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Der Epochenbruch

Der Epochenbruch

Die Menschheit unterwirft sich widerstandlos dem Despotismus, weil sie intuitiv spürt, dass die Welt, wie wir sie kannten, enden muss.

von Giorgio Agamben

Das, was heute im planetaren Maßstab geschieht, ist gewiss das Ende einer Welt. Aber nicht — wie für die, die sie gemäß ihren Interessen zu regieren suchen — im Sinne eines Übergangs zu einer Welt, die den neuen Bedürfnissen des menschlichen Zusammenlebens besser gerecht wird. Das Zeitalter der bürgerlichen Demokratien geht unter, mit seinen Rechten, seinen Verfassungen und seinen Parlamenten; aber jenseits der rechtlichen Schale, die gewiss nicht unwichtig ist, endet vor allem die Welt, die mit der industriellen Revolution begann und die wuchs bis zu den zwei — oder drei — Weltkriegen und den Totalitarismen, die sie begleitet haben, den tyrannischen und den demokratischen.

Wenn die Mächte, die die Welt beherrschen, es für nötig erachteten, auf Mittel und Maßnahmen zurückzugreifen, die so extrem sind wie die Biosecurity und der Gesundheitsterror, die sie überall und ohne Rücksicht installiert haben, die ihnen nun aber zu entgleiten drohen, dann deshalb, weil sie allem Anschein nach fürchteten, keine andere Wahl zu haben, um zu überleben.

Und wenn die Menschen die despotischen Maßnahmen und die unerhörten Beschränkungen akzeptiert haben, denen man sie ohne jede Garantie unterwarf, so nicht nur aus Angst vor der Pandemie, sondern wahrscheinlich auch, weil sie, mehr oder weniger unbewusst wussten, dass die Welt, in der sie bisher gelebt hatten, nicht fortbestehen konnte, weil sie zu ungerecht und unmenschlich war. Es versteht sich von selbst, dass die Regierungen eine noch unmenschlichere Welt vorbereiten, noch ungerechter; aber jedenfalls ahnte man schon in gewisser Weise, dass die frühere Welt — wie man sie jetzt zu nennen beginnt — nicht fortbestehen konnte.

In dieser wie in jeder dunklen Vorahnung liegt gewiss ein religiöses Element. Die Gesundheit hat das Heil ersetzt, das biologische Leben hat die Stelle des ewigen Lebens eingenommen und die Kirche, längst gewohnt, Kompromisse mit den weltlichen Erfordernissen zu schließen, hat jener Ersetzung mehr oder weniger explizit zugestimmt.

Wir beweinen nicht noch einmal diese Welt, die endet, wir haben keinerlei Sehnsucht nach der Idee des Menschlichen und des Göttlichen, welche die unerbittlichen Wellen der Zeit auslöschen wie ein Gesicht aus Sand auf dem Strand der Geschichte.

Aber mit gleicher Entschiedenheit lehnen wir das nackte, gesichtslose Leben und die Gesundheitsreligion ab, die uns die Regierungen vorsetzen. Wir erwarten weder einen neuen Gott noch einen neuen Menschen — wir suchen vielmehr hier und jetzt, zwischen den Ruinen, die uns umgeben, eine demütige, einfachere Form zu leben, die keine Fata Morgana ist, weil wir Erinnerungen an sie und Erfahrung mit ihr haben, auch wenn in uns und außerhalb von uns widrige Kräfte sie stets aufs Neue in die Vergessenheit drängen.


Giorgio Agamben, Jahrgang 1942, lehrt heute als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti der Universität Iuav in Venedig, an der European Graduate School in Saas-Fee sowie am Collège International de Philosophie in Paris. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.


Redaktionelle Anmerkung:
Dieser Text erschien unter dem Titel „Sul tempo che viene“. Er wurde von Thorsten Schewe aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.


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