorherige ROW-Beschäftigte in privatisierten Nachfolgeunternehmen angestellt — nur noch zwölf Prozent der Menschen, die zum Zeitpunkt der Maueröffnung rund zwei Jahre zuvor dort als Mitarbeiter tätig waren. „Übertragen Sie das mal auf VW in Wolfsburg oder andere große westdeutsche Betriebe“, sagt Randolph Götze. „Dann können Sie sich vorstellen, was das bedeutet. “

Neben den Entlassungen im augenoptischen Kernbereich und in der Verwaltung traf es auch die Mitarbeiter anderer ROW-Abteilungen wie die des Rechenzentrums, der Tischlerei, der Gießerei, der Kitas, der Kantine, der beiden Bibliotheken im ROW oder der Ferieneinrichtungen.

Da auch der zweite große Arbeitgeber der Region, das Chemiefaserwerk in der kleinen Nachbarstadt Premnitz, dichtmachte, stieg die Arbeitslosenquote in Rathenow damals auf über 30 Prozent. Viele Betroffene wurden in Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Vorruhestand geschickt und tauchten in dieser Statistik gar nicht auf. Die hohe offizielle Arbeitslosenzahl drückt also noch gar nicht ausreichend die damalige Perspektivlosigkeit in der Stadt aus.

Für die Jüngeren und die besten ROW-Leute gab es durchaus gute Möglichkeiten. Ihr Wissens- und Ausbildungsniveau war auch in der westdeutschen Augenoptikindustrie gefragt. Viele gingen nach Pforzheim in die dortige Brillenfertigung. Der Westen profitierte.

Persönliche Dramen im Betrieb

Günter Schwolow ist überzeugt, dass es für die in der neuen Situation ab 1990 überdimensionierten ROW keinen wirtschaftlichen Überlebensspielraum gab. Zu DDR-Zeiten habe das Werk jede Schraube, jedes Scharnier, jeden Stift selbst hergestellt. Das sei in einem modernen Betrieb überflüssig, die ROW seien in der damaligen Größe nicht zu erhalten gewesen. „Aber die Treuhand hat auch kein Interesse gezeigt, hier zu retten oder zumindest gewinnbringend zu verkaufen“, ergänzt er.

Hochwertige Werkbänke wurden damals zur Entsorgung aus dem vierten Stock geworfen. „Das war grausam.“ Aus seiner Abteilung Brillenfassungen mussten 1991 nach Treuhandvorgaben rund 800 Leute gehen. Schwolow hat nahezu jedem einzelnen Betroffenen die Kündigungspapiere persönlich übergeben. Viele die schon auf „Kurzarbeit null“ waren, musste er dazu zu Hause besuchen.

„Ich kannte die alle. Das ging nicht spurlos an mir vorbei. Die Stimmung bei den jüngeren Gekündigten war schlecht. Teilweise haben sie mir die Schuld gegeben. Wegen der Fertigungsschritte in Italien waren sie plötzlich überflüssig. Aber das war die einzige Überlebenschance fürs Werk damals. Direkt hinterher ging ich zum Chef und ließ mich selbst entlassen.“

Schwolow hatte wenig mit der Treuhand zu tun, wie auch, es war fast nie jemand von der Privatisierungsanstalt vor Ort. Ihm habe sich deren Tätigkeit bis heute nicht erschlossen, sagt der 71-jährige Rathenower. Auf jeden Fall sei die Rolle aber „unrühmlich“ gewesen, denn ohne sich ein Bild vor Ort zu machen, habe die Treuhand in Rathenow Grundstücke an „unseriöse Investoren“ vergeben. Dazu zählt er auch Rückübertragungen von modernen und durchaus zukunftsfähigen ROW-Abteilungen wie dem Werkzeugbau an Westdeutsche. Die Einrichtungen gingen danach schnell kaputt.

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Bild 7: Vielen Dank für alles: Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erhält vom Rathenower Landrat und vom Rathenower Bürgermeister im Juli 1993 ein Opernglas aus einer ROW-Nachfolgefirma. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

„Die Treuhand war ihrer Klientel treu — das waren aber nicht wir“

Der Rückstand der ROW war groß, aber es gab für den Betrieb auch keine echte Chance, sich anzupassen, resümiert Randolph Götze. Das gelte für den ganzen Osten. „Von der Treuhand erwarteten wir uns damals Hilfe und Unterstützung bei einem geordneten Übergang.“ Doch es sei schnell klar geworden, dass der Betrieb zerschlagen und verkauft werden soll.

Eine Übernahme der ROW durch die Rathenower Betriebsleitung — ein sogenannter „Management-Buy-Out“ — wurde durch die Treuhand verboten. Es sei deprimierend gewesen, zwei Jahre lang ohne Verschnaufpause ums Überleben zu kämpfen und dann doch abgewickelt zu werden.

„Die Treuhand war ihrer Klientel durchaus treu — nur waren das nicht wir“, sagt Götze. „Das war die westdeutsche Wirtschaft.“ Dortige Unternehmen hatten kein Interesse daran, dass ein Konkurrent überlebte. Das Wohl der Ostdeutschen war sekundär.

