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Der andere Weg

Der andere Weg

Eine Graswurzelbewegung mit ehemaligen Kämpfern beider Seiten ist überzeugt, dass es für den Palästina-Israel-Konflikt keine militärische Lösung gibt — seit 2005 arbeiten sie an einer gewaltfreien Alternative.

Dania Rodrigues: Können Sie uns Ihre persönliche Geschichte erzählen?

Ahmed Helou: Meine Großeltern verließen Gaza zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zogen wegen ihrer Geschäfte nach Be’er Sheva. Meine Eltern wurden in Be’er Sheva geboren und wuchsen dort auf. Im Krieg von 1948 versuchten sie, nach Gaza zurückzukehren. Aber sie beschlossen stattdessen, nach Jericho zu fliehen, weil es nahe der jordanischen Grenze liegt. Sie dachten, wenn sie angegriffen würden, könnten sie leicht nach Jordanien fliehen.

Ich bin in Jericho aufgewachsen, habe die Geschichten über den Krieg von 1948 gehört und die bedrückenden Auswirkungen der Besatzung gespürt. Ich war zehn Jahre alt, als Israel 1982 den Libanon angriff. In meiner Kindheit hatte ich nicht den Luxus, mit meinen Freunden am Strand oder im Wald zu spielen: Ich dachte nur an Rache, Proteste und Gewalt. Als ich 15 Jahre alt war, trat ich der Hamas bei. 1992 wurde ich zu sieben Monaten Haft in einem israelischen Militärgefängnis verurteilt, weil ich palästinensische Flaggen hergestellt hatte, die zu dieser Zeit illegal waren.

Nach dem Gefängnis habe ich eine Jugendgruppe gegründet, um meiner Stadt und der Gesellschaft zu helfen. Wir begannen, als Freiwillige in Schulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen zu arbeiten. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und bin Freiwilliger bei den Krankenwagen des Palästinensischen Roten Halbmonds geworden. Während der Zusammenstöße 1996 in Ostjerusalem rannte ich los, um einem bewusstlosen Mann zu helfen, der zufällig ein alter Freund war, aber ich wurde von einem israelischen Soldaten in den Rücken geschossen und brach zusammen.

Ich lag drei Tage lang im Koma. Als ich nach Jericho zurückkam, fragte ich meine Familie nach meinem Freund. Mein Bruder erzählte mir, dass er an jenem Tag verstorben war. Er brachte mich zum Friedhof. Dort waren vier Gräber: eines für meinen 21-jährigen Freund und zwei weitere für andere Menschen, die bei den Zusammenstößen ums Leben gekommen waren. Das vierte Grab war leer. Mein Bruder sagte mir, es sei für mich, weil alle überzeugt waren, dass ich sterben würde! Nach sechs Monaten Rehabilitation begann ich langsam wieder zu laufen, obwohl die Kugel bis heute in meinem Nacken steckt.

Dania Rodrigues: Und was war der Wendepunkt in Ihrem Leben? Wann haben Sie beschlossen, dass Gewaltlosigkeit das Mittel ist, um die Besatzung in Palästina zu beenden?

Ahmed Helou: Es gab nicht nur einen einzigen Moment, sondern es war ein langer Prozess. Ein wichtiger Punkt war das Oslo-Abkommen: Ich war sieben Monate im Gefängnis, weil ich eine palästinensische Flagge hergestellt hatte. Einen Tag vor dem Abkommen waren palästinensische Flaggen illegal und das israelische Volk war der Feind. Einen Tag später wurde die Flagge legalisiert, und wir wurden Freunde der Israelis. Ich speicherte das irgendwo in meinem Gedächtnis.

Dann traf ich 1998 zum ersten Mal Menschen aus anderen Ländern in einem internationalen Treffen in Jericho und gewann neue Perspektiven: Es hat mir eine neue Welt eröffnet. Ich begann zu denken, dass es vielleicht möglich war, eine Lösung zu finden, ohne Menschenleben zu verlieren. Dann lud mich eine Freundin zu einem Workshop mit einigen Israelis ein. Ich war schockiert. Ich begann, sie anzuschreien:

„Wie kannst du mich bitten, meinen Feind zu treffen? Die Leute zu treffen, die mein Volk getötet haben? Die mir mein Land genommen haben? Die mich zu einem Flüchtling gemacht haben? Die mich ins Gefängnis gesteckt und meine Heimatstadt besetzt haben? Wie soll ich diese Leute treffen?“

Ich beschloss, hinzugehen, aber nicht mit ihnen zu sprechen. Aber nach vier Tagen fragte ich sie: „Seid ihr sicher, dass ihr Israelis seid?“ Ich hatte zuvor noch nie Zivilisten getroffen.

