Stell dir vor, es herrscht Unterdrückung, und keiner rebelliert! Gerade das Corona-Geschehen zeigt, wie schwer es ist, selbst bei offensichtlichen und schwerwiegenden Eingriffen in die Freiheitsrechte eine kritische Masse von Widerständigen zusammenzubringen. Wobei der Begriff „kritische Masse“ hier mehrdeutig ist. Gemeint ist eine kritikfähige Gruppe von Menschen, aber auch jenes Quantum von kreativ Denkenden, das nötig ist, um in einer Gesellschaft die Stimmung zum Kippen zu bringen. Neben inhaltlichen Gründen — Gesundheitsschutz ist ein gutes Narrativ, um Menschen auf Linie zu bringen, Angst ein geeigneter Hebel — könnte der Grund auch in einer „masochistischen“ Grundorientierung vieler liegen, die von Herrschenden, die ihre Machtbefugnisse erweitern wollen, durchaus bewusst genutzt wird. Es scheint eher so, dass die Mehrheit nicht Güte und Rücksichtnahme anbetet, sondern Stärke, den nackten Willen zur Macht.
Schauen wir uns zur Verdeutlichung den privaten Bereich an: die Machtkonstellation innerhalb von Partnerschaften. Auch hier gibt es ein archaisches Bedürfnis nach Schutz und Orientierung. Wir kennen dieses Phänomen bei Frauen wie Männern, die sich selbst oft händeringend die Frage stellen: Warum gerate gerade ich immer an die schlimmsten Exemplare — Partnerinnen oder Partner, die mich kalt, grob oder dominant behandeln, von denen ich aber trotzdem nur schwer loskomme? Des Rätsels Lösung ist: Es sind meist charmante und vor allem selbstbewusste „Arschlöcher“, die bei der Partnersuche forsch vorgehen und auch innerhalb bestehender Beziehungen meistens rasch die Führungsrolle beanspruchen. „Wer stark genug ist, meinen Willen zu brechen, ist auch stark genug, mich und die Kinder vor Gefahren zu schützen“ — so lautet der unbewusste Grund hinter so mancher Partnerwahl.
Unterdrücker als Beschützer
Ist ein Mann gütig und rücksichtsvoll und fragt er bei einer Frau vorsichtig nach, ob er auch alles richtig macht, dann hat die Frau Angst, bei diesem Mann nicht genug Halt und Schutz zu finden. Dabei bräuchte die Welt nichts dringender als „neue“ Männer, die die schlimmen Fehler des Patriarchats auf privater wie auch politischer und ökologischer Ebene nicht andauernd reproduzieren. Ebenso gibt es auch bei selbstunsicheren Männern die Tendenz, sich dominant und selbstgewiss auftretenden Alpha-Weibchen willfährig unterzuordnen.
Es besteht eine unbewusste Neigung zu denken: „Je schlechter mich jemand behandelt, desto eher kann ich mich ihm anvertrauen.“
Im Privaten kann man gut studieren, was auch im politischen Raum wirksam ist. Sobald Brutalität angewendet wird, zieht das Opfer daraus drei Schlussfolgerungen:
- Wer mich misshandelt, ist ein starker Charakter, weil er keine Angst vor meinen möglichen Gegenreaktionen hat. Ein starker Charakter kann mir auch Schutz gewähren, ich kann mich an ihn anlehnen.
- Wer mich misshandelt, zeigt damit, dass ihm eine Sache wichtig ist und dass er dafür kein Risiko scheut. Jetzt wird es wirklich gefährlich, da passe ich mich lieber an.
- Wenn ich nicht auch zumindest ein bisschen am Verhalten des anderen Schuld hätte, wäre es so weit kaum gekommen.
Wir nehmen normalerweise an, dass mit eskalierender Brutalität staatlicher Repressionsmaßnahmen auch der Widerstand wachsen würde, sodass Tat und Reaktion einander immer ungefähr entsprechen und eine Gegenwehr provoziert wird, die dem schädlichen Verhalten der Staatsmacht dann ein Ende setzt. In der Realität ist es wohl eher so, dass mit wachsender Härte des Angreifers die Neigung des Opfers wächst, sich aus Angst anzupassen. Es schwingt seinen Geist dann auf die Vorgaben des Täters ein und ersinnt selbst Narrative, die dessen Taten einen positiven Sinn andichten.
