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Das Egoismus-Virus

Das Egoismus-Virus

Der Begriff „Wétiko“ bezeichnet bei nordamerikanischen Indigenen die Krankheit der unstillbaren Gier und kann geheilt werden.

Die Cree im Norden der Schildkröten-Insel — den heutigen USA — kannten eine seltene Abnormität: Nach langen Hungerwintern konnte es geschehen, dass ein Mensch eine unstillbare Gier entwickelte. Das Wohlergehen der anderen war ihm dann egal; er empfand sich nicht mehr in erster Linie als Teil des Stammes, sondern als getrennt. Was auch immer Essbares er fand: Er nahm es sich, ohne zu fragen. Auch auf Kosten anderer. Ja, es gab sogar Fälle von Gier auf Menschenfleisch. Für die Cree war das ein so außergewöhnliches Verhalten, dass sie glaubten, ein böser Geist terrorisiere den Menschen und mache seine Seele krank. Sie nannten ihn Wétiko.

Wétiko konnte geheilt werden. Der Befallene bekam Wärme, Kontakt und ausreichend zu essen; ihm wurden Dienste an Kranken und Alten und Zusammensein mit Kindern aufgetragen, immer in der Mitte der Gemeinschaft. Und irgendwann wusste er wieder, worum es geht im Leben und wer er eigentlich ist: Teil eines sozialen Gefüges, Kind der Erde.

Als die Cree auf die ersten Weißen stießen — Jäger und Pelztierfänger, später Händler und Missionare in den Weiten Kanadas —, mussten sie an die Wétiko-Krankheit denken:

All diese merkwürdigen, ungeschickten Menschen schienen davon befallen zu sein! Sie verhielten sich, als seien sie voneinander und von Mutter Erde getrennt. Jeder wollte so viel wie möglich für sich selbst haben.

Sie waren in der Lage, anderen weh zu tun, ohne deren Schmerz mitzufühlen. Und die Erde selbst, Bruder Tier und Schwester Pflanze behandelten sie wie seelenlose Dinge und hinterließen eine Spur der Zerstörung und Gewalt. Was waren das nur für Menschen? Hatten sie überhaupt eine Seele? Waren es vielleicht ausgestoßene Wétiko-Befallene eines fremden Stammes?

Bald sollten die Cree auf tragische Weise belehrt werden: Was bei ihnen als Krankheit galt, war bei den Weißen normal. Deren ganze Gesellschaft beruhte auf Habgier, Egoismus, Konkurrenzdenken, Lüge und Angst voreinander. Wétiko erwies sich als hochgradig ansteckende Epidemie. Auch die Cree und andere Naturvölker konnten sich auf Dauer nicht davor schützen. An den Rand gedrängt, standen sie nach wenigen Jahrzehnten vor der Entscheidung: anpassen oder untergehen.

Der indianische Historiker und Schriftsteller Jack D. Forbes griff das Wort Wétiko auf, um die heutige Mainstream-Kultur zu analysieren:

„Der moderne Mensch kümmert sich wenig darum, welches Leid, welche Ausbeutung und Auslöschung sein Konsum so vielen Wesen antut. Das ist wahrer Kannibalismus: die Ausbeutung der Erde, der Lebewesen und auch der Menschen und deren Heimstätten.“

So kann man es durchaus sehen: Als Teil unserer modernen Welt sind wir alle Träger des Wétiko-Virus. Ob wir wollen oder nicht, ob wir es überhaupt bemerken oder nicht, bestimmt er nicht nur unser eigenes Handeln und Denken, sondern das Handeln und Denken aller Mitglieder und Einrichtungen der modernen Gesellschaft. Wie einen Schatten tragen wir ihn mit uns — bis wir das Licht unseres Bewusstseins darauf richten.

Ob in der Wirtschaft, im Bildungssystem oder in der Gesundheit: Trotz besseren Wissens fördern wir Stress, Angst, Konkurrenz und Trennung. Empathie und Anteilnahme werden abtrainiert. Unter dem Einfluss von Wétiko handeln wir permanent gegen unsere eigenen Vitalinteressen, gegen zukünftige Generationen und gegen die Erde. Im Kern ist Wétiko das Fehlen von Verbundenheit. Wétiko heißt im Grunde Trennung: Wir spüren nicht mehr Leid oder Freude der Mitmenschen.

Wétiko im Alltag

Leicht zu identifizieren ist der Virus beim Geld. Gesundes Wirtschaften wäre immer auf Ausgleich und Gewinn für alle gedacht. Nicht so das Geldsystem. Geld öffnet uns scheinbar die Tür zu allem, was wir wünschen. Logisch, dass wir genug davon wünschen. Es gibt aber kein Genug im Geld- und Zinssystem, nur ein Immer-Mehr. So entstand eine Wirtschaft, die immer wachsen muss. „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werden die Menschen feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“ Das ist Wétiko.

Es ist, als habe die Menschheit vergessen, dass sie zu einem Ganzen gehört. Was aber geschieht einem Organismus, dessen Organe miteinander kämpfen?

