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Briefe über den Abgrund

Briefe über den Abgrund

Tieftraurig über die deutsch-russische Entfremdung schreibt der kaliningrader Professor Wladimir Gilmanov seinen alten Bekannten und appelliert mit Nachdruck an die Völkerfreundschaft.

Dezember 2024

Meine sehr liebsten C. und U.,

ich habe lange nicht gewagt, Euch etwas zu sagen, was unsere gemeinsame Lebensgeschichte angeht, denn zu stark sind die Entfremdungsdynamiken, die uns trennen, was sich in Euren kurzen Briefen an mich zeigen lässt. Trotz alledem will ich versuchen, einiges von meinem Leiden an Euch herankommen zu lassen. In der Hoffnung auch, dass ich in der Kürze mich auszudrücken vermag und dann bald — Gott weiß Bescheid — sterbe, weil mein klägliches Leben eigentlich sinnlos geworden ist. Der Sinn war unser deutsch-russisches Zusammensein, das in der großen Weltgeschichte mehrmals als die entscheidende Voraussetzung für eine friedliche Zukunft der Menschheit vom größten Belang war. Sogar biblisch! Das scheint gescheitert.

Was wohl banal ist, denn in der deutschen Geschichte gab es eine Menge von guten Geistern, die herzensmäßig eine erlösende Chance für die friedliche Zukunft erlebten. Diese wurden nicht wahrgenommen, weil die Menschen jetzt sie nicht mehr lesen und verstehen: So stark ist der Druck der modernen aktuellen Medien.

Ihr seid so rein und feinfühlig, dass Ihr vertrauensvoll alles glaubt, was die deutsche Presse am Rande des ethiktheologischen Perfektionismus und was auch Eure christliche Hilfsbereitschaft in der alltäglichen Lebenspraxis an den Tag legen. Die Tragik der modernen Lüge ist nicht zu halten, weil die gefährlichste Form der Lüge die Halbwahrheit ist…

Die Tragik nimmt zu, obwohl sogar bis heute die russische Elite deutschfreundlich bleibt, was auch Putin — indirekt in meinem Verstehen — in seinem Gespräch mit dem unabhängigen amerikanischen Journalisten Tucker Carlson angedeutet hat. Deutschland jedoch — gespalten und unfrei — will etwas, was es endgültig und irrationell zerstören kann. Dadurch treten wir in die apokalyptische Endzeit, obwohl Deutschland und Russland gemeinsam die Annährung der Zeit bremsen könnten: Die deutsche Elite entscheidet sich jedoch für den größten Lügner der Weltgeschichte — die USA …

Ich habe aber wenig Kraft biblisch, philosophisch und welthistorisch zu argumentieren. Die einzige etwas übernatürliche Chance bleibt die Argumentation der gebrochenen Herzensverbindung. Die Chance wahrnehmend will ich mich kurz fassen und folgendes schreiben:

Erstens:

Ihr seid eine der lebenswichtigsten Seiten meines bescheidenen Schicksals und bleibt dies auch bis zu meinem hoffentlich baldigen Ende. Ich meine das ehrlich, auch wenn die Zeichen der Liebe und der Wahrheit heute nur schwer lesbar sind.

Zweitens:

Versucht bitte ohne Hass und Eile das moderne Geschehen zu interpretieren …

Drittens:

Ein Pakt mit dem Teufel, der oft dem Putin vorgeworfen wird, ist nicht die Sache Russlands, sondern Deutschlands, was auch die Faust-Figur, die so weltweit bekannt ist, nachzuweisen weiß. In diesem Zusammenhang ist es gar nicht zufällig, dass ein großer Intellektueller Oswald Spengler in seinem Traktat „Der Untergang des Abendlandes“ den modernen Menschen im Westen als einen „Faust-Menschen“ bezeichnete. Goethe hat wohl gehofft, dass dieser neue Faust-Typ all die Versuchungen des Bösen zu überwinden vermöge:

„Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst“ (Prolog im Himmel).

