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Der formbare Mensch

Der formbare Mensch

Anstatt uns nur über Manipulatoren zu beschweren, sollten wir uns bemühen, künftig weniger manipulierbar zu sein.

Eine Frage, die sich mir nach meinem Abschied von den Zeugen Jehovas oft stellte, war: Manipuliert die Sektenführung bewusst und absichtlich ihre Mitglieder?

Bevor diese Frage im Folgenden aufgelöst wird, soll der Begriff der Manipulation vom Pathos befreit und sachlich definiert werden. Bedeutete Manipulation zunächst nur, mit einer Sache geschickt umgehen zu können, ist diese Bezeichnung heute durchgängig negativ konnotiert: „Als Manipulation von Menschen wird die Einflussnahme bezeichnet, bei welcher die Annahme einer Meinung, Ware oder Dienstleistung durch die Zielperson zu einem Nachteil für diese führen kann“, erklärt die große Suchmaschine den Begriff.

Nach dieser Definition ist jede Werbung auf dem Konsummarkt bereits Manipulation. Immerhin werden auch Produkte beworben, deren „Annahme zu einem Nachteil führen kann“, seien es bestimmte „Lebensmittel“ oder PS-starke Fahrzeuge.

Wenn ich beispielsweise meinen geliebten Lebenspartner rhetorisch geschickt dazu bewege, an diesem Abend mit mir einen Besuch bei einem Freund zu machen, weil ihn dort eine Überraschungsparty erwartet, manipuliere ich, ohne dass damit „ein Nachteil für die Zielperson verbunden ist“. Und hier wird es schon interessant: Jede Manipulation korreliert nämlich mit den Neigungen eines Menschen.

Wahrheit maßgeschneidert und hausgemacht

Jeder von uns lebt mit einem Weltverständnis, welches wir uns im Laufe unseres Lebens angeeignet haben. Dieses Verständnis ist nicht neutral — und wir haben für manche Erfahrung teuer bezahlt. Es ist nicht die sachliche Dimension der Erfahrung selbst, die zählt, sondern unsere individuelle Bewertung derselben. Deshalb sind wir grundsätzlich davon überzeugt, dass das, was wir erfahren haben, wahr ist. Diese Wahrheit verteidigen wir unbewusst nach außen hin. Wenn ich also die Erfahrung verinnerlicht habe, dass Krankheit lebensgefährlich ist, werde ich eher dazu neigen, gewisse Maßnahmen zur Pandemie-Prävention zu begrüßen und als „richtig“ zu empfinden. Ich werde empfänglich für Botschaften, die mit meiner Angst vor Krankheit oder Ansteckung korrelieren.

Mein Kritikvermögen ist also auf diesem Gebiet von vornherein reduziert; ich würde dann Anstrengungen der Regierung oder der Pharmaindustrie in diese Richtung nicht als manipulativ verstehen. Gleichzeitig deute ich kritische Auseinandersetzungen mit dem Thema als Bestätigung der Richtigkeit meiner eigenen Position, denn der Kritiker ist zwangsläufig auf der falschen Seite.

Dieser Mechanismus ist von immenser Bedeutung:

Wir verteidigen in Wirklichkeit nicht eine verifizierbare „Wahrheit“, sondern die Integrität unseres eigenen Selbst- und Weltverständnisses. Wir wollen recht haben. Unser ganzer Lebensentwurf hängt daran. Der Preis ist hoch.

Fakten sind hier nebensächlich. Als ich in der Zeit meines Sektenausstiegs mit verschiedenen Fakten aufwartete, die die Stichhaltigkeit der Bibelauslegung der Zeugen Jehovas bedrohten, schien das keinen Glaubensbruder und keine Glaubensschwester, welche ich damit konfrontierte, zu interessieren. Fakten oder belegbare Daten widersprechen und bedrohen ihren Lebensentwurf; diesen infrage zu stellen, würde möglicherweise irreversible, für das Leben der Gläubigen nachteilige Entscheidungen zutage treten lassen.

Wir manipulieren uns in der Sehnsucht nach einem kohärenten Weltbild ständig selbst.