Nataschas Schockreaktion
Natascha Kampusch, die 1998 als Zehnjährige von dem arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil entführt und für acht Jahre in einem Kellerverlies gefangen gehalten wurde, beschreibt ihre Gefühle und Reaktionen in den ersten Stunden nach ihrer Gefangennahme sehr eindrucksvoll. Man kann diese Erkenntnisse durchaus auch auf das Verhalten einer Gesellschaft übertragen, die mit plötzlicher, schockartiger Brutalität seitens der Staatsmacht konfrontiert wird:
„Ein Ruck ging durch meine Welt, die Realität verschob sich ein kleines Stück. (…) Als Erwachsener weiß man, dass man ein Stück von sich selbst verliert, wenn man Gegebenheiten erdulden muss, die bis zu ihrem Eintreten völlig außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögens waren. Der Boden, auf dem die eigene Persönlichkeit steht, bekommt einen Riss. Und doch ist die einzig richtige Reaktion, sich anzupassen, denn sie sichert das Überleben.“
Typisch für Traumatisierungen ist ein Rückfall in kindliche Reaktionsmuster: „Heute weiß ich, dass ich damals innerlich regredierte. Der Verstand des zehnjährigen Mädchens zog sich zurück bis auf die Stufe eines kleinen Kindes von vier oder fünf Jahren“, schilderte es Kampusch. Es findet dann auch eine starke Idealisierung des Täters statt, vor allem wenn es — wie bei Entführungen — an Vergleichsmöglichkeiten fehlt und man auf diesen radikal angewiesen ist.
„Dieser Mensch, der mich hier unten eingesperrt hatte, war der einzig anwesende Erwachsene und somit jene Autoritätsperson, die wissen würde, was zu tun ist. Ich würde nur befolgen müssen, was er verlangt — dann würde alles gut werden.“
George Orwell beschreibt die Gemütslage des Gefangenen Winston Smith unter der Folter in „1984“ ganz ähnlich:
„Einen Augenblick lang klammerte er sich an O’Brian wie ein kleines Kind, seltsam getröstet durch den um seine Schultern gelegten Arm. Er hatte das Gefühl, O’Brian sei sein Beschützer, der Schmerz sei etwas von außen, von einer anderen Quelle Kommendes, und O’Brian werde ihn davor beschirmen.“
Verbrüderung mit dem Täter
Zugleich ist die „Verbrüderung“ mit dem Täter der einzig gangbare Weg aus der Einsamkeit, die für das Überleben der Seele die größte Bedrohung darstellt.
„Es gab nur einen einzigen Menschen, der mich aus der beklemmenden Einsamkeit retten konnte: der, der mir diese Einsamkeit angetan hatte“ (Kampusch).
Diese Psychodynamik kann man zwar nicht ohne Weiteres auf diktatorische Verhältnisse übertragen, bei denen ein Volk quasi durch seine Regierung und den von ihr gesteuerten professionellen Gewaltapparat gekidnappt wird, aber auch hier gilt: Sich in den Täter einzufühlen, ihm drastische Vorwürfe zu ersparen, ihn durch Wohlverhalten zu beschwichtigen, um dann vielleicht „Lockerungen“ wie ein Geschenk erbitten zu können — diese Dynamik ist im Prinzip auf die „große“ politische Ebene übertragbar.
Selbst eine Parteinahme für den Täter ist in einer Situation radikaler Abhängigkeit eine nachvollziehbare Reaktion. „Wollte ich in dieser neuen Welt überleben, musste ich mich auf seine Seite stellen.“ Wenn ein Täterkollektiv also diesen Effekt erzielen und sich der Parteinahme ihrer Opfer versichern will, muss es nur Bedingungen schaffen, die in diesem ein Gefühl radikaler Abhängigkeit und der absoluten Aussichtslosigkeit jeden Widerstands erzeugen.
Gegenwehr ist eher dort zu erwarten, wo gute Chancen bestehen, dass man dadurch etwas erreichen kann. Die wenigsten Menschen wagen einen Kampf, bei dem die Niederlage vorprogrammiert ist. Zu den ungünstigen Lebensumständen, die einem die Staatsmacht aufzwingt, käme dann auch noch das demütigende Gefühl, verloren zu haben, und die Angst vor den zusätzlichen Strafen, die auf aufrührerisches Verhalten stehen.
Wenn also zum Beispiel — wie in der Corona-Frage — die Regierung, Polizei und Behörden, der Großteil der Opposition, der Ethikrat, das Bundesverfassungsgericht, fast alle Medien, die meisten Verwandten und Freunde und alle Talkshowgäste von Maybrit Illner gegen einen stehen, kann ebendieser lähmende, entmutigende Effekt entstehen.