In dem Seminar hatte ich die Gelegenheit, über Menschenrechte, palästinensische Rechte, die beiden Staaten ... zu sprechen. Und danach wollte ich mehr über die andere Seite erfahren, Beziehungen aufbauen, sie verstehen. Ich habe weiterhin Workshops gegeben und an einem Seminar in Deutschland mit Israelis, Palästinensern und Deutschen teilgenommen.

2013 lud mich Sulaiman ein, bei der Joint Memorial Day Zeremonie eine Rede zu halten. Danach schloss ich mich Combatants for Peace an. Sulaiman hat mich sehr unterstützt. Ich habe eine kleine Initiative namens „Visit Palestine“ (auf Deutsch: „Besucht Palästina“) ins Leben gerufen, bei der es sich um eine politische Tour handelte. Ich habe Israelis mitgenommen, um das Westjordanland zu besuchen, um Jericho zu besuchen. Ich sagte ihnen, sie sollten nur Hebräisch sprechen, um die Reaktion der Palästinenser zu sehen.

Sulaiman Khatib: Gewaltlosigkeit ist kein westliches Konzept. Seit Tausenden von Jahren praktizieren wir in unseren Gemeinschaften Konfliktlösung, in den Sulha.

Der Glaube an Gewaltlosigkeit war auch für mich ein langer Weg und nicht etwas, was an einem Tag passiert ist. Ich habe seit meinem 15. Lebensjahr im Gefängnis Hebräisch und jüdische Geschichte studiert, und mir wurde bewusst, wie komplex die Narrative sind. Wie jede Gruppe sich selbst sieht. Das hat mir geholfen zu verstehen, was wir „die Anderen“ nennen, und vielleicht auch etwas Empathie geschaffen.

Dann habe ich weiter studiert und in der Bibliothek gearbeitet … Menschen wie Mandela, Gandhi, Luther King und andere, die Vergebung und einen ganzheitlichen Ansatz fördern, haben mich sehr inspiriert. Ich habe etwas über andere Revolutionen in Algerien, Vietnam und Südamerika gelernt und darüber, dass die meisten davon leider gegen sich selbst gerichtet waren. Das war für mich ein großes Warnsignal, ich wollte nicht dieselben Fehler wiederholen.

Gewaltfreie Bewegungen sind in der Regel stabiler, bieten mehr Möglichkeiten für eine nachhaltige Führung und Machtumwandlung als gewaltsame Revolutionen — Gewalt lässt sich leicht legitimieren, und wer einmal Gewalt anwendet, hat das Recht, dies immer wieder zu tun.

Mit der Zeit kam ich zu dem Schluss: In der Praxis gibt es keine militärische Lösung für unsere Sache. Die Israelis werden hier bleiben. Wir werden hier bleiben. Und im Grunde genommen müssen wir einen Weg für das Leben finden.

Das erste Mal, dass ich Gewaltlosigkeit praktizierte und einen Eindruck von ihrer Kraft bekam, war während eines Hungerstreiks im Gefängnis. Wir waren 120 Kinder unter 18 Jahren und verzichteten 16 Tage lang auf Essen, nahmen nur Salz und Wasser zu uns. Wir forderten die Verbesserung der Haftbedingungen. Und wir hatten Erfolg. Wir haben es ein paar Mal gemacht, und es hat immer funktioniert. Es ist ein viel schwierigerer Weg als Gewalt, aber viel erfolgreicher.

Ich glaube, dass wir alle Gewalt und Gewaltlosigkeit in uns tragen. Jeder. Das gilt nicht nur für Propheten oder Menschen wie Gandhi. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, sich zu wandeln und zu verändern. Und du musst weiter an dir arbeiten, denn die Auslöser treten täglich auf. Es handelt sich nicht um eine Situation nach einem Konflikt.

Jeden Tag wirst du an einem Kontrollpunkt gedemütigt und fragst dich, ob du reagieren sollst oder nicht. Aber ich entscheide mich dagegen, aufgrund meiner Überzeugung.

Es geht nicht um die Israelis, sondern um jeden Einzelnen von uns. Weil ich weiß, dass Gewalt noch mehr Gewalt nach sich zieht, sogar innerhalb unserer eigenen Gesellschaften. Aber Achtung: Gewaltlosigkeit bedeutet nicht, dass wir passiv sein sollten. Es bedeutet, aus einem Zustand der Opferrolle herauszukommen und zu handeln, indem man das System stört. Wir müssen uns dagegen wehren: Jemand muss Alternativen aufzeigen.