Allerdings ist nicht jede Manipulation automatisch negativ, denn, wie bereits angedeutet, der Manipulator kann es mit seinen Absichten durchaus gut meinen.

Die zwei Seiten der Manipulation

Problematisch wird es erst, wenn entweder 1. die Absichten des Manipulators unlauter sind oder 2. der Manipulator von der Richtigkeit seiner Inhalte überzeugt ist, obwohl diese „zu einem Nachteil für die Zielperson führen“ können.

Ersteres wird von offiziellen Stellen gerne alternativen Medien unterstellt. Aus diesem Grunde wurden „Faktenchecker“ ins Leben gerufen. Dabei geht man davon aus, dass gar kein echter Diskurs erwünscht ist, sondern dass vonseiten politischer Agitatoren — „Rechte“, Verschwörer oder Ähnliches — die öffentliche Ordnung bedroht wird. Zudem dürfen die von dieser Seite kritisierten Inhalte nicht schon frühzeitig fundiert attackiert werden. Gleichzeitig findet dabei eine Bewertung und Aburteilung statt, der gar nicht zu entkommen ist: Der Abweichler des offiziellen „Richtig“ hat keine Chance auf Neutralität und Augenhöhe, seine Rolle ist vorgefertigt. Jede seiner Erklärungen beruht von vornherein auf „falschen“ Prämissen. Deshalb gab es beispielsweise in Fragen der Pandemie nie einen fairen Diskurs zwischen Fachleuten aus kontroversen Lagern.

Im zweiten Fall, wenn also der Manipulator von der Richtigkeit seiner Position und deren Grundlagen überzeugt ist, ist es ungleich schwieriger. Zum einen ist seine im Kern redliche Motivation nicht sofort durchschaubar. Zum anderen fürchtet diese Position nie, überführt zu werden. Sie besitzt eine gewisse Rechtschaffenheit, die aber durch ihren Absolutheitsanspruch getrübt wird. Das von ihr repräsentierte Glaubenssystem ist in sich geschlossen, es sind darin keine grundlegenden Fragen offen. Die Inhaber einer solchen Position beanspruchen die Deutungshoheit der relevanten Themen für sich und sind überzeugt, dafür sowohl die geeigneten Mittel als auch die nötige Legitimation zu besitzen. Der derzeitige Gesundheitsminister Karl Lauterbach scheint mir ein Beispiel dafür zu sein. Das hätte er dann mit Sektenführern gemeinsam: Sie alle glauben tatsächlich selbst vollständig das, was sie predigen!

Aber bitte einfach!

Eine dauergestresste Gesellschaft ist anfällig für Manipulation.

Ist zudem Angst im Spiel, ist die Fähigkeit zur Sachlichkeit stark herabgesetzt. Die Hoffnung liegt auf der baldigen „Erlösung“, auf der Befreiung von der übermächtigen Bedrohung. Dazu muss die Komplexität der Probleme reduziert werden, und Schuldige müssen gefunden werden.

Man ist bereit, „Opfer“ zu bringen, und ehe man es sich versieht, hat eine „neue Normalität“ Einzug gehalten.

Wir hören und lesen oft über die neuen Narrative, die Erzählungen, die zur allgemeinen Wahrheit werden. Genau genommen handelt es sich aber um Heuristiken, nämlich um „ Methoden, mit begrenztem Wissen — unvollständigen Informationen — und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen“ (Wikipedia).

Eine Heuristik wird sozusagen ad hoc aus dem Ärmel gezaubert und etabliert sich dank ihrer scheinbaren Stimmigkeit schnell als „Wahrheit“. Diese Wahrheit wird mit Bildern gefüllt, die wir als Repräsentation der Wirklichkeit annehmen. Diese Bilder einer vereinfachten und „erklärten“ Vorstellung finden Eingang in unsere Umgangssprachlichkeit. Ganz plastisch begegnete mir das kürzlich in einer lokalen Buchhandlung:

Bild

Der Unterschied zum Narrativ besteht bei der Heuristik unter anderem darin, dass Letztere begrenzte Themen in griffiger und vereinfachter Form beschreibt, die daher leicht und gerne adaptiert werden. Damit halten diese sich dauerhaft und werden resistent gegen Hinterfragen. Die Behauptung der Ursache für die Anschläge von 9/11 dient als drastisches Beispiel: „Islamistische Terroristen haben aus religiösen Gründen dieses bestialische Massaker organisiert und durchgeführt.“ Gegen Fakten ist diese Heuristik, welche die Integrität des Westens und seiner Lebenspraktiken intakt lässt, immun. Sie bedient ein Bild des Bösen, welches weit außerhalb unseres eigenen Werteverständnisses liegt. Das lässt eine tiefere kritische Auseinandersetzung, die uns mental und emotional überfordern würde, schnell überflüssig werden.

