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Der eigene Anteil

Der eigene Anteil

Es wird oft über „die da oben“ geschimpft, anstatt sich die unbequeme Frage zu stellen, was man selbst zu den Umständen beiträgt, deren Herbeiführung man sinistren Mächten unterstellt.

1. Die Patientenakte: 5 von 20

Seit dem ersten Tag, an dem der Koalitionsvertrag im April 2025 veröffentlicht wurde, wird ein Vorhaben von den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder kritisiert: CDU, CSU und SPD wollen die Nutzung der elektronischen Patientenakte vorantreiben. Genau hier setzt die Frage nach dem eigenen Anteil an: Wie viele Personen, die dieses Vorhaben heute zu Recht kritisieren, haben einer Anlegung ihrer elektronischen Patientenakte bei ihrer Krankenkasse widersprochen?

Bis Mitte April 2025 — bis dahin hatten die Bürgerinnen und Bürger mehrere Monate Zeit, zu widersprechen — haben „(e)twas mehr als fünf Prozent der Versicherten“ Einspruch eingelegt. Der Anteil an Widersprüchen schwankt unter den Krankenkassen. So haben zum Beispiel bei der Techniker Krankenkasse 7 Prozent widersprochen, bei der Barmer sind es „5,6 Prozent“. Doch insgesamt betrachtet liegt der Anteil eben nur bei etwas mehr als 5 Prozent. Zum Vergleich: Selbst das Bundesgesundheitsministerium unter dem ehemaligen Minister Karl Lauterbach (SPD) hatte mit einer Widerspruchsquote von rund 20 Prozent gerechnet.

Heute freiwillig, morgen Pflicht?

Außerdem kann es gut sein, dass die Regierung ihr Vorhaben hinsichtlich der elektronischen Patientenakte noch einmal ändern wird.

Friedrich Merz (CDU) hat sich im Wahlkampf für finanzielle Nachteile für die Personen ausgesprochen, die der elektronischen Patientenakte widersprochen haben. Seine Idee hat es offenbar nicht in den Koalitionsvertrag geschafft, zeigt aber, wie flexibel und paternalistisch hier gedacht wird.

Und dass die elektronische Patientenakte wahrscheinlich nicht freiwillig bleiben wird, zeigt schon die Tatsache, dass die individuellen Gesundheitsdaten der Bürgerinnen und Bürger einfach zu verführerisch sind. Der Personalausweis wie auch der Führerschein sollen auf das Smartphone kommen, die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD will allen Bürgerinnen und Bürgern eine elektronische Identität geben, aber bei den individuellen Gesundheitsdaten machen sie halt?

Wenn die Widerspruchsquote aller Versicherten mindestens die 20 Prozent erreicht hätte, dann würde das für zukünftige politische Projekte eine ganz andere Ausgangslage bilden als die bisher erreichten 5 Prozent.

Und wie schnell es mit der Freiwilligkeit vorbei sein kann, zeigt ein Rückblick in die Coronazeit.

2. Die Coronaregeln leben weiter

Zu der Zeit, als die Coronamaßnahmen wie die 3G- oder 2G-Regel das Leben bestimmt haben, schien es, als würde sich die Kritik an den Maßnahmen nicht nur gegen den „Pieks“ richten, sondern auch gegen die technischen Komponenten wie etwa den QR-Code auf dem Smartphone beim Einlass. Letztere verschwanden jedoch nicht mit den Coronamaßnahmen. Das technische Element wird ohne Widerstand fortgeführt. Seit 2021 verkauft der Dienstleister CTS EVENTIM AG & Co. KGaA (kurz: eventim) hierzulande für einige Konzerte ausschließlich digitale Tickets. Das bedeutet für die Besucherinnen und Besucher, dass sie, um das jeweilige Konzert besuchen zu können, bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie benötigen ein Smartphone, müssen die hauseigene App herunterladen und sich dort registrieren, online die Tickets kaufen und beim Einlass den Barcode beziehungsweise QR-Code vorzeigen.

Kurzum: Es handelt sich indirekt um einen Online- und Smartphonezwang. Denn wer gerne das Konzert besuchen möchte, die Zeit und das Geld dafür hat, aber die genannten technischen Voraussetzungen nicht erfüllt, muss im wahrsten Sinne des Wortes draußen bleiben. Kritik? Fehlanzeige! Die Konzerte von zum Beispiel Ed Sheeran, Adele, Nick Cave & The Bad Seeds und anderen Künstlerinnen und Künstlern waren gut besucht. Und ein kurzer Blick auf die Webseite von eventim zeigt, dass noch weitere Konzerte folgen werden, für die es ausschließlich digitale Tickets zu kaufen geben wird.