Elisa Gratias: Aber wie lässt sich Gewaltfreiheit in einem derart gewalttätigen Kontext in die Praxis umsetzen? Wie schafft man es, nicht zu reagieren, wenn man an einem Kontrollpunkt gedemütigt wird? Welche innere Arbeit müssen Sie leisten und wie setzen Sie sie in Ihrem Alltag um?

Sulaiman Khatib: Im Grunde genommen muss man seine Wut steuern. Ich erzähle dies aus eigener Erfahrung, nicht aus der Forschung, nicht aus der Wissenschaft.

Im Allgemeinen bin ich ein ruhiger Mensch. In einem Krieg, in einer Krise reagiere ich nicht. Mein Verstand funktioniert anders. Er arbeitet strategisch, nicht reaktiv. Dadurch bin ich in der Lage, Wut zu absorbieren und zu erkennen. Ich kann Frust, Wut und manchmal sogar den Wunsch nach Rache nicht leugnen. Aber das hält nicht lange an. Und ich schaffe es, morgens mit einem sehr klaren Gefühl aufzuwachen.

Elisa Gratias: Wo finden Sie Ihre Kraft?

Sulaiman Khatib: Ich gehe in die Wüste. Dort kann ich mich gut regulieren. Ich bin so oft dort, dass meine Freunde sie mein Büro nennen. Hier, in der Gegend um das Tote Meer, schöpfe ich meine Energie. Es ist eine sehr spirituelle Gegend. Ich bin nicht religiös, aber sie liegt in der Nähe der Taufstätte Jesu. Dort ist ein sehr starkes Energiefeld. Das hilft mir wirklich sehr. Das Gemeinschaftsgefühl hilft mir auch, zu wissen, dass man nicht allein ist, dass auch andere an Friedensarbeit glauben.

Ich weiß, dass es ein langer Weg ist. Ich erwarte keine Ergebnisse am nächsten Tag. So funktioniert das nicht. Wir ernten die Oliven von Bäumen, die jemand für uns gepflanzt hat, und wir pflanzen die Bäume für diejenigen, die nach uns kommen werden. Der Kampf der Afroamerikaner hat uns gezeigt, dass es keine schnellen Ergebnisse gibt. Es handelt sich nicht um einen westlichen Vorschlag zur Konfliktlösung für drei Jahre. So läuft das nicht. Es ist viel komplexer. Deshalb gehen manche Leute weg.

Dania Rodrigues: Sulaiman, wie war Ihr erster Kontakt zu den Israelis? Wie sind Sie auf die Idee zu „Combatants for Peace“ gekommen?

Sulaiman Khatib: Nach dem Gefängnis gehörte ich bereits zu palästinensischen Kreisen, die sich für Gewaltlosigkeit einsetzten. Und weil ich Hebräisch konnte, hörte ich von Israelis, die sich weigerten, in der Armee zu dienen. Also schlug uns 2005 ein Freund vor, dass wir uns mit einigen israelischen Verweigerern und ehemaligen palästinensischen Häftlingen treffen sollten. Wir wussten nicht, dass daraus „Combatants for Peace“ werden würde! Wir hatten ein Jahr lang geheime Treffen in der Gegend von Bethlehem.

Am Anfang vertrauten wir uns natürlich nicht gegenseitig und dachten, jemand könnte vom Geheimdienst sein. Aber mit der Zeit lernten wir uns kennen und erfuhren mehr über unsere Geschichten. Wir haben einige Vereinbarungen über Gewaltfreiheit und über die Besatzung getroffen. Und dann wurden Chen Alon und ich 2006 ausgewählt, um vor 50 Palästinensern und Israelis im Everest Hotel unsere persönlichen Geschichten zu erzählen.

Es war sehr angespannt, weil wir einige heikle Details preisgegeben hatten und befürchteten, dass sich die Menge gegen uns wenden würde. Chen, der Israeli ist, erzählte beispielsweise von einem Hausabriss, den er während seiner Zeit bei der Armee in einer Stadt namens Khadr in der Nähe von Bethlehem durchgeführt hatte. Und ich erzählte auch, dass ich mit 14 Jahren zwei Israelis erstochen habe.

Dania Rodrigues: Können Sie mir einige praktische Beispiele für die Art von Arbeit nennen, die Sie mit den lokalen Gemeinschaften entwickeln? Und auf internationaler Ebene?