Das Fell des Bären wird verteilt

Die Westunternehmen kauften die modernen Teile der ROW-Technik von der Treuhand. Der Wickelautomat ging an die Firma Metzler, das Fräszentrum sowie die Spritz- und Gießtechnik an Fielmann und die Kunststofflinsenproduktion an die Braunschweiger Essilor-Optik, eine Tochter des französischen Essilor-Konzerns. „Von den Erlösen dieser Verkäufe haben die ROW nichts gesehen“, sagt Mikroskop-Fachmann Ralf-Peter Lautenschläger.

Schnell nach der Grenzöffnung war die erste Garde der westdeutschen Optik-Konkurrenz nach Rathenow gekommen. „Fielmann, Zeiss, Rodenstock — alle haben die oberste Leitungsebene geschickt“, erinnert sich Günter Schwolow. Sie sahen sich Immobilien und Produktionstechnik der ROW sowie das Qualifikationsniveau der Mitarbeiter an. Sie hatten einen „Heidenrespekt“ vor den räumlichen Kapazitäten. Schwolow weiß das genau. Denn er selbst fuhr mehrere Tage mit Günther Fielmann persönlich durch Rathenow und zeigte ihm die Standorte.

Fielmann sei ein „Geschäftsmann durch und durch“, sagt Schwolow. „Er suchte überall nach Profit.“ Unter anderem kaufte der Unternehmer, der heute mit einem geschätzten Vermögen von rund fünf Milliarden Euro laut verschiedener Quellen zu den 30 reichsten Deutschen gehört, früh die Rechte am ROW-Logo, das die Hamburger Firma heute in leicht abgewandelter Form in ihrer Rathenower Niederlassung nutzt. Schon vor der Wende sei die Firma größter westdeutscher Abnehmer von ROW-Fassungen gewesen, schreibt Historikerin Bettina Götze (3).

In der havelländischen Kreisstadt erhielt Fielmann von der Treuhand mehrere ehemalige ROW-Produktionsgebäude, darunter eines auf einem „1-A-Wassergrundstück“.

Machtfaktor Fielmann

Während die anderen Westfirmen inzwischen alle wieder aus Rathenow abgezogen sind — zuletzt machte Essilor 2015 dicht — ist Fielmann weiterhin da. Und die AG ist heute eine Art Machtfaktor in der Stadt. 2002 eröffnete das Unternehmen ein neues Produktions- und Logistikzentrum in einem Gewerbegebiet. Jede Fielmann-Brille europaweit geht einmal durch dieses Zentrum. Mit den rund tausend dort Beschäftigten ist Fielmann heute der größte Arbeitgeber der Stadt. Ökonomisches Potenzial für eine vierstellige Zahl von Beschäftigten in der optischen Industrie hat Rathenow also doch. Die Firmenzentrale residiert jedoch weiter in Hamburg.

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Bild 8: Das Produktions- und Logistikzentrum der Fielmann AG in Rathenow. Foto: Stefan Korinth

Fielmann erwarb auch das ehemalige ROW-Verwaltungsgebäude direkt an der Hauptstraße, ließ es sanieren und vermietete es von 1997 an zwanzig Jahre lang für 350.000 Euro jährlich an die Stadt Rathenow, die das Gebäude als Rathaus nutzte und es 2017 für fünf Millionen Euro kaufte.

Weitere zentral gelegene ehemalige ROW-Gebäude gehören Fielmann bis heute. Während die Stadt das Ruinen-Ensemble gern erwerben würde, um dort etwas Neues entstehen zu lassen, hat Fielmann seine eigenen Pläne. Die Firma lehnte das städtische Angebot ab, was in Rathenow für ohnmächtige Kritik sorgt.

Auf gewisse Weise wird so deutlich, wie die Treuhand-Politik bis heute auch dafür sorgt, dass ostdeutsche Kommunen nicht Herr im eigenen Haus sein können. Direkt neben dem Rathaus steht die Ruine des früheren ROW-Gebäudes „Null60“ — eingehüllt von einer großen grauen Plane mit riesigem Fielmann-Schriftzug. Eigentlich sollte das Plakat den Anblick verschönern. Stattdessen wirkt es — zumal an dieser Stelle — eher wie ein Symbol für die tatsächlichen Machtverhältnisse vor Ort.

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Bild 9: Die Ruine des ROW-Gebäudes „Null60“ an der Berliner Straße in Rathenow. Die 1.500-Quadratmeter-Fassade ist seit Jahren eingehüllt mit einer riesigen Fielmann-Werbeplane. Foto: Stefan Korinth

Rathenow hat sich wieder aufgerappelt

Als Standort der optischen Industrie hat sich Rathenow wieder aufgerappelt. Einige Fachleute aus den damaligen ROW haben nach der Wende eigene kleine Firmen aufgebaut. Einige davon gingen wieder Pleite. Andere fanden erfolgreich Nischen in dem Wirtschaftszweig. Ralf-Peter Lautenschläger war in der 1992 unter dem Namen „Askania“ mit 160 Mitarbeitern ausgegliederten ROW-Mikroskop-Abteilung tätig. Auch Randolph Götze wechselte dorthin. 1995 ging Askania Konkurs. Götze fand wenig später eine Anstellung als Pressesprecher eines Theaters.