Im „Kokon der Normalität“
Natascha Kampusch jedenfalls schuf sich einen „Kokon der Normalität“ als Überlebensstrategie. Sie half mit, den Anschein aufrechtzuerhalten, dass ihre Gefangenschaft eine legitime Form des Zusammenlebens war, und schmückte gleichsam ihre Gefängniswände mit tröstlichen Bildern und Botschaften. Die Zeiten, in denen sie in ihrem Kellerverlies Videos anschauen „durfte“, gehörten ebenso zu dieser neuen Normalität wie gelegentliche, relativ freundliche Interaktionen mit dem Entführer.
Langes Stillhalten jedoch, so verständlich es menschlich auch ist, birgt die Gefahr der Gewöhnung. Die andauernde Anpassung an den Täter deformiert das Bewusstsein des Opfers schleichend, bis hin zur Verinnerlichung von dessen Rechtfertigungsnarrativen. „Ich steckte bereits so tief in der Gefangenschaft, dass die Gefangenschaft längst in mir steckte“, schreibt Kampusch hellsichtig. Unfreiheit führt dauerhaft zu einem nicht selbst verschuldeten Charakterverfall, woraufhin Menschen im zweiten Schritt auch eher bereit sind, weitere Freiheitseinschränkungen hinzunehmen.
Es entsteht eine „Teufelskreis“-Dynamik zwischen den Anpassungsbemühungen der Unterworfenen und destruktiver Machtausübung. Im Extremfall betrachtet man sich in der Endphase dieses Verfallsprozesses selbst nicht mehr als jemanden, der integer genug wäre, um eine humane Behandlung zu verdienen.
Der schleichender Charakterverfall der Angepassten
Die Macht löst in ihren Untertanen einen Gemütszustand wachsender, zumindest unbewusster Selbstverachtung aus, der einen anfangs vielleicht vorhandenen Widerstandsgeist lähmt. Die Frage, die sich dann stellt, ist: „Verdient ein Feigling und Duckmäuser wie ich es überhaupt, seine vollen Bürgerrechte zurückzubekommen?“ Derart demoralisiert, bleibt er aber in seiner Schleife aus Tatenlosigkeit und Selbstwertproblemen stecken. Viele Mächtige wissen dies zumindest intuitiv. Demütigung und Misshandlung lähmen den Widerstand und lösen zugleich in den Köpfen ihrer Opfer Denkmuster aus, die darauf hinauslaufen, sich diese Misshandlungen schönzureden. Behandelt man seine Staatsbürger dagegen in Übereinstimmung mit allen Menschenrechten, würdigend und respektvoll, „werden sie frech“ und verlangen immer noch mehr Freiheit und Mitsprache.
In den 70er-Jahren, als ich begann, politisch zu denken, war das geistige Klima — auch in der Folge der 68er-Bewegung, die viele Lebensbereiche durchdrungen hatte — relativ freiheitlich. Aus dem Gefühl heraus, dass die durch das Grundgesetz garantierte Ordnung im Wesentlichen funktionierte und es nun unsere Aufgabe war, den „Feinschliff“ vorzunehmen, übten meine Altersgenossen Kritik an noch immer bestehenden autoritären und repressiven Tendenzen. Eine Abwärtsbewegung, wie wir sie in den Corona-Jahren und später im Zuge des unter anderem von Nancy Faeser vorangetriebenen „Kampfes gegen Desinformation“ und gegen „Delegimierung des Staates“ erlebt haben, hätten wir uns nur schwer vorstellen können.
Wir haben es mit einer brutalen Konterrevolution zu tun, die auf die systematische und flächendeckende Einschüchterung der Bevölkerung abzielt — mit dem Ziel, Freiheit und Selbstbestimmung Stück um Stück zurückzudrängen und gleichzeitig bei den Entrechteten eine weitgehende „Identifikation mit dem Aggressor“ zu bewirken.
Masken im Wald
Diesen Effekt beschreibt auch der mittlerweile verstorbene Philosoph und YouTuber Gunnar Kaiser in seinem sehenswerten Beitrag „Warum tragen die Menschen Masken allein im Wald?“.