Und genau da liegt der Hase meist im Pfeffer: Die große Vielzahl der heutigen Probleme befindet sich außerhalb unseres Einflussbereichs. Wir sehen uns als Einzelne ohnmächtig einer Übermacht an globalen Herausforderungen gegenüber, die, wenn hinterfragt, sich meist als noch schlimmer darstellen würden. „Das kann nicht wahr sein!“ ist das unbewusste Mantra zum Schutz unserer halbwegs heilen Welt. Es darf nicht schlimmer sein, denn das ertrage ich nicht!

Erschwerend kommt hinzu, was der Schweizer Sektenexperte Hugo Stamm „Gedankenstopp“ nennt: Erleben wir unser Weltbild als existenziell bedroht — beispielsweise in der Konfrontation mit bis dahin unbekannten Fakten —, unterbrechen wir die drohende Gedankenkaskade an der Stelle, bis zu der die uns bekannte Erklärung reicht. Der Gedankenstopp ist Teil unserer „geistigen Immunabwehr“, die für die Einhaltung dessen zuständig ist, was wir ertragen wollen, und dort eine Grenze zieht. „Das kann ich mir nicht vorstellen!“ bedeutet in Wahrheit immer „Das will ich mir nicht vorstellen!“. Wir glauben, was wir glauben, weil wir in einem komplexen vorbewussten Auswahlverfahren selektieren, was wir für erträglich und vertretbar halten.

Gefangen im Innen

Das macht uns anfällig für Manipulation. Wir wollen eine Welt, die unserer inneren Ordnung entspricht, eine Welt, die vernünftig und verstehbar ist. Wir wollen das Unsagbare, das Unfassbare, das Ungeheuerliche nicht in den Bereich des Möglichen lassen.

Das wirft ein heikles Problem auf, denn damit schafft die Mehrheit der Menschen genau dasjenige System, in welchem sie zwangsläufig manipuliert werden muss. Dieses System kann das Unfassbare, das Unvorstellbare deshalb in aller Offenheit vollziehen.

Gerade weil die Mehrheit sich nicht vorstellen kann, was tatsächlich geschieht, kann es geschehen.

Die Manipulatoren sind die ausführenden Organe einer Gesellschaft, die sich in ihrer begrenzten Vorstellungskraft verschanzt und dort ihr Heil sucht. Sie sind Teil der impliziten Ordnung, hervorgebracht von einer engen und naiven Bewusstseinsverfassung, deren oberste Werte Kohärenz und Kongruenz des jeweiligen Weltverständnisses sind. Ein solches System verkörpert immer Elemente des Wahns, verstanden als Fehldeutung der gegebenen Wirklichkeit — wie eben ein Kult oder eine Sekte. Der Wahn referiert nicht mehr auf die hoch dynamische und vieldeutige Welt, sondern auf deren einmal festgelegte Interpretation. „Heute wird nicht nur die Natur, sondern auch zunehmend die Kultur in eine objektivierende Perspektive gerückt, die dem oft naiven Realismus der Naturwissenschaften nacheifert, indem sie ihre (…) Konstruktionen mit einem angemessenen Verständnis der ‚ganzen Wirklichkeit‘ gleichsetzt“, schreibt der Soziologe Joachim Rossbroich (2).

Diese Interpretationen können nie „integrieren“. Sie stehen immer notwendig im Kampf gegen etwas: eben gegen das, was in ihrem System die Funktion des „Bösen“ einnimmt. Dieser Kampf nimmt irgendwann groteske Formen an, immer entsprechend der zugrunde liegenden Ideologie: So wird „für die Freiheit Deutschlands in der Ukraine gekämpft“, soll mit Waffen Frieden geschaffen werden, wird Umweltschutz zu „Klimaschutz um jeden Preis“, und Grippe heißt jetzt Corona — oder umgekehrt, wie hier in Spanien.