Lautenschläger gründete Askania im Januar 1996 mit nur noch sechs Mitstreitern neu. Das Unternehmen hat sich heute etabliert. Mit elf Mitarbeitern montiert und justiert die Firma zugelieferte Mikroskopkomponenten. Die fertigen Mikroskope werden vorrangig in der Qualitätskontrolle in der Fahrzeugindustrie oder mikroelektronischen Industrie eingesetzt. 30 Prozent davon gehen in den Export nach China und in europäische Länder.

Günter Schwolow gründete nach der Wende die Firma Obrira Low Vision. „Obrira“ steht für Optik Brillen Rathenow. In dem Betrieb, den inzwischen sein Sohn führt, werden vergrößernde Sehhilfen und Lupenbrillen für medizinisch-technische Anwendungen, etwa für Zahnärzte, hergestellt. Zudem werden dort auch Carl-Zeiss-Jena- und ROW-Ferngläser gewartet und repariert. Millionen davon sind wegen ihrer guten Qualität noch immer im Einsatz.

Weitere Optikfirmen haben sich etabliert, auch als Ausbildungszentrum für Augenoptiker hat Rathenow heute Bedeutung. Fielmann schickt beispielsweise all seine Lehrlinge in Deutschland zur Ausbildung in die Stadt an der Havel.

Viele Veränderungen, eine Konstante

Vieles hat sich getan in Rathenow seit 1989. Das DDR-grau ist verschwunden. Die Kreisstadt ist heute ein schön sanierter Ort, mit wiederaufgebauter Kirche und renovierten Baudenkmälern. 2015 war Rathenow Mitausrichter der Bundesgartenschau. Auch die Verkehrsinfrastruktur wurde ausgebaut und ist auf modernem Stand. Die Wohnqualität hat sich erhöht.

Doch auch manch typische unschöne Nachwendeentwicklung ostdeutscher Städte lässt sich hier finden. Die Arbeitslosenquote ist weiter überdurchschnittlich hoch. Die Abwanderung vieler Menschen hat ihre Spuren hinterlassen. Die Einwohnerzahl sank von rund 31.000 (1989) auf 26.500 (2000). Trotz mehrerer eingemeindeter Dörfer liegt die Zahl heute bei nur noch etwa 24.000 Menschen. Tendenz fallend. Schulen wurden geschlossen. Die Wirtschaft bleibt kleinteilig.

Nur in einer Sache herrscht ungewohnte Konstanz. Der größte Arbeitgeber ist — wie damals die ROW — ein augenoptischer Betrieb. Wie damals liefert dieser Betrieb seine Brillen in große Teile Europas. Wie damals arbeitet dort eine vierstellige Zahl an Menschen. Wie damals ist der Betrieb ein Machtfaktor in der Stadt. Wie damals werden die zentralen betrieblichen Entscheidungen aber nicht in Rathenow getroffen. Wie damals prangt in diesem Betrieb der Schriftzug „ROW“.

Wer gutmeinend ist, kann sagen, dies sei paradox. Kritischer gedacht lässt sich auch sagen, wirtschaftliches Potenzial und fachliches Know How, das ganz offensichtlich in Stadt und Standort stecken, waren auch schon 1990 sichtbar — zumindest für strategisch denkende Geschäftsleute und vielleicht auch für die Treuhand. Das machte den Standort wertvoll. Und das würde so manche Entscheidung gegen ROW-Sanierung und gegen den Weiterbetrieb in Rathenowern Händen erklären. Wenn die Treuhandakten im Jahr 2031 endlich erschlossen sind, darf man auf mehr Durchblick hoffen.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Dunckers Vielschleifmaschine habe für die optische Industrie im Grunde die gleiche Bedeutung wie die Erfindung des mechanischen Webstuhls für die Textilindustrie, schreibt die Historikerin Bettina Götze in einem demnächst erscheinenden Buch über die Geschichte der optischen Industrie in Rathenow. Bettina Götze ist Geschäftsführerin des Rathenower Kulturzentrums. Im dortigen Optikindustriemuseum steht ein Nachbau der historischen Vielschleifmaschine.
(2) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im baden-württembergischen Oberkochen der westdeutsche Ableger von Carl Zeiss gegründet. US-Truppen hatten 1945 zuerst Jena erreicht. Als sie im Juni 1945 der Roten Armee Platz machten, nahmen die US-Amerikaner viele Spezialisten und die gesamte Carl-Zeiss-Geschäftsführung mit nach Baden Württemberg, wo 1946 das westdeutsche Werk aufgebaut wurde. Die Konzernleitung der Carl-Zeiss-AG sitzt bis heute in Oberkochen.
(3) Götze, Bettina L. / Joachim Mertens: Rathenow — Wiege der optischen Industrie. Berlin 2020, Seite 45.


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