„Wenn jetzt ein natürlicher Impuls auftaucht, das Über-Ich diesen Impuls aber nicht erlaubt, für böse erachtet, dann hat das Ich ein Problem. Was kann es tun? Es muss sich unterwerfen, wenn es nicht in die offene Rebellion gehen will. Diese Unterwerfung muss es aber, um seinen Sinn für Identität weiter zu behalten — Ich bin ein selbstständiger, autonomer Mensch —, sich selbst erklären. Ein selbstrechtfertigendes Verhalten.“
Wir machen uns dann die Ideale, die von der Machtinstanz vermittelt werden, zu eigen. „Das ist alles rechtmäßig. Das ist alles für das größere Wohl.“
Angepasste haben ja mit zwei einander widerstrebenden Bedürfnissen zu kämpfen: Einerseits erscheint die Unterordnung unter die Befehle der Obrigkeit alternativlos — man hat Angst vor Strafe und Ausgrenzung —, andererseits möchte man sein altes Selbstbild als einigermaßen aufrechter Mensch bewahren. Man erlebt sich selbst nicht gern als ein ständig Einknickender, die Obrigkeit gefügig Umschleimender. Die Lösung aus diesem Dilemma besteht darin, sich Obrigkeitsnarrative zu eigen zu machen: „Ich bin ja gar nicht zu feige, mich zu wehren; ich bin nur zufällig der gleichen Meinung wie der Gesundheitsminister. Es besteht also gar keine Notwendigkeit aufzubegehren.“
Die beste freiwilligkeitserzwingende Maßnahme ist somit noch immer die Demonstration überlegener, potenziell gewaltbereiter Macht. Diese wird nicht nur für zähneknirschende Fügsamkeit sorgen, sie wirkt sich als wahrhaftiges Aphrodisiakum aus, in deren Folge sich der Machthaber von einer Woge der Sympathie aus dem Volk nach oben getragen sieht.
„Wenn man in einer Welt lebt, in der Widerstand nicht erlaubt ist, dann sehnt man sich leicht danach, den Mächtigen zu glauben“, sagte die Pekinger Frauenrechtlerin Xiao Meili (zitiert nach Kai Strittmatter, Die Neuerfindung der Diktatur).
Wenn du sie nicht besiegen kannst, idealisiere sie!
Schlechten Menschen mit bösen Absichten zu gehorchen, ist erniedrigend und mit Scham behaftet. Daher darf „mein“ Regierungschef auf keinen Fall ein schlechter Mensch sein. Ist er ein eher dunkler Charakter, pinsele ich ihn mir mit allen Tricks der Autosuggestion rosa an, und das Selbstbild ist gerettet. Dazu schreibt Erich Fromm:
„Aber oft würde — wie im Fall des Sklaven — der Hass nur zu Konflikten führen, unter denen der Sklave zu leiden hätte, ohne eine Chance zu haben zu siegen. Daher wird er gewöhnlich eher dazu neigen, seine Hassgefühle zu verdrängen, und wird sie gelegentlich sogar durch ein Gefühl blinder Bewunderung ersetzen. Dieses hat zweierlei Funktion: Erstens beseitigt es das schmerzliche und gefährliche Hassgefühl, und zweitens mildert sich das Gefühl der Demütigung. Wenn der, der mich beherrscht, ein so prachtvoller oder vollkommener Mensch ist, dann brauche ich mich nicht zu schämen, wenn ich ihm gehorche.“
Für die autoritäre Persönlichkeit wird das Leben bestimmt von überlegenen Mächten, die auf die Interessen des „kleinen“ Alltagsmenschen keine Rücksicht nehmen und dies auch nicht müssen. Damit hat sich der gehorsame Massenmensch abgefunden, er stellt es nicht mehr weiter infrage. „Es gibt kein anderes Glück als die Unterwerfung unter diese Mächte“ (Erich Fromm). Diesen Honeymoon möchte sich der mit seiner Obrigkeit Übereinstimmende nicht gern von Nörglern vermiesen lassen.
Der regredierte Bürger
Das Verhältnis des Bürgers zu seiner Obrigkeit ist oft mit dem zwischen Kindern und ihren Eltern verglichen worden. Eine Familienkonstellation wird noch interessanter, wenn zur „Regierung“ — den Eltern — und den „braven Untertanen“ — Kindern — eine dritte Gruppe stößt: der Rebell beziehungsweise das rebellische Kind. Dieses lehnt sich oft mit aggressiven Ausdrucksmitteln gegen seine Erzieher auf. Wessen Partei wird das brave Kind in diesem Konflikt ergreifen: die des Rebellen, dessen Interessenlage der seinen normalerweise sehr ähnlich ist — mehr Freiheit, weniger Kontrolle —, oder die der Regierung, die die größere Macht besitzt, ihm zu schaden? Wir ahnen schon, dass die Regierung beziehungsweise das Elternpaar hier die weitaus besseren Karten haben. Noch interessanter wird es aber, wenn wir berücksichtigen, dass der Rebell nicht nur eine andere Person ist, die dem Braven von außen entgegentritt, sondern auch eine innere Instanz, die dieser in sich unterdrückt hat.