Und bitte: Dafür sein! Nur das ist solidarisch! Forced Compliance, forcierte Einwilligung durch sanften Druck, nennt sich das im Fachjargon: Die Freiwilligkeit wird nachdrücklich betont und als selbstverständlich vorausgesetzt. Persönliche Überzeugungen und Freiheiten sind nachgeordnet und geraten so aus dem Blick des Einzelnen. Man beginnt nach und nach und unbemerkt, die eigenen Werte durch das kollektive „Richtig“ zu ersetzen und damit zu verraten.

Der Psychologe Bruno Deckert beschreibt Immunisierungsstrategien, mit welchen sich eine ideologische Gruppierung — und genau davon müssen wir sprechen — gegen Kritik wehrt. Demnach „geht es nicht darum, logisch und vernünftig zu argumentieren, sondern darum, dass jeder Zweifel eine zentrale Regel (nämlich die der unhinterfragbaren Wahrheit des Konsens, Anmerkung des Autors) verletzt. Der Inhalt ist weniger wichtig . (…) Das ist auch das Beunruhigende: Sektenhafte Prozesse sind eben nicht etwas vollkommen anderes als Abläufe in sonstigen gesellschaftlichen Bereichen“ (1). Diesen Gedanken habe ich hier eingehender weitergeführt.

Die (Selbst-)Manipulation aushebeln

Wenn deutlich geworden ist, welchen Anteil die eigene Ignoranz, das eigene Sicherheitsbedürfnis und die Enge eigener Weltvorstellungen im Manipulationsgefüge haben, kann die Frage gestellt werden, wie diese ausgehebelt werden können. Wir sind immer Mitgestalter dieser Welt und tragen daher auch Mitverantwortung für deren Entwicklung. Die Frage ist nur, mit welchem Grad an Bewusstheit wir das tun.

Der Mensch ist bequem. Sobald er die Quelle seines Wassers einmal für gut befunden hat, hört er auf, sie zu überprüfen.

Jede mentale und psychische Alltagsordung bedarf der Gewohnheit. Doch genau darin liegt die Gefahr. Vergangene Entscheidungen zu hinterfragen bedroht diese Ordnung. „Was, wenn ich falsch gelegen habe?“ Dagegen wehrt sich die Psyche, denn es steht zu viel auf dem Spiel: Die meisten Entscheidungen sind irreversibel. „Ich verliere mehr, wenn ich mich der neuen Erkenntnis aussetze, als ich behalte, wenn ich an der alten festhalte“, lautet die unbewusste Formel. Reaktanz heißt dieser Mechanismus, der uns neue und „bedrohliche“ Informationen zunächst abwehren lässt.

Wir reagieren erst wirklich neu und kreativ auf das Leben, wenn wir mehr Fragen erlauben und aufhören, innerlich bereits Antworten und Urteile parat zu haben.

Wenn Scheitern und Irrtum nicht als zu vermeidende Übel stigmatisiert sind, können wir uns einem erweiterten Wachstumsfeld öffnen. Der Mut zur Selbsterneuerung wird zum Abenteuer, Leben ist kein Entwurf und kein Ideal mehr, dem die Wirklichkeit anzupassen ist, sondern eine Frage, die jeden Tag neu gestellt werden darf.


Quellen und Anmerkungen:

(1) aus: infoSekta, Tätigkeitsbericht 2008
(2) Joachim Rossbroich: „Woher kommt und wohin geht Europa?“, wbg Academic, 2020

Mehr zum Thema:

Bruno Deckert: „All along the Watchtower — eine psychoimmunologische Studie zu den Zeugen Jehovas“ (Dissertation), V&R Unipress 2007
Marcus Zeller: „Das versprochene Paradies“, ein Ratgeber für Sektenaussteiger, Verlag Tredition, 2016
Gustave Le Bon: „Psychologie der Massen“, erstmals erschienen 1895


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