3. „Bargeldlos im Bus“

Mit dieser Überschrift haben die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) letztes Jahr auf ihrer Webseite angekündigt, dass „(i)n allen Bussen der BVG (...) ab 1. September 2024 nur noch bargeldlos bezahlt werden“ kann.

So deutlich wie diese kurze Ankündigung fiel auch die Reaktion der Berlinerinnen und Berliner aus. Laut einer für den Tagesspiegel exklusiven Civey-Umfrage finden „57 Prozent der Befragten“ das Vorgehen der BVG nicht richtig.

Doch wie viele Personen von diesen 57 Prozent haben sich bisher bei der BVG beschwert, zum Beispiel eine Mail geschrieben, im Kundencenter mit einem Mitarbeiter gesprochen und sich dort beschwert oder der Senatsverwaltung für Mobilität und Verkehr geschrieben, die diesen Vorgang genehmigt hat?

4. Die digitale Identität

Im vierten und letzten Beispiel steht die „digitale Identität“ im Fokus, zu der die aktuelle Regierung aus CDU/CSU und SPD laut dem Koalitionsvertrag alle Bürgerinnen und Bürger verpflichten wird. Dieses Vorhaben treibt der erste Bundesminister für Digitalisierung und Staatsmodernisierung Karsten Wildberger voran. Er führt das erste „Digitalministerium auf Bundesebene“ an. In seiner ersten Rede vor dem Parlament sagte er:

„Zum digitalen Staat gehört auch, dass jeder Mensch eine digitale Identität erhält. Eine digitale Wallet, eine Wallet, die das Leben erleichtert. Vom Personalausweis, über den Führerschein, bis zur Fahrkarte. Alles in einem digitalen Portemonnaie. Das ist eine Digitalisierung, die bei den Menschen ankommt.“

Er erwähnt es zwar nicht, doch auch hier kann es sich in der Praxis nur um einen Online- wie auch Smartphonezwang handeln. Die totale Überwachung ist komplett.

Im November 2011 hat die heute-show einen Beitrag des Satirikers Martin Sonneborn ausgestrahlt. Er hat mit Wolfgang Schmidt, einem Ex-Oberstleutnant von der Staatssicherheit, ein Interview über das Medium Facebook geführt. Das Ministerium für Staatssicherheit (kurz: Stasi) war der Geheimdienst und auch die Geheimpolizei in der DDR. Es gibt zu dem erwähnten Beitrag keinen offiziellen Link mehr, es lassen sich nur wenige Kanäle finden, die dieses Video hochgeladen haben (1).

In dem kurzen Beitrag stellt Sonneborn in seiner gewohnt satirischen Art Fragen wie „Ist Facebook eigentlich für einen Geheimdienstler ein Geschenk, mit dem er im Prinzip gar nicht mehr gerechnet hätte?“ Die Antwort, die definitiv keine Satire in sich trägt, fällt eindeutig aus:

„Wenn alle Personen schon ihre Verbindungen, ihre Freunde, ihre Bekannten preisgeben, dann muss man das nicht mehr ermitteln, das ist erst mal schon klar.“

Schmidt weiter:

„Im Grunde ist ja durch diese Entwicklung der digitalen Revolution die totale Überwachung aller Bürger zu jeder Zeit möglich geworden, technisch möglich geworden.“

Auf Sonneborns Frage, ob für seinen Interviewpartner noch irgendetwas zur totalen Überwachung fehlen würde, antwortet Schmidt nach kurzer Überlegungszeit:

„Was soll da noch fehlen, es ist ja alles da.“

Das war also bereits 2011 der Stand aus der Sicht eines Ex-Oberstleutnants der Staatssicherheit.

Der unsichtbare Totalitarismus

Passend zu dem Thema Digitalpolitik erschien vor zehn Jahren im SPIEGEL ein Interview mit dem Soziologen Harald Welzer (2). Zu dieser Zeit hatte er sich bereits „jahrelang mit dem Verhalten der Menschen in totalitären Regimen beschäftigt“, nun äußerte er sich zu der Macht der großen Technikkonzerne und ihrem Einfluss auf die Gesellschaft. Außerdem sollte bald sein neues Buch „Autonomie“ veröffentlicht werden.