Um seine innerseelische Harmonie zu bewahren, kämpft der Unterworfene widerstrebende und chaotische Impulse in sich selbst nieder. „Aggression ist böse, Sex ist böse, atmen ist böse, sich berühren ist böse, sich nicht impfen lassen ist böse“, zählt Gunnar Kaiser im eben zitierten Videovortrag auf. Und weiter:
„Das führt aber dazu, dass das Ich diese bösen Impulse nicht integrieren kann, weil es das von sich abspalten muss. Es entwickelt dann ein ungesundes Verhalten. Es wird neurotisch. (…) Damit wird das Ich selber zu einem bloßen Instrument des Über-Ichs. Das Über-Ich sagt dir: Du sollst! Und das Ich führt aus und hat jetzt die schwere Aufgabe, das, was auch zu dem ganzen Organismus gehört, die Triebe, die Impulse, zu unterdrücken.“
Diese verbreitete Form der Selbstunterdrückung bringt einen ganz bestimmten Menschentyp hervor.
„Und daraus, aus dieser Instrumentalisierung des Ich, entstehen diese steifen Personen mit dem leeren Blick, die kaum lächeln oder die sich kaum trauen, jemanden zu umarmen. Oder die alles abnicken. Oder die alles rechtfertigen und rationalisieren — so eine Art viktorianische Persönlichkeit.“
Hass auf die moralisch Überlegenen
Als letztes Glied in dieser psychologischen Ereigniskette folgt oft die Projektion der eigenen Schattenanteile auf Menschen, die jene Impulse, die der Angepasste in sich niederhält, offen ausleben. Niemanden hasst der Unterdrückte und im Prozess der Anpassung sich selbst Unterdrückende mehr als diejenigen, die sein Verhalten einem Vergleich aussetzen, dem er nicht standhalten kann.
Feigheit wird erst dann in vollem Umfang als solche erkennbar, wenn sie mit dem Mut als Gegenbild konfrontiert ist. Das Bestreben des Untertanen ist es also, den noch aufrecht Gehenden entweder auf seine Seite zu ziehen oder sein rebellisches Verhalten zu diffamieren, ihm negative Absichten zu unterstellen.
Ziel ist die Auslöschung oder Unkenntlichmachung jedes Aufflammens von Mut in der Gesellschaft. Es soll keine legitime Form des Aufbegehrens gegen die Macht mehr geben. Dadurch stellen sich für Machthaber und ihnen ergebene Bürger zwei Aufgaben: Einerseits muss Aufbegehren durch eine überwältigende Gewaltandrohung verhindert werden, andererseits soll der Rebellierende delegitimiert werden. Wir sehen dann das traurige Bild eines Kalbes, das auf dem Weg zur Schlachtbank nicht seine Metzger beißt, sondern seinen Leidensgenossen, der verzweifelt an seinen Ketten zerrt.
Verrat an den Leidensgenossen
Schon immer gab es zum Glück Menschen, die sich für benachteiligte Minderheiten einsetzten, denen sie selbst nicht angehörten. Immer schon gab es aber auch die Mehrheit der Wegschauer und derer, die dem schon am Boden Liegenden noch einen Tritt gaben.
Dort, wo getreten wird, herrscht allgemeine Erleichterung darüber, dass nicht man selbst es ist, der getreten wird. So wie der folgsamere von zwei Brüdern froh ist, wenn er den Körper des aufsässigen wie einen Schutzwall zwischen sich und die Hand des prügelnden Vaters schieben kann: „Solange er den schlägt, bin ich sicher.“
Natürlich schossen auch in den härtesten Corona-Zeiten nicht alle mit spitzen Pfeilen auf Abweichler. Manche verletzten auf mildere, fast unmerkliche Weise, indem sie „Ungeimpften“ zum Beispiel zu verstehen gaben, dass sie sie „trotzdem“ mochten. Ein zuvor selbstverständlicher Umgang hatte den Charakter einer Gnade angenommen, die die Staatstreuen gewährten, aber jederzeit auch wieder entziehen konnten.