Viertens:

Es ist das Faktum, dass im breiten welthistorischen und kulturpolitischen Horizont die moderne Zivilisation alle bekannten Symptome der paradigmatischen Systemkrise zeigt. Und die heutigen Horrorspiralen in der Ukraine und in Gaza erbringen neue Beweise dafür.

Und was sind wir dabei, Russen und Deutsche? Kurz gefasst wäre es so: Das Nachdenken über die bemerkenswerte deutsch-russische Schicksalsgemeinschaft, mal verwandt, mal entfremdet bis zur Grenze der gegenseitigen Vernichtung, ist ein guter Anlass zum kritischen Umdenken und Nachprüfen, inwieweit die moderne Zivilisation insgesamt lebensfähig ist.

Deswegen ist die wichtigste geopolitische Grundthese meines verzweifelten Briefes folgende:

Die Zukunft Europas, wenn nicht sogar der ganzen Menschheit, ist in besonderem Maße von Russland und Deutschland abhängig. Wenn die in den 1990er Jahren erklärte strategische Partnerschaft zwischen den beiden nicht neu aufgenommen und in einer neuen, für alle vorbildlichen moralischen Qualität verwirklicht wird, dann kann die ganze Weltarchitektur endgültig zusammenbrechen, entweder in dem letzten vernichtenden Weltkrieg oder in einem anderen Selbstvernichtungsprozess, der in der kantischen Rhetorik als „widernatürlich“ bezeichnet worden ist.

Diese eschatologisch geprägte These will ich bekräftigen durch Erinnerung an den kleinen Text Kants „Über das Ende aller Dinge“ (1794), verfasst symptomatisch praktisch gleichzeitig mit dem bekannten Friedenstraktat „Zum ewigen Frieden“. In dem Text ist Kants Szenarium der Zukunft in den drei Alternativen dargestellt:

  1. „das natürliche Ende aller Dinge, nach der Ordnung moralischer Zwecke, göttlicher Weisheit, welches wir also (in praktischer Absicht) wohl verstehen können“;
    1. „das mystische (übernatürliche) Ende derselben, in der Ordnung der wirkenden Ursachen, von welchen wir nichts verstehen;
    2. „das widernatürliche (verkehrte) Ende aller Dinge, welches von uns selbst, dadurch daß wir den Endzweck mißverstehen, herbeigeführt wird…“.

Wollen wir nicht das widernatürliche Ende zulassen! Bitte, Deutschland, nicht! Dieser Anruf erklingt am Rande der Enthoffnung, weil Deutschlands Elite leider so viele Symptome der Besessenheit zeigt, die nicht mehr zwingen, sondern auf subtile Weise manipulieren und Deutsche freiwillig an der Verwirklichung des Szenariums der widernatürlichen Endes aller Dinge mitmachen lassen.

Wladimir

Brief 5 vom Juli 2025

Meine lieben Freunde!

Die Rhetorik meines Briefes wird durch die Spannung der polaren Antinomien geprägt: Einerseits, beinahe apokalyptische Bitterkeit angesichts der heutigen Sachlage in der Wechselwirkung zwischen Deutschland und Russland; anderseits unter dem Motto von Hans Jonas „Fatalismus wäre eine Todessünde“ — eine beinahe enthoffte, jedoch noch lebende Hoffnung auf Deutschlands Besinnung angesichts der letzten Zeitmauer, die uns alle von der endgültigen Hölle der Weltkatastrophe trennt und die von Tag zu Tag immer brüchiger wird.

Meine Rhetorik ist verursacht durch eine nicht nur von mir mehrmals, sondern auch von vielen Russen, auch zu der heutigen Zeit, artikulierte Überzeugung, dass gerade deutsch-russische Beziehungen, geprägt durch eine besondere Form des „historischen Eros“, seit dem 19. Jahrhundert dem romantischen „Liebestod“ ähnlich, weltentscheidend waren.

Deswegen wird hier auch an das selbstmörderische Wort von Kaiser Wilhelm II. vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erinnert: „Jetzt wird das Schwert entscheiden.“ Dieser Satz ist heute in der Rhetorik von Kanzler Merz erkennbar.