Ahmed Helou: Wir unterstützen palästinensische Gemeinden im Westjordanland durch praktische, solidarische Aktionen. Dazu gehören die Organisation gemeinsamer Olivenernten, das Pflanzen von Bäumen und der Wiederaufbau von Häusern nach Zerstörungen durch das Militär. Wir bekämpfen die Strukturen der Unterdrückung auch durch gewaltfreien zivilen Ungehorsam. Unsere Aktivisten setzen sich mit ihrem Körper ein, um gegen ungerechte Politik und gewalttätige Praktiken vorzugehen, und weigern sich, sich dem Besatzungssystem zu fügen. Wir beobachten und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und Gewalt durch Siedler und das Militär im C-Gebiet. In unserer Freedom School bieten wir verschiedene Schulungen an, die sich gegen Entmenschlichung richten und einen anderen Weg in die Zukunft aufzeigen.

Wir bringen auch israelische und palästinensische Gemeinschaften zusammen, um zu heilen, zusammenzuarbeiten und die Grundlage für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Wir führen auch gemeinsame Demonstrationen und Zeremonien sowie gewaltfreie direkte Aktionskampagnen durch. Außerdem sind wir im Bereich der internationalen Interessenvertretung tätig und organisieren Führungen für Diplomaten.

Ich selbst bin für die Kurse zur Gewaltfreien Kommunikation verantwortlich — ich habe in Estland und Rumänien eine Ausbildung absolviert und eine Zertifizierung erhalten. Ich denke, der entscheidende Punkt ist, den Entmenschlichungsprozess zu stoppen, denn die Gräueltaten können nur geschehen, wenn man den „Anderen“ nicht als Menschen sieht. Und um den Wert eines Menschenlebens zu vermitteln. Ich sage meinen Kindern und meinen palästinensischen Schülern, dass sie niemals einem Soldaten einen Grund geben sollen, sie zu töten. Denn Gott hat uns geschaffen, um zu leben, nicht um zu sterben.

Dania Rodrigues: Was geschah nach dem 7. Oktober 2023?

Sulaiman Khatib: Einige dachten, dass dies das Ende unserer Bewegung sein würde. Es war sicherlich unsere größte Herausforderung überhaupt. Es ist ein großer Krieg, die Menschen verlieren sofort die Hoffnung, jeder geht zu seinem Stamm. Das ist völlig verständlich. Nicht alle blieben nach dem 7. Oktober; das war zu erwarten. Einige Israelis fragten, ob sie gegen die Hamas kämpfen und dann wieder zu Combatants zurückkehren könnten. Wir haben nein gesagt. Wir dürfen nicht in der Armee dienen; das ist eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit. Wir leiden jeden Tag unter Demütigungen und Besatzung, und dennoch entscheiden wir uns für Combatants for Peace. Aus der inneren Gruppe schloss sich nur ein israelischer Koordinator den Sanitätern an.

Und seit dem Krieg und dem Völkermord in Gaza wurden so viele unserer Freunde getötet, verletzt oder entführt ... Dennoch blieb der Großteil unserer Gruppe vor Ort, und seitdem ist unsere Verbindung noch viel stärker geworden — dies bewies, dass die Bindung, die wir über 20 Jahre hinweg zu einigen unserer israelischen Partner geknüpft hatten, trotz der ungleichen Machtverhältnisse wirklich stark war. Vertrauensbildung funktioniert wirklich. So konnten wir nach dem 7. Oktober weitermachen. Selbst die BBC und die Mainstream-Medien haben Interesse an uns gezeigt, obwohl wir nur eine kleine Gruppe sind, weil wir eine andere Meinung vertreten.

Ahmed Helou: Nach dem 7. Oktober habe ich mich drei Monate lang isoliert und mein Haus nicht verlassen. Ich saß einfach vor dem Fernseher, hörte die Nachrichten und versuchte, meine Schwestern, meine Neffen und meine Verwandten in Gaza zu erreichen ... Auch von meinen israelischen Freunden habe ich viel Unterstützung bekommen; sie haben immer wieder nach meiner Familie gefragt. Aber es war so schwer. Bis jetzt wurden mehr als 160 Menschen aus meiner Familie ermordet. Einige waren Kinder mit Träumen, die zu Nummern wurden. Um der zukünftigen Generationen willen: Genug ist genug.


Sulainman Khatib und Ahmed Helou bei einem internationalen Treffen von Aktivisten aus verschiedenen Befreiungsbewegungen im Friedensforschungszentrum Tamera in Südportugal im Juli 2025, Fotos: Elisa Gratias


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