Wo Lunge, Herz, Niere und Hirn sich gegenseitig den Sauerstoff rauben oder die Botenstoffe zurückhalten, um für sich selbst Vorteile zu gewinnen? Er stirbt. Das ist die Bedrohung, das sind die tiefen Ursachen von Umwelt- und Klimakrise. Forbes schrieb:

„Wétikos Wirken hat sich so zugespitzt, dass seine ökologischen und sozialen Folgen das Leben auf der Erde selbst gefährden. Unsere Gier nach Wohlstand, Macht, Vorteil zerstört unseren Heimatplaneten.“

Gibt es Heilung?

Der Autor Paul Levy schreibt in seinem Buch „Wétiko“:

„Jeder von uns kann Barrieren der Verteidigung aufstellen, unser psychologisches Immunsystem stärken, um nicht von der Selbstsucht angesteckt zu werden.“

Unser psychologisches Immunsystem beruht, so Lévy, auf bewusster Aufmerksamkeit. Sein Rat: Wétiko erkennen, seine Logik verstehen und überwinden und unsere angeborene Fähigkeit für ein Leben ohne Wétiko wiederentdecken.

Wétiko in der Medizin

Wirkliche Heilung ist immer ganzheitlich und bezieht die Umgebung mit ein, die uns krank gemacht hat. Doch im Wétiko-Gesundheitssystem ist es anders: Wenn Körper oder Seele durch Wétiko-Einsamkeit oder -Stress krank werden, dann gehen wir zum Arzt oder zum Therapeuten, lassen uns behandeln und — kehren in unser Leben zurück. Und damit genau in die Umgebung, die uns krank gemacht hat: Auch das ist Wétiko.

Menschen mit lebendigen indigenen Wurzeln können da Orientierung bieten. Ladonna Bravebull Allard, eine Lakota-Botschafterin aus dem Reservat Standing Rock:

„Als Indigene verstehen wir, dass es eine Verbindung gibt zwischen uns und der Erde und allem, was uns umgibt. Wir haben die Verpflichtung, andere daran zu erinnern, wie kostbar das Wasser ist und dass das Feuer und die Luft, die wir atmen, gebraucht werden, damit wir auf der Erde leben können. Darum müssen wir sie respektieren, ehren und sie pflegen.“

Für Tiokasin Ghosthorse, Angehöriger der Dakota River Nation, besteht die Wétiko-Therapie darin, uns unserer Sprache bewusst zu werden:

„Indem wir die indigenen Kulturen wieder achten, lernen wir die ‚ursprünglichen Instruktionen‘ wieder kennen. Lakota ist nicht nur eine Sprache, sie ist ein Denkkonzept, das auf Einheit und Verbundenheit gerichtet ist. Die Lakota-Sprache kennt keine Substantive, nur Verben. Dinge sind eine Tätigkeit. Statt Baum sagen wir: das, was baumt. Auf diese Weise wird die Welt mit all ihren Gegenständen sehr lebendig und bewusst. Ein ‚Ich‘ oder ‚Mein‘ gibt es auf Lakota nicht — denn wir sind keine abgegrenzten Individuen, sondern ein Teil des Ganzen. Die Erde ist auf Lakota auch nicht ‚unsere‘ Mutter — sie ist Mutter, und auch das ist ein Tun.“

Wétiko in der Schule

Jeder Mensch hat einen inneren Lehrplan. Jedes Kind will und kann lernen, wenn es sich für eine Sache oder den Lehrer begeistert. Freies Lernen nutzt Neugier, Lust und Begeisterung. Doch im Wétiko-Schulsystem ist es anders. Da muss man zu dem Zeitpunkt und auf die Weise lernen, die ein äußerer Plan vorschreibt. Lernen geschieht unter dem Druck von Stress, Angst und Konkurrenzdenken: wieder mal Wétiko.

Inzwischen haben ganze Staaten versucht, ihre Strategie umzustellen: „Buen Vivir“ (spanisch für „gutes Leben“) zum Beispiel wurde in den Verfassungen von Ecuador und Bolivien verankert. Es ist das traditionelle Lebenskonzept aus den Anden, das auf indigenen Werten und Erfahrungen beruht und auf moderne Bedingungen angepasst wurde. Dazu gehören Gemeinschaftsarbeit, nachhaltige Landwirtschaft, Tauschhandel und eine Philosophie der Einheit. Ein anderes Beispiel ist das Bruttonationalglück (BNG), welches dem Königreich Bhutan in Asien als Erfolgsmaßstab wichtiger ist als das Bruttosozialprodukt.

Bis Wétiko-freies Denken sich auch in den großen Volkswirtschaften durchsetzt, ist es sicher noch ein langer Weg. Doch an vielen abgelegenen Orten entfaltet indigenes Bewusstsein eine heilsame Wirkung, die auch auf uns ausstrahlt.

Ati Quigua, eine Führerin des Stammes der Arhuaco aus Nord-Kolumbien, beginnt jedes Treffen mit diesem Gebet:

„Wir sind eins mit dem Wasser, mit der Erde, mit der Luft, mit der Sonne, mit den Gedanken, mit dem Herzen, mit dem Geist, mit dem Körper. Wir sind eins mit den Pflanzen, den Tieren, den Mineralien und der Vielfalt der Menschheit.“

Dieses Mantra, mehrmals am Tag gedacht oder gesprochen, ist eine wirksame Kur gegen den Wétiko-Virus.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Wétiko — die Egoismus-Epidemie des weissen Mannes und ihre Heilungschancen“ im Zeitpunkt.



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