Aufgrund der Datenfülle, die die Konzerne durch die technischen Geräte sammeln, sieht Welzer „uns auf dem Weg in einen neuen Totalitarismus“. Er will die Digitalkonzerne nicht mit bereits vergangenen totalitären Systemen gleichsetzen, sondern darauf aufmerksam machen, dass es hier „um einen schleichenden, gewaltlosen Wechsel der Herrschaftsform“ geht. Welzer weiter:

„Wir kannten bislang nur Formen des Regimewechsels, die mit einem Austausch des Personals einhergingen.“

Für den Soziologen stellt sich die Frage, ob heute die Fassade gewahrt werden kann, doch „die Machtverhältnisse (sich) ändern“ können.

Auf die Frage, wo Welzer heute die Bedrohung einer totalen Herrschaft sieht, antwortet er:

„Diktaturen arbeiten immer zuerst an der Abschaffung der Privatheit und des Geheimen und Verborgenen. Denn nur so lassen sich Menschen effektiv kontrollieren. Google und Co. arbeiten auch an der Abschaffung des Privaten. Und sie kontrollieren schon jetzt mehr als bloß das Internet. Sie kontrollieren mehr und mehr unser soziales Leben. Sie setzen Normen. Sie entscheiden, was gut ist, wie ein Leben auszusehen hat, wie Zusammenleben auszusehen hat. (…) Es droht ein Totalitarismus ohne Uniform.“

Technik als Spitzel

Welzer bezeichnet sich selbst als „digital nicht affin“. Wieso denkt er also über die Machtverhältnisse der Digitalkonzerne nach? Seine Antwort:

„Wir haben eine Studie über Menschen gemacht, die im Nationalsozialismus verfolgte Menschen versteckt haben. Plötzlich war da der Gedanke: Es haben damals nicht viele überlebt, aber es haben doch ein paar tausend geschafft, weil selbst so eine totalitäre Gesellschaft wie der Nationalsozialismus nicht eindringen konnte in bestimmte Bereiche. Und dann der Gedanke: Unter den Bedingungen von heute würde keiner unentdeckt bleiben. Es hätte keiner überlebt.“

Daten und Macht

Doch nun zurück zur digitalen Identität, dem Anliegen der neuen Regierung unter dem Kanzler Friedrich Merz (CDU): Wenn doch schon 2011 und 2015 mit den bereits vorhandenen technischen Mitteln die totale Überwachung möglich war, wie kann es dann noch heute zu dem politischen Projekt einer digitalen Identität für alle Bürgerinnen und Bürger kommen?

Hierzu gibt es zwei Antworten. Die erste betrifft die Politik. Die beiden Interviews zeigen, dass die Macht der Digitalkonzerne von hoher Bedeutung war. Und in dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wird klar, dass das auch heute noch der Fall ist. Denn dort schreiben die Regierungsparteien unmissverständlich: „Digitalpolitik ist Machtpolitik“ (3). Die digitale Identität, die elektronische Patientenakte, der Ausbau der BundID und alle weiteren Projekte dieser Art sind kein Zufall. Sie werden von oben gesetzt. Hier handelt es sich also um die Interessen der Regierungen und von einigen Firmen, aber nicht um ein natürlich wachsendes Bedürfnis eines signifikanten Teil der Bevölkerung. An dem Beispiel der BundID lässt sich gut erkennen, dass viele Menschen kein Interesse an ihr hatten. Erst der Zwang, kein Geld ohne BundID, trieb die Nutzerzahlen nach oben. Doch genau hier setzt die zweite Teilantwort an, die jede Bürgerin und jeden Bürger anspricht und im besten Fall einen Prozess der Reflexion auslöst: Seitdem die Entwicklungen in den beiden Interviews angesprochen wurden, sind einige Jahre vergangen. Welche technischen Entwicklungen habe ich bisher geduldet? An welchen habe ich bewusst mitgewirkt und aus welchen Gründen? Vielleicht aus Bequemlichkeit?


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Es handelt sich um die Folge vom 25. November 2011 (Staffel 4, Folge 11, insgesamt die 69. Folge der heute-show). Martin Sonneborn wurde 2014 in das EU-Parlament gewählt. Sie können diesen Beitrag hier, hier, hier oder hier sehen.
(2) SPIEGEL Nr. 8 / 13. Februar 2015. In einem Land gleich nebenan.
(3) Koalitionsvertrag: Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 21. Legislaturperiode. Seite 66.

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