Russland will sich dem entgegenstellen: „Bitte nicht! Man soll das Schwert in die Scheide stecken!“ Ich behaupte dies nicht nur aus der ganzen Tiefe meines Herzens, sondern aus der der meisten Herzen im heutigen Russland, die politische und militärische Elite eingeschlossen.

1918 verfasste der bekannte russische Dichter Aleksandr Blok einen dichterischen Aufruf zu Europa unter dem Titel „Die Skythen“, wo es unter anderem hieß:

„Nun kommt zu uns! Vom Ungeheuer fern,
Legt altes Schwert in seine Scheide,
Weg von dem Krieg. Und wir umarmen gern
Euch — Brüder unserer Gemeinde!

Und wenn denn nicht — wir kennen den Verrat,
bekannt sind andere Optionen!
Jahrhunderte — den Fluch im höchsten Grad
Vererben die Generationen!“
(Übersetzt von Galina Breuer)

Heute erklingt es wie eine letzte Warnung an der letzten Zeitmauer in der beinahe verzweifelten Hoffnung auf Deutschlands Mut, eine der letzten, wenn nicht die letzte Chance wahrzunehmen. Denn es ist so, als ob eine unsichtbare okkulte Macht das heutige Europa mit seiner wirtschaftlichen und intellektuellen Lokomotive Deutschland in die tödliche Falle eines neuen Krieges gegen Russland heimtückisch zu treiben weiß, was zu einem fatalen Ende führen wird. Denn Russland wird sich nie besiegen lassen, was schon mehrmals in der Geschichte bewiesen wurde.

Ob Deutschland die letzte Chance wahrnehmen will? Nicht nur die Chance für das eigene Überleben trotz einer permanenten Verratskette in der dramatischen Weltgeschichte, sondern auch für die gesamte Menschheit.

Wer wäre heute imstande, die Bilanz über die Zuspitzung des Kampfes zwischen Sein und Nichtsein zu ziehen? Der deutsche Philosoph Martin Heidegger hat bereits 1923 in seinem Traktat „Sein und Zeit“ die Bilanz zum Nachteil des Seins gezogen in der existentiell-analytischen Argumentation, die wie folgt zusammenzufassen wäre — der moderne Europäer sei in eine Zeitfalle des Nichtseins geraten, die letztendlich ihn ein wahres Realitätsgefühl entbehren lässt.

Der Begründer des europäischen Existentialismus Sören Kierkegaard nannte diesen Zustand „die Krankheit zum Tode“, die schon längst ausbrach, sich aber wegen ihrer geistigen Ursache empirisch nur zu der Kriegszeit massenhaft erkennen lässt, wo die anhaltende Todesfuge des rächenden Nichtseins erklingt.

Der bekannte Dichter Paul Celan hat in seiner „Todesfuge“ folgendes geschrieben:

„Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng…
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags *der Tod ist ein Meister aus Deutschland

wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau …“*

Die heutige Weltsituation schreit mit apokalyptisch geprägter Ernsthaftigkeit: Nur ein geistig und intellektuell erkrankter Mensch oder durch ein peinliches weißes Pulver vergiftete Politiker (Macron, Merz, Starmer …) können glauben, dass Russland die EU erobern will und dass es sich zu einem heimtückischen Angriff vorbereitet.

Mehrmals in der Geschichte wurde diese selbstmörderische Lüge gen Russland durch die politische Elite der führenden Europa-Staaten zum Ausdruck gebracht und mehrmals wurden die Völker Europas, die der Lüge zum Opfer fielen, wegen ihrer Irreführung durch die Eliten oder deren personifizierte Gestalten, sei es Napoleon oder Hitler, grausam bestraft für ihre Leichtgläubigkeit und tödliche Blindheit …

Der Tod ist wirklich ein Meister.
In der beinahe enthofften Hoffnung, dass Ihr den Meister aus Deutschland wegjagt,

Wladimir


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