Bei der Bundeswehr — und wohl überall beim Militär — gibt es eine verbreitete Grausamkeit der Rekruten untereinander. In meiner Dienstzeit war es üblich, dass ein „Kamerad“ einem aus nichtigem Anlass einen Schlag auf den Oberarm versetzte, was man auszuhalten hatte, weil es zu einem gruppeninternen Ritual gehörte. Ebenso war es üblich, die frisch hinzugekommenen „Pimpfe“ den Mülleimer heraustragen zu lassen. Das sind nur eher harmlose Formen der Abfuhr von Aggressionen, die sich eigentlich gegen den Unterdrücker, die militärische Obrigkeit, richten müssten. Die Machthaber in Militär- und Gefängnissystemen dulden Gewalt unter ihren Opfern sehr häufig, weil die aufgestaute Wut dann nicht sie, die eigentlichen Täter, trifft. Mächtige geben sich gern verantwortungsbewusst, wollen aber nur selten die Verantwortung für eine Fehlentwicklung übernehmen, auch wenn sie diese verursacht haben.
Die Scheu vor Vergleichen, denen man nicht standhält
Schwächlich wirkende oder schüchterne Menschen dienen sehr häufig als die „idealen Opfer“. Vielfach richtet sich die Aggression der Mehrheit der Untertanen aber auch auf eine Gruppe, die an sich gar nicht schwach, gegen eine Übermacht jedoch trotzdem unterlegen ist: die Rebellen.
Unterworfene richten ihre Aggressionen anstatt auf den, der sie unterdrückt, auf den, der auf die Unterdrückung hinweist.
Kai Strittmatter beschreibt in seinem China-Buch die Mentalität des Untertanen sehr treffend:
„Ein besonderes Stadium der Taubheit ist jenes, in dem der Untertan alles hasst, was gut und gerecht ist. Jeder Idealist ist ihm ein Heuchler, jeder, der sich für Gerechtigkeit einsetzt, ist ihm ein schamloser Opportunist, der in Wirklichkeit nur für sich selbst handelt.“
Warum ist das so?
„Der Eindruck moralischer Unterlegenheit weckt bei Menschen überall Abwehrreflexe. Auch im Westen haben Studien gezeigt, dass jene, die als Einzige in einer Gruppe moralisch richtig handeln, sich nicht Bewunderung einhandeln, sondern Hass. Sie führen den anderen die eigenen Makel vor und erinnern daran, dass anderes Handeln eben doch möglich ist.“
Die Widerständigen sind „die letzte Erinnerung daran, dass ein anderes Leben möglich ist“.
Unterdrücker und Unterdrückte gegen Rebellen
Man kann in allen Krisen, die durch die Machtanmaßung einer „Elite“ verursacht wurden, das Phänomen der sich missionarisch gebärdenden Angepasstheit beobachten. Wer sich aufgegeben hat, will auch noch den letzten Widerständigen zur Selbstaufgabe überreden. Es genügt dabei nicht, selbst zur Mehrheit zu gehören und die rebellischen Kräfte machtlos zu wissen. Selbst eine sehr geringe Anzahl von Unangepassten kann nicht geduldet werden, weil deren Wirken gerade in einem ganz anders gefärbten Umfeld in „aufdringlicher“ Weise hervorsticht. Ab einem gewissen Grad der Durchdringung der Gesellschaft durch die Narrative und Machtmittel einer Herrscherclique ist die Ausweitung der Macht ein Selbstläufer.
Die Mehrheitsgesellschaft übernimmt das Geschäft der Umerziehung von Widerspenstigen im Sinne der Mächtigen, auch ohne von diesen dazu beauftragt oder gezwungen worden zu sein — um sich vor einer unbequemen Irritation des eigenen Selbstbildes zu schützen.
Sophie Scholl, die 1943 von den Nazis ermordete Freiheitskämpferin, soll gesagt haben:
„Der wirkliche Schaden geschieht durch jene Millionen, die ‚überleben‘ wollen. Die ehrlichen Männer, die nur in Ruhe gelassen werden wollen. Jene, die ihre kleinen Leben nicht durch etwas Größeres als sie selbst gestört haben wollen.“

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Quellen und Anmerkungen:
Natascha Kampusch: 3096 Tage, Ullstein, Berlin 2020.
George Orwell: 1984, Ullstein, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981.
Gunnar Kaiser: Videovortrag, 17. August 2021, https://www.youtube.com/watch?v=daq29z9MuxM&t=1630s.
Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert, Piper, München 2020.
Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, dtv, München 2012.